Nun haben zwei der Agenten-Kinder gemeinsam eine schonungslose Abrechnung mit ihren Vätern geschrieben: Edina Stiller, die Tochter des "berühmtesten" Überläufers aus der Wolf-Truppe, Werner Stiller, und Nicole Glocke, Tochter des Stasi-Offiziers Karl-Heinz Glocke.
Der Verräter Stiller kommt dabei besser weg als der Spion Glocke, den der Stasi-Oberleutnant nach seiner Flucht in den Westen 1979 ans Messer lieferte. Stiller hatte Glocke, der als Angestellter der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke in Bochum beschäftigt war, von Ost-Berlin aus geführt. Glocke, so schildert ihn seine Tochter, ist bis heute ein verbitterter, aber ideologisch unerschütterter Tschekist: Stiller ist für ihn noch immer der "Verräter schlechthin".
Die Zeit der Abrechnung mit ihm werde kommen, das Todesurteil, erklärt er seiner Tochter, gelte noch heute. Und untergegangen sei die DDR deswegen, weil ihre führenden Kader 1989 nicht die Kraft aufbrachten, die Oppositionellen niederzuschießen. Nicole Glockes vernichtendes Urteil: "Die vielen Jahre der Doppelexistenz müssen bei meinem Vater das Unterscheidungsvermögen zwischen Wahrheit und Lüge zerstört haben."
Mehr Sympathie immerhin genießt bei beiden Autorinnen Werner Stiller. Beide bescheinigen ihm, er sei bindungsunfähig, ein Hasardeur, geldgierig und sexbesessen. Aber Nicole Glocke ist von ihm fasziniert, und Edina urteilt milde: "Ja, er war ein klassischer Verräter, und ich glaube, dass mein Vater das Leid, das er dadurch für viele heraufbeschworen hat, bis heute wirklich nicht begriffen hat."
Dabei traf es Edina Stiller schlimmer als Nicole Glocke, deren Vater zwei Jahre wegen Landesverrats absaß.
Die Stasi trat zwar nach der Flucht ihres Vaters in ihrem Leben kaum sichtbar in Erscheinung, Stillers Verrat war in der Familie tabu - aber im Hintergrund war Markus Wolf immer dabei, wie sich nach der Wende herausstellte: Das MfS steuerte sogar das Liebesleben der jungen Frau, immer in der Hoffnung, dem Aufenthaltsort des Verräters auf die Spur zu kommen. Denn auf Erich Mielkes Todesliste stand Stiller ganz oben.Der Verrat der Väter zerstörte nicht nur die Kindheit der Töchter, er wirkt in der Psyche der beiden jungen Autorinnen - Edina ist 1971 geboren, Nicole 1969 - ganz offensichtlich bis heute nach.
Die beiden Frauen erzählen ihre Lebensgeschichte geradlinig, offen und ohne Pathos. Gerade dadurch wirkt das Buch überzeugend. "Sie haben uns verlassen und getäuscht", so Nicole Glockes Fazit über die Väter, "unsere sorglose Kindheit zerstört. Das hat unser Leben bestimmt, das ist unser Erbe."
"Verratene Kinder" ist eine überfällige Nachlese zur Stasi-Aufarbeitung - dem obersten Agentenführer Markus Wolf, der sich seit 1989 als Friedenskämpfer stilisiert und als Kochbuchautor verharmlost, dringend zur Lektüre empfohlen.