Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
26. Juni 1998, Feuilleton, Seite 43
Der alte Ungeist lebt - zu diesem Eindruck jedenfalls mußte man kommen, wenn man im Feuilleton der F.A.Z. vom 26. Juni den Artikel "Genosse Alzheimer" las. Am Beispiel der Südthüringer Tageszeitung "Freies Wort" hat der Verfasser, Hans-Joachim Föller, versucht, quasi aus der Praxis heraus zu belegen, daß in den ehemaligen SED-Bezirkszeitungen noch immer die Kader von einst das Sagen haben, Menschen, die die DDR-Vergangenheit schönreden, die "abwiegeln und totschweigen", wo es eigentlich um ehrliche Aufarbeitung gehen sollte.
» Abwiegeln, verzerren, totschweigen: Das „Freie Wort“ in Suhl
Von Hans-Joachim Föller
Wie war es nur möglich? Die Post war abgeschickt worden, aber sie war nicht angekommen. Gerd Schwinger stand vor einem Rätsel. Oder tat er nur so? Dreimal hatte Peter Marx von Deutschland-Radio der Chefredaktion des „Freien Worts“ Pressemappen zur Ankündigung der Sendereihe „Genosse Journalist“ zugesandt. Doch keine einzige davon, so versicherte ihm Chefredakteur Schwinger, sei auf seinem Tisch gelandet.
Diese Geschichte einer unglaublichen Verkettung unglücklicher Umstände aus dem Jahr 1996 erzählte Marx kürzlich im Erfurter Landesamt für Verfassungsschutz am Rande eines Vortrags über die Rolle der Journalisten als staatstreue Diener der DDR. Seit zwei Jahren schon müht sich Marx über dieses Thema eine Debatte anzuregen. Doch sein Wunsch stieß bei vielen ostdeutschen Kollegen bisher auf taube Ohren.
In den ehemals sozialistischen Thüringer Tageszeitungen reagierten
die gelernten " Agitatoren und Propagandisten "(Lenin), die dort
überwiegend die Reaktionsstuben bevölkern, in altbewährter Manier:
abwiegeln, verzerren, totschweigen.
Fragen nach seiner Vergangenheit gegenüber gibt sich der Chefredakteur des „Freien Worts“ aufgeschlossen. Er sei inzwischen mit sich „ins Gericht gegangen“, erklärte Schwinger. Ob er dabei zu einem harten Urteil gekommen ist, sagte er nicht, und es scheint unwahrscheinlich. Verhandlungen, in denen der Angeklagte zugleich der Richter ist, enden in der Regel mit milden Strafen oder Freispruch. Dabei ist Schwingers Aktenlage aufschlußreich.
Noch im Sommer 1989 verteidigte der SED-Genosse eine Grundlage des DDR-Totalitarismus: den Kollektivismus. „Der Weg, der vor 40 Jahren in unserem Land eingeschlagen wurde, war auch ein Schritt vom Ich zum Wir.“ Im trauten Du wandte er sich an die Jugend: „Bei uns ist dein Leben voll von Chancen und Werten, die der Sozialismus dir bietet.“ Und den Staat, in dem Schwinger heute lebt, beschrieb er damals als System, in dem DDR-Bürger „nicht klarkommen“ würden. Sie würden dort „scheitern“, warnte Schwinger einige Wochen bevor dem SED-Staat die Jugend über Ungarn in den Westen davonlief.
» Der alte Geist
An diesem Geist hat sich bislang wenig geändert. Noch immer bestimmen die alten Kader die Tendenz in der Regionalzeitung „Freies Wort“. Zwar wurde in der Umbruchzeit die Chefredaktion abgesetzt, einige besonders exponierte und linientreue Genossen aus der ersten Reihe genommen oder ganz entfernt, doch die Nachrücker waren in den meisten Fällen durch dieselbe sozialistische Schulung im sogenannten Roten Kloster (Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität) in Leipzig gegangen. Einige freie Stellen wurden sogar mit DDR-Elite besetzt: Michael Best, früher ADN, Volkmar Russek, früher Neues Deutschland, Jürgen Schumacher, früher Pressereferent beim Rat des Bezirkes Suhl und damit enger Mitarbeiter des SED-Bezirkschefs Hans Albrecht, der im Juli 1994 vom Bundesgerichtshof als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats der DDR wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu fünf Jahren und einem Monat Haft verurteilt wurde.
Best fiel im Frühjahr 1997 dadurch auf, daß er in einem Bericht über eine Podiumsdiskussion mit nostalgisch gestimmten Lehrern über das Thema Vergangenheitsaufarbeitung unter anderem die ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld als intolerant - weil dem DDR-Unrecht gegenüber „kompromißlos“ - darstellt. Russek, der Leiter des Sport-Ressorts, bekannte gegenüber Kollegen, daß er weder über Stasi- noch über Doping-Fälle im DDR-Sport recherchieren wolle. Und Schuhmacher brachte „Freies Wort“ in die Schlagzeilen der Thüringer „Bild“-Ausgabe, die den damaligen und inzwischen entlassenen Landeskorrespondenten als besonders fleißigen Stasi-Spitzel mit dem Decknamen „Rudi Rund“ entlarvte.
In diesem Milieu gilt eine engagierte Darstellung staatskriminellen Unrechts der DDR und seiner Vollstrecker als Tabu. Im redaktionellen Alltag ist Genosse Alzheimer federführend. Dem Sozialismus dienen Ex-Genossen heute nicht durch offene Bekenntnisse zum SED-Staat, sondern versteckt durch Zensur. So besuchte der stellvertretende Chefredakteur Hans Hermann Langguth im September 1997 einen Vortrag des Schriftstellers Joachim Walther zum Thema „Sicherungsbereich Literatur“. In der Pionierarbeit hatte Walther die Überwachung und Lenkung der Schriftsteller der DDR durch die Stasi dargestellt. Kurzum: Er hatte erforscht, wie die Ministerium für Staatssicherheit (MfS) DDR-Literaturgeschichte schrieb. Langguth fand das nicht erwähnenswert, er berichtete darüber mit keiner einzigen Zeile.
Zwei Monate später wandte der Landtagskorrespondent Jens Wenzel das gleiche Verfahren an.
Bei einem Seminar über die ostdeutsche Presse in Neudietendorf bei Arnstadt hatte der Deutschland-Radio-Journalist Marx unter anderem erklärt, daß alle Geschäftsführer der mit dem WAZ-Konzern verbundenen Blätter „Thüringer Allgemeine“, „Thüringische Landeszeitung“ und „Ostthüringer Zeitung“ als Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter tätig gewesen seien. Diesmal war Konkurrenz beim Termin. Deshalb schrieb Wenzel einen Artikel, der allerdings war für die Leser irreführend und von Allgemeinplätzen durchsetzt. Die wichtigen Fakten gab er nicht an die Leser weiter.
Wer sich dem Willen zum Verschweigen der Exgenossen nicht fügt, sieht sich rasch zahlreichen Behinderungen ausgesetzt. Ein Redakteur, der den freien Tag der Suhler Lokalchefin Ingrid Ehrhardt dazu nutzte, ehemalige DDR-CDU-Mitglieder daran zu erinnern, daß sie „treue Gefolgsleute von Honecker waren, und zwar freiwillig“, wurde wütend beschimpft: „Ihr Wessis kommt hier her und macht alles platt wie eine Dampfwalze“. Sie als ehemalige SED-Genossen könnten es sich nicht erlauben, solche Menschen zu kritisieren, begründete Ehrhardt. Das gleiche Argument gebrauchte auch Chefredakteur Schwinger bei ähnlicher Gelegenheit. Diesmal ging es um einen CDU-Mann, den Suhler Landtagsabgeordneten Werner Ulbrich. Der Redakteur hatte Ulbrich, der 19 Jahre lang Abteilungsleiter im Rat des Bezirkes Suhl war, als „Mitglied der Ja-Sager-Riege um SED-Bezirkschef Hans Albrecht“ verspottet und damit den entschiedenen Unwillen des Chefredakteurs erregt. Bei ähnlichen Anlässen erteilte Schwinger ein Kommentierverbot, oder schrieb wie während der Abwesenheit eines Redakteurs geschehen, eine den alten Ungeist geißelnde Glosse um. Und der stellvertretende Chefredakteur Langguth gab dem widerspenstigen Redakteur den Hinweis, den PDS-Ehrenvorsitzenden Hans Modrow nicht allzu hart anzufassen: „Wir müssen daran denken, daß wir viele PDS-Wähler unter den Lesern haben.“
Bei der Verschleierung der Gegenwart des Vergangenen wird auf Anweisung von Schwinger auch folgende Methode praktiziert: Als Ende Februar dieses Jahres die Meldung durch Fernsehen und Radio lief, der ehemalige Präsident des „Wasunger Carneval Clubs“, Hartwig Köhler“ sei der Stasi-Spitzel mit dem Decknamen „Harty“ gewesen, entschied sich Chefredakteur Schwinger dafür, die Nachricht lediglich in Lokalteil zu melden. Dies geschah in Absprache mit der Leiterin der Lokalausgabe Schmalkalden-Meiningen, Waltraud Nagel, und zwar auf recht irreführende Weise: Die Nachricht, Köhler sei Inoffizieller Mitarbeiter des MfS gewesen, wurde Köhlers Behauptung, er sei es nicht gewesen gegenübergestellt. Die dpa-Meldung vom selben Tag, die besagte, daß der Nachricht von Köhlers Spitzel-Tätigkeit Aktenfunde und eine Verpflichtungserklärung zugrunde lägen, ließen Schwinger und Nagel unerwähnt. Stattdessen zitierte die Lokal-Chefin den Spitzel, der wie alle Spitzel tausend Eide schwört, er sei es nicht gewesen. Das Nachsehen hatten die Leser. Denn die konnten sich aus den sich widersprechenden Tatsachenbehauptungen kein zutreffenden Bild über die Wirklichkeit machen.
Das „Freie Wort“, das mit einer Auflage 102000 Stück erscheint und zu siebzig Prozent der Süddeutschen Zeitung und zu dreißig Prozent der SPD-Holding Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft (DDVG) gehört, ist kein Einzelfall. Den Untergang des Arbeiter- und Bauerstaates haben die SED-Bezirkszeitungen auf dem gesamten Gebiet der Ex-DDR zumeist bestens überstanden und kaum an Einfluß verloren. Auf dem weit überwiegenden Teil des ehemaligen Staatsgebietes hält die ehemals „schlagkräftige Waffe in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus“ (Erich Honecker) nach wie vor eine bequeme Monopolstellung. Für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur in den neuen Ländern birgt dies hohe Risiken.
» Am 7. Oktober 1997 knallten in der Suhler Lokalredaktion
» des „Freien Worts“ übrigens die Sektkorken.
» Anlaß war der „Tag der Republik“.
Der Autor war von Dezember 1993 bis Juni 1997
Redakteur der politischen Nachrichten und der
Lokalredaktion des „Freien Worts“.
Vorausschauend weise ich darauf hin, dass es über den Journalismus 2015 und die angebliche " Lügenpresse " bereits einen Thread gibt.