Zeitzeugen berichten 2

Wie waren die politischen Systeme der beiden deutschen Staaten zur Zeit des Kalten Krieges? Wo waren die Unterschiede? Gab es Gemeinsamkeiten?
Wie wurde die Politik auf beiden Seiten vermittelt?

Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Volker Zottmann » 13. März 2019, 22:57

Hier ist ein Filmdokument, dass belegt, wie sich Walter Ulbricht im Westen Bananen besorgte. [flash]

https://www.youtube.com/watch?v=XtLJKzkQqOI

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Grenzwolf62 » 13. März 2019, 23:04

Vertippt
Alles wird, vielleicht, gut.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 17. März 2019, 14:29

Der Tag des Aufstands - Die plötzliche Wende im Leben des Brigadiers


Zimmermann Heinz Homuth gehört zu den Streikführern - und flieht nach Repressalien bald darauf in den Westen.

Der Tag, der sein Leben aus den Fugen brachte, begann für Heinz Homuth wie jeder andere. Er war früh aufgestanden, hatte sich Karohemd und Zimmerer-Wams übergestreift, den Bauarbeiterhut auf den schmalen Schädel gestülpt, eine Kippe in den Mundwinkel gesteckt und war aus dem Küchenfenster geklettert. Da stand er nun, wie jeden Tag, auf einem Baugerüst im Hinterhof des Blocks E-Süd und wartete, bis seine Arbeitskollegen aus dem Umland in der Frankfurter Allee eintröpfelten, die jetzt Stalinallee hieß.

Anfang des Jahres war Homuth mit seiner Frau in den künftigen Vorzeigebau der Deutschen Demokratischen Republik eingezogen. Ein Traum vom Wohnen: Fahrstuhl, Bad, Zentralheizung, mehrere geräumige Zimmer, ein Beton gewordenes Aufbruchsignal inmitten einer kriegsvernarbten Stadtlandschaft, in der sich noch immer Trümmer türmten. Homuth war kein Parteigänger der SED, aber ein Bauarbeiter, ein verdammt guter, deswegen durfte er trotzdem einziehen in die Allee, auch wenn Block E-Süd noch nicht vollendet war, die Fassade schon, wie so oft in der DDR, aber nicht die Rückseite. Sie fertig zu stellen war der Auftrag von Zimmerer-Brigadier Heinz Homuth und seiner Kolonne. An diesem Morgen jedoch rührte keiner seiner Kollegen Säge oder Spatel an. Die Männer hatten anderes zu tun. Besseres. Es war der 16. Juni 1953.

Es hatte seit Wochen bereits unter den Bauarbeitern gegrummelt. 1,75 Mark Stundenlohn bei 48 Wochenstunden: Wer da auf einen grünen Zweig kommen wollte, der musste, so oft es ging, die Norm überschreiten und einen Quadratmeter Wand eben in einer halben statt in einer Stunde einschalen. Das gab Zusatzmünzen. Damit war auszukommen. Als nun aber die Parteiführung eine Normerhöhung verkündete, hieß das: rund 40 Mark weniger im Monat. "40 Mark", ruft Homuth und saugt an einer Selbstgedrehten, "das war damals der Mietdurchschnitt, dagegen hatten wir was." Wie viel die Bauarbeiter dagegen hatten, sollte sich schneller zeigen, als es den Technokraten an der Staatsspitze lieb sein konnte.

Am 15. nachmittags wandte sich ein Putzer aus Block E-Süd an Brigadier Homuth: "Heinz, wir wollen morgen protestieren, macht ihr mit?" Es gibt ein Bild von Heinz Homuth aus dieser Zeit - die Augen: zwei verwegene Balken im Halbschatten, die geballten Fäuste am Revers, die Fluppe wie bei Lucky Luke zwischen die Lippen geklemmt. Es ist ein Bild wie aus einem Halbstarken-Film, bevor die Clique loszieht, den Gegner zu vermöbeln. Entschlossener kann man nicht wirken. Verwegener auch nicht. Natürlich machte Homuth mit. Tonangeber, der er war, marschierte er noch am selben Tag zu den anderen Brigaden auf der Allee, zu den Maurern, Steinmetzen, Malern und schwor sie auf den Protesttag ein. Morgen Früh, bei Dienstbeginn, Block 40. 50 Jahre ist das her.

"Nein", sagt Heinz Homuth, "ick seh' nich, dass ich damals 'n Fehler jemacht hab." Er ist 75 heute, ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der seinen Lebensabend zwischen furnierter Eiche und gusseisernen Schiffsreliefs in Neukölln verbringt, auf der anderen, der westlichen Seite Berlins. Er kann kaum noch laufen, der Krebs hat seinen Oberschenkel-Knochen zerfressen, seine Frau hat ihn nach 40 Jahren verlassen, die vier Kinder sind längst aus dem Haus. Aber Heinz Homuth wirkt nach wie vor wie ein Mensch, der Zweifel mit einer kurzen Wischbewegung seiner knorrigen Hände zur Seite schiebt. Seine Nase hat sich mit dem Alter, wie es scheint, noch ein wenig weiter hervorgewagt. Er raucht noch immer wie ein Schlot. Widerspruch, Zwischenfragen empfindet er auch heute noch als eher lästig.

Nein, sagt also der Rentner Homuth, er würde, käme es drauf an, noch einmal alles so machen wie damals. Auch wenn es wieder hieße, seine Freunde zu verlieren und seine Heimat und seine Traumwohnung und noch einmal von ganz unten anzufangen, nur weil man einmal - am falschen Ort, zur falschen Zeit - seinen Mund aufgemacht hat, um nach Gerechtigkeit zu rufen und nach Fairness. "Wenn man den Leuten heute das zumuten würde, was sie uns damals zugemutet haben", sagt der alte Mann, "dann würden se ooch alle streiken."

Es waren einige Dutzend Bauarbeiter, die sich am frühen Morgen des 16. Juni 1953 an Block 40 der Stalinallee einfanden. Was genau dort passieren würde, wusste keiner so recht. Man wartete. Darauf, dass ein Vertreter vom "Freien Deutschen Gemüsebund", so Homuth, vorbeikäme und eine Ansprache hielte. Das konnten sie ja gut, diese feinen Gewerkschafter. Allein: So lange die Männer auch warteten, es kam keiner, um zu reden. Stattdessen stießen irgendwann, atemlos, zwei Kollegen von der Baustelle am Krankenhaus Friedrichshain zur Gruppe und berichteten gehetzt, die Klinik sei von Polizisten umstellt, keiner werde durchgelassen, um auf der Allee zu demonstrieren. Darauf nun hatten die Bauarbeiter gewartet, da hörte sich alles auf, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Einer rief: "Wir holen unsere Jungs raus." Und alle setzten sich in Bewegung. "So", sagt Homuth, "begann der Marsch der Bauarbeiter von der Stalinallee."

Auf dem Weg Richtung Osten passierte dann das, was Heinz Homuth noch heute ein Lächeln auf die harten Züge zaubert: Wo immer die Handwerker vorbeikamen, schlossen sich ihnen Menschen an, folgten dem Ruf "Berliner reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein". Aus dem Häuflein Demonstranten wurde ein Haufen, später eine Masse, und als das Krankenhaus Friedrichshain erreicht war, sahen sich die Volkspolizisten mehreren tausend entschlossenen Mitbürgern gegenüber. Also wich die Staatsmacht zur Seite. Zum ersten Mal in diesen denkwürdigen Tagen im Juni.

Weiter geht es hier:
https://www.fr.de/politik/ploetzliche-w ... 29928.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 20. März 2019, 14:42

Zeitzeuge Holger Rossmann über sein Leiden in Bitterfeld

RÜCKBLENDE. Die DDR Anfang der 70er-Jahre. Holger Rossmann (23) aus Hagenow verliebt sich in Christa, die Brieffreundin seiner Schwester. Ein schweres Verbrechen im Arbeiter- und Bauernstaat – denn die junge Frau kommt aus dem Westen!

„Ich wurde bespitzelt, dann nahm man mir den Pass ab, schmiss mich von der Hochschule und ließ meine Freundin nicht mehr in Ost-Berlin einreisen“, sagt er. „Wir trafen uns trotzdem weiterhin alle paar Wochen – heimlich in Tschechien.“ Bis man ihm eines morgens um sechs die Wohnungstür eintritt, ihn mitnimmt und einsperrt.

Rossmann wird zu Zwangsarbeit in der Bitterfelder Kunststoff-Produktion verurteilt – wegen angeblicher Propaganda für den Staatsfeind.


Nach dem Prozess in Hainichen kommt er 1975 in das Lager am Rande vom Bitterfeld, direkt neben dem Tagebau. Wie die meisten anderen DDR-Bürger hat er noch nie etwas von Zwangsarbeit gehört.

„Etwa 80 Leute schliefen in einem Saal in einer großen Baracke. Morgens holte uns der Bus ab, die Wärter trugen Maschinenpistolen, wir hatten schwarze Sträflingskleidung an. Dann brachte man uns ins Werk, die Fenster der Halle waren vergittert oder zugemauert. Wer sich weigerte, wurde geschlagen“, erinnert sich Rossmann. Nicht mal sein Vater – selbst ein ehemaliger Richter – darf ihn dort besuchen.

Die Haft in Bitterfeld hatte Methode, weiß der Hallesche Historiker Julius Vesting (33), der dieses düstere Kapitel mit Hilfe von Opfern wie Rossmann in seinem neuen Buch „Zwangsarbeit im Chemiedreieck“ (Chr. Links Verlag, 24,90 Euro) erstmals ausführlich beleuchtet.

In den 70er und 80er Jahren mussten Vestings Recherchen zufolge mindestens 1200 politische Gefangene und inhaftierte Kriminelle in Bitterfeld schuften.

„Wegen der berüchtigten Zustände in der Chemieindustrie fand man kaum Arbeitskräfte, setzte deshalb schon in den 60er Jahren Zwangsarbeiter ein“, so der Autor. „Aus den veralteten Anlagen traten Quecksilber, Chlor und ätzende Laugen aus. Havarien und Explosionen gehörten zum Ablauf, es gab mindestens zwei Todesfälle.“

Auch Holger Rossmann erleidet Verbrühungen und Verätzungen; noch heute weist sein Blut erhöhte Quecksilberwerte auf.


1976, nach einem Jahr, wird er entlassen, darf kurz darauf die DDR verlassen – und heiratet seine Christa. Sie bekommen fünf Kinder, leben bei Frankfurt/Main. Rossmann ist zunächst Hausmann, arbeitet später als Techniker.

Er ist heute ein Mann, der zufrieden wirkt. Über die Albträume, die ihn immer wieder heimsuchen, spricht er nicht viel, sagt nur: „So eine furchtbare Zeit prägt einen. Für immer.“

Die Hölle Bitterfeld – wie könnte er sie je verdrängen oder gar vergessen?


https://www.bild.de/regional/leipzig/dd ... .bild.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 24. März 2019, 10:41

Wenn Geschichte lebendig wird

Schüler des Abiturjahrgangs luden jetzt ins List-Gymnasium zum Zeitzeugeninterview. Zusammen mit ihrer Lehrerin sprachen sie mit zwei ehemaligen DDR-Bürgern über das Leben im totalitären Staat.

Woher kennen wir denn die Geschichten von früher?", fragte Geschichts- und Deutschlehrerin Janina Edel das Publikum. "Nur aus Büchern", antwortete ein Schüler. Das sollte sich an diesem Abend ändern. Gekommen waren Anne Claußnitzer und Klaus Hönemann, ehemalige Bürger der DDR.

Vier Schülerinnen des Abiturjahrgangs befragten die beiden zu ihrem Leben im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat. Anne Claußnitzer, die 1983 mit 24 Jahren durch eine legale Ausreise nach Westdeutschland kam, erinnert sich sehr gut an ihre Kindheit und Jugend: Wenn Besuch aus dem Westen kam, und dieser die Reise nach Dresden heldenhaft auf sich nahm, wenn man nie wusste, wer einem gegenüber saß. War es einer, der sich ehrlich interessierte oder einer, der von der Stasi zum Aushorchen gekommen war?

"Doch man entwickelt einen siebten Sinn für solche Menschen oder Situationen, in denen man beobachtet wird", sagte die 52-Jährige. Später hat sie ihre Stasi-Akte eingesehen. "Das war ein großer Schock für mich", sagt Claußnitzer. Seit der achten Klasse stand sie unter Beobachtung. Für Claußnitzer war es eine schmerzhafte Erfahrung zu sehen, wer sie ausspionierte.

Klaus Hönemann lebte bis zu seinem 46. Lebensjahr in der Deutschen Demokratischen Republik. Vom Kindergarten bis ins Berufsleben prägte ihn der Sozialismus. Wenig Positives fällt ihm ein, wenn er zurückdenkt. "Alles Positive wie die Vollbeschäftigung war ja künstlich gemacht, ebenso die Ganztagesbetreuung für Kinder", so der 68-Jährige. Doch die Schulbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern war sehr gut, erinnert er sich.

Sehr ungern denkt Hönemann an das Doppelleben, das er und seine Familie jahrelang führen mussten. "Ich trat in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein, nur um das Abitur machen zu dürfen. Da schrieb ich Aufsätze, die die Regierungsform der DDR in den höchsten Tönen lobten", erzählt Hönemann. Doch in ihm sträubte sich alles gegen das Regime.

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Sommer 1989 gelang Hönemann und seiner Familie das Vorhaben schließlich im September. Es konnte ja keiner wissen, dass zwei Monate später die Mauer fallen sollte. Mit der Bahn und zu Fuß ging es teilweise an den Schienen entlang über Budapest in den Westen, wo die Familie freundlich aufgenommen wurde. Trotzdem waren diese Tage der Flucht "die schlimmsten meines Lebens", gesteht Hönemann. Heute lebt der gebürtige Leipziger in Ludwigsburg.

Die Ankunft in der Bundesrepublik erlebten beide Zeitzeugen mit gemischten Gefühlen. Alles war neu und aufregend und doch - in mancherlei Hinsicht fühlten sich die ehemaligen DDR-Bürger überfordert. Claußnitzer wollte im Supermarkt eine Tube Zahnpasta kaufen. Sie sah im Regal 20 verschiedene Sorten und wusste mit diesem Überfluss nicht recht umzugehen. "Ich bin ohne etwas zu kaufen aus dem Laden gegangen", sagte Claußnitzer, die diese Geschichte schon oft ihren Kindern erzählte. Heute lebt die Buchhändlerin in Reutlingen.

Das Interesse der 70 Schüler ist groß. Da sind ganz praktischen Fragen an eine Zeit, als die Abiturienten noch nicht geboren waren. Eine fragt, wie Hönemann und seine Familie das ganze Gepäck transportierten. "Wir gingen nur mit dem, was wir am Körper trugen, und einer Tasche, in der wir Getränke und Schokolade hatten. Alles andere wäre zu auffällig gewesen", so Hönemann. Zeugnisse und Dokumente der Familie versteckte Hönemanns Bruder im Hühnerstall.

Wie die Gefühle gegenüber Staatstreuen seien, die es im Westen nach dem Fall der Mauer zu viel gebracht haben? Sichtlich bewegt antwortet Claußnitzer: "Das ist ein ganz schwieriges Thema." Einmal habe einer jener Linientreuen zu ihr gesagt, sie hätte sich ja ebenfalls dem Staat treu ergeben können, dann hätte auch sie keine Probleme gehabt - "da wird man ganz schön wütend," sagte Claußnitzer.

Und: Was halten die beiden von der "Ostalgie"? "Gar nichts!", sagt Hönemann bestimmt. Claußnitzer aber kann verstehen, warum viele Bürger der ehemaligen DDR dieser nachtrauern: "Sie lebten angepasst, wurden optimal vom Staat versorgt und genossen das behütete Leben." Sie selbst ist froh, dass dieses System der Vergangenheit angehört.

https://www.swp.de/suedwesten/staedte/r ... 99403.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Nov65 » 24. März 2019, 11:03

Insbesondere die letzten Aussagen über das angepasste und behütete Leben der meisten DDR-Bürger teile ich auch. Wer aber seinen eigenen Kopf und damit seinen eigenen Standpunkt bewahrte, muckte gegenüber den Überzeugten und Vorgesetzten auf, war damit unzufrieden mit seinem Leben in diesem System. Aber den Mut zum offenen Bruch hatten die wenigsten. Andreas
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 5. April 2019, 14:35

Dieter Buschendorf - 30 Jahre auf der Transitstrecke

Essen — Helmstedt — Berlin und zurück: Bis zum Mauerfall 1989 hat Dieter Buschendorf (heute 70) unzählige Male seinen Lastwagen durch die damalige DDR gesteuert.



Neviges. Es war kein Job wie jeder andere: Der Kalte Krieg hatte seine heiße Phase gerade hinter sich, als Dieter Buschendorf vor mehr als 40 Jahren erstmals einen Lastwagen über die Transitautobahn nach Berlin steuerte. Bald drei Jahrzehnte bestimmte die Tour von Essen über Helmstedt in die heutige Hauptstadt den beruflichen Alltag des Nevigesers, der, wenn es ihn hinaustreibt, noch heute mit 70 Jahren in einen Lkw seines ehemaligen Arbeitgebers steigt, um eine Fuhre zu übernehmen.

In Schönebeck bei Magdeburg geboren, war Buschendorf mit seiner Familie Ende der 1940er- Jahre vor der Verhaftung gen Westen geflüchtet. Aufgewachsen in Werden, lernte der junge Dieter zunächst Metzger, um nach einigen Jahren im Beruf als Lkw-Fahrer anzuheuern. Doch statt Lastzüge durch Europa zu steuern, kippte er Kalksteinsplit für die im Bau befindliche A 46: „Das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte“, erinnert sich Buschendorf.

Da erhielt er 1970 das Jobangebot einer Essener Schnapsbrennerei mit Niederlassung in Berlin und pendelte fortan mehrmals pro Woche mit einem 40-Tonner zwischen beiden Standorten.

Ein Abenteuer waren nicht allein die wenigen, streng vorgeschriebenen Transitstrecken — überwiegend in katastrophalem Zustand, mit kopfsteingepflasterten Ausfahrten und entgegenkommenden unbeleuchteten Militärfahrzeugen.

Viermächte- und Transitabkommen gab es anfangs noch nicht — Durchsuchungen, Festnahmen oder Zurückweisungen waren auf dem Weg durch das andere Deutschland eher die Regel denn die Ausnahme. Für kleinste Verstöße, ob real oder vorgeschobene, wurde gern und in D-Mark kassiert, für den Transit ohnehin Maut berechnet. Außerdem benötigte Buschendorf für jede einzelne Fahrt ein Tagesvisum für fünf Mark, wie ein ganzer Stapel vollgestempelter Pässe bezeugt.

Der Kontakt mit DDR-Bürgern war strengstens verboten, und wer zu lange für den Transit brauchte, wurde verhört: Kontrolle war alles bei der Fahrt durch den Arbeiter- und Bauernstaat. „Der schlimmste Satz der Grenzer aber lautete: ‚Sie sind hier unerwünscht‘ — ohne jede Erklärung oder Begründung“, erzählt Buschendorf. Genügend Kollegen wurde so der Transitverkehr untersagt — was de facto einer fristlosen Kündigung gleichkam. „Mit der Zeit kannte man jedoch Grenzer, Zöllner, Volkspolizisten, wusste, wer in Ordnung war und bei wem man aufpassen musste“, erinnert sich der Nevigeser.

Wie eine Familie waren die Fahrer, die einander bald täglich begegneten. Mancher Kontakt blieb bestehen, auch als 1989 die Mauer fiel und innerdeutsche Fahrten Normalität wurden. 2007 gelang es Buschendorf, 52 der auf seiner Strecke Helmstedt-Berlin verkehrenden Transitfahrer ausfindig zu machen und zu einem Treffen zu versammeln. Noch immer stoßen Trucker hinzu, und beim dritten Treffen im September dieses Jahres waren es schon 80 Teilnehmer — darunter auch Inge Stecko vom Berliner Rasthof „Dreilinden“, die per CB-Funk (vor dem Handy die einzige Möglichkeit der Kommunikation während der Fahrt und in der DDR streng verboten) Kontakt mit den Fahrern hielt und dringende Nachricht an Chef oder Familie weiterleitete.

Inzwischen hat Buschendorf eine ganze Reihe von Briefen an Ministerien, Berliner Senat und sogar Bürgermeister Klaus Wowereit geschrieben. Denn er hofft, dass ein Vertreter dieser Institutionen die Trucker beim nächsten Treffen im Jahr 2013 besucht — als kleine Anerkennung für einen Job, der nicht so war wie andere.

https://www.wz.de/nrw/kreis-mettmann/ve ... d-30524333
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon augenzeuge » 5. April 2019, 18:03

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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 21. April 2019, 09:17

Ein sehr interessanter und lesenswerter Beitrag. Danke für das Einstellen.

[hallo]
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 21. April 2019, 09:24

Nachstehend das Profil eines im vorigen Jahr verstorbenen Zeitzeugen. R.I.P.

Dieter Drewitz

Dieter Drewitz wurde 1943 in Schulzendorf am Rande Berlins geboren. Schon als Kind entwickelte er ein ausgeprägtes politisches Interesse. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953, an dem sein erheblich älterer Bruder als Demonstrant teilnahm, legte bei dem knapp Zehnjährigen den Grundstein für seine Gegnerschaft zum SED-Staat.

Am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, wurde Dieter Drewitz im Alter von 18 Jahren während eines Ferienaufenthaltes an der Ostsee verhaftet. Man bezichtigte ihn der Spionage, weil er ein Gebäude fotografiert hatte, das er – ohne es zu wissen – nicht hätte fotografieren dürfen. Weil er sich weigerte, ein vom DDR-Staatssicherheitsdienst verfasstes "Geständnis" zu unterschreiben, wurde er durch Schläge ins Gesicht, Essensentzug und Schlafentzug misshandelt. Durch glückliche Umstände kam er nach zwei Wochen wieder frei, musste aber eine Schweigeerklärung unterschreiben. Dieter Drewitz legte sein Abitur ab, machte eine Lehre als Dekorateur und begann anschließend ein Studium der Ausstellungsgestaltung und Grafik.

Am 15. September 1966 wurde er erneut verhaftet und in das berüchtigte "Lindenhotel" – wie die Untersuchungshaftanstalt der Potsdamer Bezirksverwaltung für Staatssicherheit im Volksmund genannt wurde – gebracht. Grund dafür waren zwei Briefe, die er im Rahmen einer Hörerdiskussion zum Thema "Möglichkeiten einer deutschen Wiedervereinigung" an den Rundfunksender RIAS in West-Berlin geschrieben hatte. Während der erste Brief im Radio verlesen wurde, fing der Staatssicherheitsdienst den zweiten vorher ab. Obwohl er an eine Deckadresse adressiert war, einen falschen Absender trug und ein Kennwort verwendete, fand man nach neunmonatigen Ermittlungen den Verfasser heraus. Da Drewitz' Post seit seinem 17. Lebensjahr überwacht wurde, war er in der umfangreichen Handschriftenkartei der Stasii erfasst.

Dieter Drewitz wurde im Januar 1967 vom Bezirksgericht Potsdam wegen "fortgesetzter Verbindungsaufnahme zu einer verbrecherischen Organisation" und "staatsgefährdender Hetze und Propaganda" zu 18 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Die Strafe verbüßte er in der Strafvollzugsanstalt Cottbus und im Haftarbeitslager "Schwarze Pumpe" in Spremberg.

Obwohl Drewitz danach sein Studium durch Fürsprache einflussreicher Personen beenden durfte, sorgte der Staatssicherheitdienst dafür, dass er anschließend nur in untergeordneten Positionen arbeiten durfte. 1986 schrieb er deshalb einen Ausreiseantrag. Nach zwei Jahren massiver Schikanen durfte er nach West-Berlin ausreisen. Dort arbeitete er bis zu seiner Verrentung als Marketingleiter eines renommierten Industrieunternehmens. Dieter Drewitz ist Referent in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und führt Besuchergruppen durch die ehemalige zentrale Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit.

https://www.gvoon.de/ddr/stasi/haft/bio ... ewitz.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 24. April 2019, 13:47

Schockierende Berichte von Zeitzeugen in Cottbus

Den Schülern der 13. Klasse am Cottbuser Ludwig-Leichhardt-Gymnasium verschlug es die Sprache. Eigentlich sollten sie mit den ehemaligen politischen Häftlingen, die von der Enquete-Kommission für die "Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur" am Tag der Menschenrechte mit ins einstige DDR-Gefängnis Bautzener Straße eingeladen worden waren, ins Gespräch kommen. Doch die Schüler zeigten sich viel zu beeindruckt.

Gerd Korsowski aus Lübbenau, Manfred Krafft aus Peitz, der Cottbuser Joachim von der Heyde und Manfred Lehmann aus Berlin zeichneten ein bedrückendes Bild des menschenverachtenden Strafvollzugs in der DDR. Weil sie Ausreise-Anträge gestellt, Fluchthilfe geleistet oder sich kritisch über die DDR geäußert hatten, wurden sie wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung, Staatsverleumdung, Hetze und Propaganda zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In der Stasi-Untersuchungshaft und später im Zuchthaus Bautzener Straße reichte das Spektrum der Repressalien von Einschüchterung und Bedrohung über Schlafentzug bis hin zu Schlägen. Noch heute quälten sie Depressionen, Ängste und Panik-Reaktionen. Hinzu komme die Erniedrigung, beim Beantragen der Haftfolgen-Entschädigung von ehemaligen SED-Leuten abhängig zu sein, sagte Lehmann.

Um das Bild abzurunden, hatten zwei andere Ex-Häftlinge Kommission und Schülern das Gefängnis-Areal gezeigt - Schriftsteller Siegmar Faust und Dieter Dombrowski, Chef des Menschenrechtszentrums im ehemaligen Zuchthaus und Kommissionsmitglied.

Nachdenklich verließen die Schüler am Ende das Gefängnisgelände. "Von unseren Eltern hören wir nur Positives von der DDR", so Laurenz Nagler (18). "Das habe ich so noch nie gehört", sagte Julia Schwartz (19).

https://www.lr-online.de/nachrichten/br ... id-2722868
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Nov65 » 24. April 2019, 17:58

Dann scheinen die Eltern der Schüler wohl Funktionäre in der DDR gewesen zu sein.Ach, wie war das schön! Aber es war nicht alles schlecht.Usw.
Andreas
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 5. Mai 2019, 09:34

Suche nach Freiheit
Ein Ostpreuße erlebt die Schrecken der jungen DDR

Nach Flucht und Vertreibung wollte es das Schicksal, daß meine Mutter, zwei Schwestern und ich nach unseligen Strapazen in Chrimmitschau/Sachsen landeten. Meine größeren Brüder hatte der Krieg gefordert.

Bauern aus der Umgebung erwarteten die Vertriebenen mit ihren Gespannen. Wir wurden dem Bauern, Herrn Ahnert, zugewiesen. Freundlich sagte er zu uns: „Ihr werdet bei mir wohnen“, und half uns auf den Anhänger. Auf seinem Hof angekommen, wies er uns ein Zimmer mit zwei Betten, einem Tisch und zwei Stühlen zu, das für uns vier Personen viel zu klein war. Eine Kochstelle gab es nicht. Gekocht wurde im Flur. Aber wir sagten nichts, denn wir waren viel zu froh, endlich eine Bleibe zu haben. Schon bald bekamen wir eine andere Wohnung; ein Zimmer und ein zweites im Nebengebäude, so daß wir wenigstens in eigenen Betten schlafen konnten.

In Blankenhain/Sachsen beendete ich meine Schulzeit. An einen Beruf war überhaupt nicht zu denken, denn es gab keinen, den man erlernen konnte. Meine Mutter überredete mich, in die Landwirtschaft zu gehen. Endlich wurde ich satt! Ab und an konnte ich meiner Mutter etwas zustecken, so daß wir bescheiden überleben konnten.

Die Jahre vergingen. Meine Mutter und Schwestern machten sich Sorgen über meine Zukunft. Was soll aus Horst werden?

Mit 17 Jahren trat ich in die Organisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) ein. Für mich war es etwas Großes, Einmaliges! Neben dem Gefühl der Freiheit, dem Gefühl dazu zu gehören, waren die Treffen geprägt von einer tiefen Verbundenheit. Ich war nicht mehr allein! Im Laufe der Zeit kamen zu unseren Treffen aber auch Fremde aus der Stadt hinzu. Sie stimmten uns eindringlich auf die deutsch-russische Freundschaft ein.

Bei einer dieser Zusammenkünfte wurden wir gefragt, ob wir Interesse am Polizeiberuf hätten. Voraussetzung war das 18. Lebensjahr. Diejenigen, die sich freiwillig melden, so wurde uns mitgeteilt, würden erfaßt und zu einem Offizierslehrgang geschickt. Da ich immer noch keinen Beruf hatte, war das meine große Chance, so glaubte ich.

Am 10. März 1950 rückte ich in die Kaserne der Stadt Zittau ein. Die ganztägige Aufnahmeprüfung hatte ich bestanden. Ich war nun Offiziersanwärter! Die Zivilkleidung wurde eingezogen. Die Ausbildung war sehr hart und an der Grenze des Erträglichen. Der politische Drill stand mit im Vordergrund. Auch ehemalige junge Wehrmachtsangehörige, die sich mit uns beworben hatten, waren der Meinung, daß eine Ausbildung nicht schlimmer sein könne.

Weiter geht es hier:
http://www.webarchiv-server.de/pin/arch ... 01ob23.htm
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Volker Zottmann » 5. Mai 2019, 10:18

Vielleicht lesen Einige mal den ganzen Beitrag.
Menschenraub in Westberlin, Verschleppung in den Ostteil....
Letztlich hat der Mann aber doch noch Glück gehabt und seinen Weg frei bestimmt gefunden.

Gruß Volker
Zuletzt geändert von Volker Zottmann am 5. Mai 2019, 10:50, insgesamt 1-mal geändert.
Volker Zottmann
 

Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Bahndamm 68 » 5. Mai 2019, 10:36

Oh ja, man muss es gelesen haben.
Wer Ost- und West-Berlin bis zum Mauerbau kannte, der kann diese Schilderung sehr gut nach vollziehen.
Wer die Vergangenheit nicht kennt,
kann die Gegenwart nicht begreifen
und die Zukunft nicht gestalten.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon augenzeuge » 5. Mai 2019, 11:38

Toller Bericht!

Alle Mitreisenden verließen den Zug, nur wir nicht. Als ich aus dem Fenster blickte, wurde ich von einer Frau angeschrieen und gewarnt: „Steigen Sie aus! Alle, die jetzt noch im Zug sitzen, fahren in den Westen. Die nächste Haltestelle ist im Westen. Die nächste Haltestelle ist im Westen der Zoologische Garten.“

[laugh]
Unglaublich.

AZ
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„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Nostalgiker » 5. Mai 2019, 12:18

Volker Zottmann hat geschrieben:Vielleicht lesen Einige mal den ganzen Beitrag.
Menschenraub in Westberlin, Verschleppung in den Ostteil....
Letztlich hat der Mann aber doch noch Glück gehabt und seinen Weg frei bestimmt gefunden.

Gruß Volker


Wirklich gruselig ...... [laugh]
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts zu verlieren hat. Janis Joplin

Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die immer bei anderen auf die Rechtschreibfehler hinweisen, eine Persönlichkeitsstörung haben und unzufrieden mit ihrem Leben sind. Netzfund
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Dr. 213 » 5. Mai 2019, 14:21

Gruselig und Stalinismus passen doch wunderbar zusammen !

Der Mann hat Glück gehabt, es war die Zeit, da wurden man wegen solch einem Wohnortwechsel zum Verräter.
Das war für abtrünnige Systendiener nochmal besonders gefährlich, da kannte man keinen Spass.
Im schlimmsten Fall wurde Spionage für den Westen "herausgearbeitet" und man wurde dann zu Tode gefreislert.
Die Drecksarbeit haben dann die Freunde erledigt, so wie das bei großen Verbrecherkonstruktionen eben üblich ist.

aus dem NDR- Beitrag "Erschossen in Moskau" der Autorin Christiane Blume:
Etwa 1.000 Deutsche wurden noch zwischen 1950 und 1953 von sowjetischen
Militärtribunalen zum Tode verurteilt - erschossen, eingeäschert und in einem Massengrab auf dem
Moskauer Donskoje-Friedhof verscharrt. Seit dem Sommer 2005 erinnert ein Gedenkstein auf dem
Donskoje-Friedhof an die Toten.


Die Flucht aus dem Vernehmerzimmer gefällt mir besonders. [grins]
Unsere Fachleute werden das bestimmt gleich wieder anzweifeln, wieso er einen Hut dabei hatte und warum
seine Schuhe nicht nass waren, wegen der Wasserzelle.
Ich freue mich für den Flüchtling, daß er im Westen sein Leben in Freiheit gestalten konnte.

Herzlichst
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Das größte Landraubtier der Neuzeit ist DER Bär.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 6. Mai 2019, 11:04

Joachim Matthes erzählt über seine Zeit in Stasi - Gefängnissen

Tarmstedt. "Ich wollte eigentlich Gefängnisleiter oder Strafverteidiger werden und es besser machen", sagt Joachim Matthes und fügt nach einer Pause hinzu: "Im Westen." Wie sich Gefängnis im Osten anfühlt, das weiß er. Von November 1967 bis Juli 1969 saß Matthes in DDR- Gefängnissen ein, verurteilt wegen "Fluchthilfe". Dass dafür sogar DDR-Recht gebeugt wurde, wusste der westdeutsche Jura-Student schon damals. Dass der Fluchtversuch eine Falle der Staatssicherheit war, erfuhr er erst 1996, als er seine Stasi-Akte las. Mit seinem Bericht gab Joachim Matthes einem Kapitel deutscher Geschichte ein Gesicht, das die Schüler der KGS Tarmstedt nur aus Lehrbüchern kennen.

Seit Oktober 2010 ist Matthes als Zeitzeuge unterwegs, vermittelt durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Die beiden zehnten Klassen, die ihm während dieses gut zweistündigen Vortrags lauschten, hatten das ehemalige Stasi-Gefängnis im vergangenen Sommer besucht. An diesem Morgen erfuhren die Jugendlichen, wie es sich anfühlte, als 25-jähriger westdeutscher Jura-Student in den Fängen des ostdeutschen Geheimdienstes zu landen.

Jahrzehnte hatte Matthes geschwiegen. Jetzt breitet er die Arme aus und sagt: "Für mich ist das eine Form der Verarbeitung." Als er nach dem Freikauf aus DDR-Haft am 19. Juli 1969 in Westdeutschland aus dem Bus stieg, war er nicht mehr der Joachim Matthes, der er zwei Jahre zuvor gewesen war. Vertrauen, Beziehungen - das gestaltete sich von da an schwierig. Mit Lernhemmungen bei rechtlichen Fragen sträubte sich fortan das Hirn gegen die Juristerei. Matthes sattelte nach mehreren Examensanläufen auf Sozialpädagogik um.

Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. 1942 in Magdeburg geboren, wuchs Matthes an der Oder-Neiße-Grenze auf. 1945 flüchtete die Familie nach Hamburg. 1964 folgte das Abitur, dann zwei Jahre Bundeswehr - "Ich war damals überzeugt, dass es nötig war", sagt Matthes. Danach ging er nach Westberlin, studierte Jura und Politologie an der Freien Universität. Dort begegnete er 1967 auf einer Tagung Peter.

Peter war Ende 1966 aus der DDR geflohen. "Wie genau, weiß ich nicht." Die Männer freundeten sich an. Wenige Monate später fragte Peter, ob Matthes ihm helfen könne, dessen ehemaligen Nachbarn Hans-Joachim Michaelis in den Westen zu holen. Anfangs war Matthes unsicher, dann dachte er: "Da ist ein Mensch, der deine Hilfe braucht." Was er nicht wusste: Die Staatssicherheit hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine Arbeitsgruppe gebildet, die Peters Fluchtweg ergründen sollte.

Auf einem Kurz-Exkurs erklärte Matthes Gründung und Struktur der Staatssicherheit, nannte sie bitter "Schild und Schwert der SED" oder ironischer "die Jungs von der Unsichtbaren Front". 39 Millionen Karteikarten mit Informationen trugen diese laut Matthes seit 1950 zusammen - bei 17 Millionen Einwohnern der DDR - und verfassten 180 Kilometer Akten.

"Die Stasi steckte überall drin"

Matthes erklärt ausführlich, wie Briefe und Telegramme ausspioniert wurden und warum er sich sicher wähnte, als er einen Brief an den fluchtwilligen Michaelis in einen Ostberliner Briefkasten warf. Doch kaum hatte er sich umgedreht, ließ die Stasi den Kasten leeren. Jedes Mal, wenn er von da an Michaelis in Ostberlin traf, war die Stasi dabei. Und nicht nur dort. Die Stasi observierte ebenso in seinem Westberliner und Hamburger Umfeld. Matthes senkt die Stimme und sagt: "Die Stasi steckte überall drin - wie eine Krake." Das Gefühl, beobachtet zu werden, bewog Matthes schließlich, dass er im Herbst 1967 die Aktion abbrechen wollte. "Ich bin in Not!" und andere Hilferufe erreichten ihn bald aus dem Osten. Matthes verdrängte die Angst und machte sich am 28. November 1967 wieder auf den Weg nach Ostberlin - wieder als Kurier, mehr wollte er nie sein, sagt er.

Das war eine Fahrt zu viel. Packend beschreibt Matthes, wie er im konspirativen Wende-Mantel durch die Stadt flüchtete, wie er bei einem befreundeten Ostberliner Pastor noch eine Nachricht für seine Familie in Hamburg platzieren wollte. Die Nachricht kam nie an. Später erfuhr Matthes: Auch der Kirchenmann war inoffizieller Stasi-Mitarbeiter. Matthes schildert weiter, wie er mit dem Auto schon die erste Grenzkontrolle Richtung Westberlin passiert hatte und wie danach jemand an die Scheibe klopfte: "Wir haben noch etwas zu klären." "Hier ist Schluss", hatte Matthes sich einige Stunden später gedacht, als der Schlüssel hinter ihm zweimal im Zellen-Schloss knackte. Er schildert, wie er auf Knien über den Zellenboden kroch, nur um etwas Lebendiges zu finden - eine Fliege, eine Milbe - egal, Hauptsache nicht allein sein in diesem gefühlten Sarg.

Verhöre im gleißenden Strahlerlicht, Einzelhaft, eine Drei-Mann-Zelle mit Morddrohungen oder das Zusammenleben von 21 Männern in einer Zelle des als "Gelbes Elend" bekannten Stasi-Gefängnisses in Bautzen - Matthes lässt seine jungen Zuhörer intensiv teilhaben an jener Zeit.

Stille liegt im Saal, während der Zeitzeuge mit dem Fingerknöchel auf das Rednerpult schlägt. "Irgendwann merkte man, dass man das ganze Alphabet klopfen kann", sagt er lächelnd. "GA" für Guten Abend, "GM" für Guten Morgen. "Wir haben Lieder geklopft, wir haben zusammen gebetet", erzählt er über die junge Frau in der Nachbarzelle. Durch sie erfuhr er, noch bevor er seinen Anwalt das erste Mal getroffen hatte, dass er freigekauft werden soll. Ob er die Frau jemals gesehen habe, will eine Schülerin wissen. "Nein, leider nicht." Sie nicht, den Anwalt nicht und auch jenen Hans-Joachim Michaelis nicht, der als fluchtwilliger Stasi-Köder fungiert hatte.

Nach dem Freikauf wurde Matthes vom Hamburger Oberlandesgericht rehabilitiert. Was ihn zornig machte war, dass er sieben Jahre darum kämpfen musste, bis seine Trauma-Schäden aus der Haftzeit anerkannt wurden. 120 Euro bekommt er heute pro Monat dafür, plus 250 Euro "Ehrenrente". "Das ist absolut schizophren", schimpft der ansonsten milde wirkende Mann über diese Rente. Die erhält nur, wer mindestens ein halbes Jahr in Stasi-Haft saß und bedürftig ist. Matthes schüttelt mit dem Kopf - "wer berufstätig ist, kriegt nichts". Verpfuscht will Matthes sein Leben trotz allem nicht nennen, nur: "Von normal weit entfernt."

https://www.weser-kurier.de/region_arti ... 19804.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 9. Mai 2019, 14:49

Ost-Berlin 1984 Nadja und der Fackelzug

Ein FDJ-Aufmarsch zum 35. Jahrestag der Republik - nie wäre Mark Scheppert auf die Idee gekommen, daran freiwillig teilzunehmen. Aber dann winkte ein Treffen mit dem schönsten Mädchen der Schule. Also doch.

Morgens wurden wir gleich zum Fahnenappell einbestellt. Am Freitag, 5. Oktober 1984, unterrichtete uns Frau Frisch, dass wir sogleich diszipliniert und mit Winkelementen ausgestattet zur Protokollstrecke an die Hans-Beimler-Straße gehen würden. Erich Honecker, Andrei Gromyko und Jassir Arafat sollten dort zu den Feierlichkeiten rund um den 35. Jahrestag der Republik vorbeifahren.

Uns war sofort klar: Wir hatten zwei Stunden schulfrei und konnten uns in kleinen Gruppen absetzen! Kein Lehrer würde uns im dichten Gedränge am Straßenrand vermissen und schon gar nicht im "Espresso an der Bibliothek" auftauchen.

Während ich im Café mein Würzfleisch verspeiste, schwoll der Geräuschpegel vor der Tür an. Okay, die Kolonne schwerer Autos wollte ich gern sehen, aber lieber saß ich inmitten meiner feixenden Jungs. Und dann war der Konvoi schwarzer Schlitten schon vorbei. "Das soll mir nie wieder passieren. Heute Abend gehe ich zum Fackelzug", grölte ausgerechnet Andi. Alle wussten: Er blödelte nur herum.

Mit dem Beitrag und 20 sehr interessanten Fotos geht es hier weiter:
https://www.spiegel.de/einestages/ost-b ... 31191.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Nostalgiker » 9. Mai 2019, 15:13

Welch allerliebste Geschichte ......, die nur so von albernen Klischees strotzt.

Nur habe ich das Gefühl das dieser Typ schon einmal mit einer 'Doppelidentität' auftauchte.
Oder wohnten um den Leninplatz so viel Freaks?
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts zu verlieren hat. Janis Joplin

Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die immer bei anderen auf die Rechtschreibfehler hinweisen, eine Persönlichkeitsstörung haben und unzufrieden mit ihrem Leben sind. Netzfund
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 13. Mai 2019, 13:45

„Ich sehe mich noch als Ossi, aber gut getarnt“

Rinteln (dil). „Die Grenze existiert in den Köpfen weiter“ – so hatte es noch jahrelang nach der deutschen Wiedervereinigung geheißen. Die Hoffnungen ruhten auf der jungen Generation, mit der sich das Denken in den Kategorien „Ossis“ und „Wessis“ auswachsen würde. Nun liegt die Wende zwei Jahrzehnte zurück. „Über Ossis und Wessis werden doch nur noch Späße gemacht, aber da gibt es keine tiefen Unterschiede mehr“, hat eine Schülerin des Geschichts-Leistungskurses der Jahrgangsstufe 12 am Ernestinum erklärt. Andere stimmten ihr darin zu.

Bild
Auf Kinderfotos (hinten) ist kaum ein Unterschied zwischen DDR und BRD zu erkennen. Das kam erst später, als in der DDR Pionier-Uniformen getragen wurden und alle möglichen Urkunden und Abzeichen zu erwerben waren, wie hier vorn mit dem DDR-Wappen. André Peuker (links) erzählt den Gymnasiasten in Rinteln, wie er die DDR erlebt hat und sie heute im Rückblick sieht. Quelle: dil

Zwei Kurse beschäftigen sich dort mit der jüngeren deutschen Vergangenheit. Lehrer Matthias Fink präsentierte ihnen jetzt mit André Peuker aus Hannover einen Zeitzeugen der Wende zur Befragung – und zwar einen, der damals selbst noch Kind war. Vier Wochen vor der Maueröffnung floh er als 14-Jähriger mit Bruder und Eltern über Ungarn und Österreich nach Westdeutschland.

Wie war es als Kind in der DDR, wollten die Schüler wissen. „Ich habe alle Stationen durchlaufen von der Kinderkrippe über Kindergarten, Einschulung, junge Pioniere, Thälmann-Pioniere und Freie Deutsche Jugend“, erzählte Peuker. Und dank besonderer Schwimmbegabung sei er dann an eine Sportschule delegiert worden. Doch zu den für Olympia und Weltmeisterschaften vorgesehenen Jahrgangsbesten zählte er dann nicht, musste wieder auf die normale Schulbank zurück. So sei ihm aber auch Doping erspart geblieben.

Waren Südfrüchte wirklich so knapp in der DDR? „Ja, denn der Ostblock hatte keine so heißen Staaten, dass es Südfrüchte gab“, erzählte Peuker. „Meine erste Kiwi habe ich in Soltau oder Hannover gegessen.“
Der heutige Verkaufsleiter einer mittelständischen Firma für Messedisplays sagte, er habe Jahre gebraucht, bis er die DDR-Zeit rückblickend richtig einschätzen konnte. Seine Kindheit sei sehr schön gewesen, trotz Fahnenappellen, soldatischem Grüßen der Lehrer und Jeansverbots.

Wie war das mit dem reichen Onkel aus dem Westen? „Ja, wir hatten einen, der kam immer mit dem vollgepackten Käfer aus Dortmund. Das war wie Weihnachten und Geburtstag auf einmal“, so Peuker schmunzelnd. Vor allem die „Bravo“ war dann heiß begehrt, auch wenn sie schon Wochen alt war.
Und warum ist die Familie geflohen? „Meine Eltern hatten trotz guter Jobs Probleme mit der ständigen Steuerung des Lebens durch den Staat“, antworte Peuker. „Und sie wussten ja nicht, wie alles ausgeht.“ Peuker war mit seinen Eltern selbst bei Montagsdemonstrationen, die Angst vor einem Zurückschlagen der Staatsmacht war spürbar.

„Aber mit der Flucht habe ich alles abgestreift“, fuhr Peuker fort. Doch dann sei er auf Anti-DDR-Lehrer getroffen. „Ich habe deshalb versucht, mich schnell zu integrieren und mein Sächsisch sofort abgelegt.“ Und auch Einkäufe fielen ihm schwer – so viel Auswahl irritierte ihn.

Und wurde die Familie von der Stasi überwacht? „Ein Patenonkel und bester Freund meines Vaters war Westspion. Deshalb wurde mein Vater drei Tage lang verhört. Und in den Stasi-Akten der Eltern fanden sich Hinweise auf Bespitzelung durch Freunde“, sagte Peuker. Ihm hätten die Eltern deshalb von der geplanten Flucht nichts erzählt. „Auf Republikflucht standen zwei Jahre Zuchthaus.“ Fühlt er sich noch als Ossi? „Für mich gibt es noch Ost und West, und ich sehe mich manchmal noch als Ossi, aber sehr, sehr gut getarnt.“

https://www.sn-online.de/Schaumburg/Rin ... ut-getarnt
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Sperrbrecher » 13. Mai 2019, 19:00

Interessierter hat geschrieben:„Auf Republikflucht standen zwei Jahre Zuchthaus.“

§ 213 Ungesetzlicher Grenzübertritt
(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik
passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik
verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt.
(3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu
acht Jahren
bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn
1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet;
2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel
oder Methoden erfolgt;
3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird;
4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt;
5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird;
6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.
(4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.


Bei mir wäre es ein schwerer Fall gewesen, weil Punkt 4 und 5 zutreffend
waren. Glücklicherweise wurden wir nicht erwischt und sind wohlbehalten
im Westen angekommen.

Der Witz war allerdings, dass ich bereits 1973, also vier Jahre nach unserer
Flucht 1969 wieder als Besucher in die DDR einreisen konnte/durfte und die
"Straftat" nicht mehr gesühnt werden konnte.
In der DDR wussten 90% der Bevölkerung, dass sie verarscht werden.
In der Bundesrepublik haben es 90% der Wähler immer noch nicht gemerkt.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 15. Mai 2019, 14:49

Ex-Stasi-Häftling: „Ich dachte, ich komme hier nie wieder raus“

Er übte Kritik am System, wollte fliehen und wurde gefangen genommen. Im Auftrag der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen berichtet Michael Lotsch über seine Haft-Erfahrungen in der Zentralen Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Insgesamt verbrachte er 24 Monate hinter Stasi-Gittern – nicht nur in Berlin.

„Die DDR war ein sehr leiser Staat“, sagt Michael Lotsch. Doch so leise sich Menschen auf der Straße unterhielten, so leise verschwanden politische Gegner in den Haftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit. Michael Lotsch wollte fliehen und landete in der „Zentralen Untersuchungshaftanstalt der Stasi“ in Berlin-Hohenschönhausen. Was er dort erlebte, erzählt er gestern den Schülern der Maximilian-Kolbe-Schule.

Dass der sozialistische Staat „leise“ war, stellte er erst fest, als er 1987 nach Westdeutschland, nach Bielefeld, ausreisen durfte und hörte, dass sich die Leute auf den Straßen lautstark, auch staatskritisch, unterhielten. Bis dahin war es ein langer Weg für Lotsch, der sich schon als Schüler nicht mit diesem Staat, der für ihn keiner war, abfinden wollte.

Mit Wolf Biermann verbaute er sich die Karriere

Bild

Michael Lotsch: „Ich dachte, ich komme hier nie wieder raus.“
Foto: WP Florian Hückelheim

Biermann 1976, Michael Lotsch war damals 16 Jahre alt, wegen regimekritischer Äußerungen während einer Konzertreise in Westdeutschland ausgebürgert wurde, übte Lotsch erstmals Kritik am Staat. „Als unsere Lehrerin uns nach unserer Meinung fragte, habe ich gesagt, dass sich ein Staat wie die DDR nicht vor einem konstruktiven Kritiker wie Biermann fürchten brauche.“ Er erinnert sich noch genau an den Satz, der deswegen in seinem Abschlusszeugnis stand: „Michael muss sich um eine klarere politische Meinung bemühen.“ „Da war eine Karriere für mich gelaufen“, sagt er heute.

Gespannt hören die rund 90 Schülerinnen und Schüler dem Ex-Stasi-Häftling im schwarzen Cordanzug zu. Eine halbstündige Dokumentation über den Stasi-Standort Berlin-Hohenschönhausen und die DDR-Historie soll eine Diskussions- und Fragengrundlage bilden. „Was war das schlimmste Erlebnis in der DDR?“, fragt eine Schülerin. Es sei die Ungewissheit in der Haft gewesen, antwortet Lotsch. Zusammen mit einem Freund fuhr er nach Szombathely, einer Stadt in Ungarn, 15 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Sie wollten fliehen. Bereits am Bahnhof der Stadt klickten die Handschellen. Eine Odyssee per Bus und Flugzeug führte ihn über diverse Haftorte nach Hohenschönhausen. Auf einem Dienstsiegel sah er, dass er bei der Stasi gelandet war. „Ich dachte, ich komme hier nie wieder raus“, sagt Lotsch. Nach dem Wecken um sechs Uhr früh ging es manchmal zum Verhör. Der Vernehmungsoffizier sollte im System der Stasi zur einzigen Vertrauensperson der Häftlinge werden.

Kein Kontakt mit den Eltern

Da Mitwisserschaft bei den „Gummiparagrafen“, wie Lotsch das Strafrecht der DDR nennt, für eine Inhaftierung ausreichte, versuchte er, so wenig wie möglich zu erzählen. „Ich hatte die Bestrebung, möglichst wenig Flurschaden anzurichten.“ Für die Kolbe-Schüler waren diese Umstände aber weniger schockierend als die Schilderungen der Haftbedingungen selbst: „Links sitzt der eine auf der Toilette und rechts am Tisch daneben schmiert sich der andere ein Leberwurstbrot.“ Für Lehrer Heinz Werner Klaus sind solche authentischen Schilderungen der Grund, warum er den Unterricht mit außerschulische Referenten anzureichern versucht. Interesse für die Geschichte sei schließlich wichtig.

Dieses Interesse, stellt Lotsch fest, gibt es heute für die DDR wie früher für die NS-Diktatur: „Die Söhne fragen ihre Väter: Was habt ihr damals gemacht?“ Er selbst fragte seinen Vater nie so richtig. Während und vor Lotschs Haft sorgte das System dafür, dass er den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen musste. Sein Vater wusste als Geologe über die Braunkohleförderung in der DDR und den „befreundeten Staaten“ bescheid. Michael Lotschs Ausreise barg für die Stasi das Risiko des Verrats wichtiger Informationen. Zudem beschreibt er seine Eltern heute als „politisch opportun“, macht ihnen aber keinen Vorwurf: „Ich nehme es niemandem übel, sein Fähnchen in den Wind zu hängen, er darf nur niemand anderen da mit reinziehen.“

Diskussionen mit Ex-Stasi-Mitarbeitern zwecklos

Im Auftrag der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Höhenschönhausen besucht Michael Lotsch Schulen in NRW und Thüringen. Insgesamt war er 24 Monate (Juni 1982 bis Juni 1984) inhaftiert, davon ein halbes Jahr in Ostberlin. Souverän spricht er über seine Erlebnisse, lässt persönliche Fragen zu, wirkt offen. Mit ehemaligen Stasi-Beschäftigen würde er aber heute nicht sprechen, weil „diese Diskussionen nichts bringen würden“. Niemand würde seinen Beruf, den er einen Großteil seines Lebens ausgeübt hat, infrage stellen, sagt er.

Mit den Kolbe-Schülern hat er gesprochen. Sie haben Fragen gestellt und Antworten bekommen.

https://www.wp.de/staedte/warstein-und- ... 39129.html
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Dr. 213 » 15. Mai 2019, 17:42

" weil „diese Diskussionen nichts bringen würden“. Niemand würde seinen Beruf, den er einen Großteil seines Lebens ausgeübt hat, infrage stellen, sagt er"

Was irgendwie ja auch für dieses Forum gilt.
Aber es ist doch zugegeben besser, man schreibt sich miteinander statt es im Ring auszufechten.
Und die ganz Harten können sich ja am Ende des Tages immer selber einreden, den Kampf um die Deutungshoheit gewonnen zu haben.
Am nächsten Tag beginnt der Kampf an der Schreibenden Front dann wieder von vorne.

Herzlichst
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon augenzeuge » 15. Mai 2019, 18:28

Dr. 213 hat geschrieben:" weil „diese Diskussionen nichts bringen würden“. Niemand würde seinen Beruf, den er einen Großteil seines Lebens ausgeübt hat, infrage stellen, sagt er"

Was irgendwie ja auch für dieses Forum gilt.
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Waaas? Niemand hat die Absicht eine Diskussion zu stören oder zu verhindern. [laugh]
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 12. Juni 2019, 09:33

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Das Thema der Stadt ist die Geschichte. Mit diesem Satz bin ich an diesem regnerischen Sonnabend aufgewacht. Eigentlich wollte ich ausschlafen. Nun muss ich los. Am Westkreuz kreuzt die Stadtbahn die Ringbahn und läuft von da durch die Innenstadt, bis sie sie am Ostkreuz wieder trifft. Die Stadtbahn ist über zwölf Kilometer lang, fast acht Kilometer gemauerte Viaduktbögen, fast zwei Kilometer Brücken und Eisenviadukte, ein Hauptbauwerk Berlins, typischer für die Stadt als der Kudamm, über hundert Jahre alt, erneuert, restauriert, wieder gut in Takt; gerade jetzt eine Stadtattraktion ersten Ranges: ein Querschnitt durch Berlins Mitte.

Hinter dem Bahnhof Zoo, wo sich rechts und links die Hauptstädtischkeiten auf- und ausstellen, kommt der Obdachlose, der die “Motz” verkauft; “Gottes Segen” wünscht mir der freundliche Mann, der den Geruch der großstädtischen Armut verbreitet, während draußen das Herrschafts-Berlin vorüberzieht.

Vom Hackeschen Markt an gehe ich über die Straße, die nach dem Stadtbahn-Erbauer, nach Ernst Dircksen heißt, bis zur Rosa-Luxemburg-Straße. Es ist unterdessen neun Uhr. Die Gegend ist nicht sehr belebt. Das “Tati” am Rosa-Luxemburg-Platz ist noch zu; ich muss das Frühstück aufschieben.
Wenn er etwa aus Wannsee gekommen wäre, hätte er genau den Weg nehmen können, den ich jetzt gekommen bin. Ich bilde mir ein: Richard Ermisch muss in Wannsee, jedenfalls in Zehlendorf, irgendwo draußen, in einer bescheidenen Villa gewohnt haben. Richard Ermisch war ein fruchtbarer Architekt. Im vorigen Kapitel habe ich seine zackigen expressionistischen Bauten an der Zeppelinstraße beschrieben. Da war er ein Mann der 20-er Jahre, ein Baumeister der Republik. Er passte sich an. Die Liste seiner Bauten und die Kunst des sozialen Überstehens, in der er ebenfalls Meister gewesen zu sein scheint, ist eindrucksvoll. 1933 entließen die Nazis den großen Organisator des republikanischen Wohnungsbaus, Martin Wagner. Er fand eine Professur in USA und hatte später keinen Anlass in die BRD oder die DDR, in sein altes Berlin, das das alte eben nicht mehr war, zurück zu kehren. Es rief ihn auch niemand. Richard Ermisch war in guten Tagen ein Partner von ihm gewesen. Das vergaß er nach 1933.

Der Nachfolger Wagners als Stadtbaurat war ein Nazi. Er hieß Kühn. “Wir gehen vorwärts! Wir warten nicht auf gesetzgeberische Maßnahmen!” sagte er im Februar 1938 auf einer Rathausbesprechung, bei der die “Spezialsanierung” des Bülowplatzes beschlossen wurde.

So hieß dieser berühmt-berüchtigte Platz inmitten des Scheunenviertels, der heute – nachdem es von diesem Viertel nur noch die ungenaue Erinnerung gibt – nach Rosa Luxemburg heißt.
1902 hatte der Staat hier zum ersten Mal saniert und die Bewohner vertrieben; 1913 bis 1915, während des Weltkrieges, entstand durch ideal-sozialistische Initiative die Volksbühne, das eindrucksvolle, überlebende Gebäude von Oskar Kaufmann; 1927 baute Pölzig an der Ecke Hirtenstraße seine gerundeten Wohnhäuser und das schnell berühmte Babylon, ein Kino. Ein Kino, ein Theater für das Volk, aber vor allem kam Schicki-Micki.

Am Ende der 20er Jahre wohnten in der Gegend um die Volksbühne viele arme Juden aus Osteuropa, Flüchtlinge, Menschen, die einen Platz suchten, an dem man ihnen nicht an den Kragen wollte.
Hinten lag das Liebknecht-Haus, Hauptquartier der KPD seit 1926, politische Aufmärsche, Demonstrationen, zwei gehasste Polizeioffiziere wurden umgebracht; da sehen wir den jungen Mielke um die Ecke huschen, der später eine so tiefe Furche in unsere Stadt gezogen hat.


Hierher wollte Hitler eine Märtyer-Gedenkstätte für Horst Wessel, davor “kleine Wachthäuschen, die dem Gedanken dienen, dass die heranwachsende Jugend Ehrenwache schieben und Verantwortung fühlen lernt”. Dazu passten die Juden nicht. “In der Nähe der Horst-Wessel-Ehrung können wir keinen jüdischen Wohnblock dulden.” Nun bringen wir, rief der Wagner-Nachfoger, “die Herren und Damen nicht-arischen Geschlechts mit einer gewissen Wupptizität hinaus”, Entmietung von zweihundertfünfzehn Mietparteien zwischen Linien-, Tor-, Zola- und Weydingerstraße: ein “Ghetto”, sagte der Magistratsrat, schnell handeln und “um Gottes willen nicht irgendeine Aufklärung über das, was sich dort ereignet. Der Führer hatte einige Änderungsvorschläge.

Dann stieg die Aktion. Abriss und Neubau. Richard Ermisch, der Architekt, der alle Zeiten überstand, führte aus.
Das sind nun die Häuser, die in drei gestaffelten Reihen hinter der Volksbühne zwischen Tor- und Linienstraße stehen, eine Grünfläche dazwischen, eine Art Hofgarten. Von dem fünfstöckigen Block zur Torstraße – damals hieß sie Lothringer – blättert der Putz aber, ehemals vielleicht gelblich, jetzt von schwarzem Grau; der untere Fassadenteil ist dicht besprayt, die Läden machen einen geschlossenen Eindruck.

Ich biege in die Weydingerstraße ein, die mit der Linienstraße dort eine Art Platz bildet, ein ruhiges Straßenende, das den Durchgangsverkehr verbietet. Ich stehe unter den Arkaden vor der Integrations-Kita Nestwärme, schütze mich vor dem Regen, während ich mir Ermischs Sanierungsbauten von 1934 betrachte. Sie sehen jetzt schwarz und dunkel aus. aber die Straße macht auch an dem Regentag eher einen hellen Eindruck. Man müsste dem Ermisch als Architekten vielleicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, die Bauten fügen sich mit der Volksbühne zu einem ruhigen Ensemble; die Häuser wirken vielleicht ein bisschen angetreten und ausgerichtet; aber die städtische Atmosphäre, die sie erzeugen, ist nicht unangenehm.

Wenn man nicht wüsste, welche Tage hier begraben liegen, wenn man überhaupt eine Eindeutigkeit in die Stadtgeschichte bringen könnte, wäre das – mitten in der Stadt – ein schöner Ort. Ich glaube “schön” könnte das richtige Adjektiv sein. Ich kann mir Kategorien vorstellen, nach denen diese Gegend hier, jetzt, an einem in den Mittag übergehenden Sonnabend am Ende des Jahrhunderts “schön” ist. Die Geschichte ist das, was fort ist.
“Wehrt euch!”, ist angesprayt. “Organisiert euch gegen…!” Punkt. Punkt. Punkt. Wir können uns unseren Feind aussuchen.

Jetzt ist das “Tati” auf. Die Sonnabend-Paare treffen ein, die die freundliche Nacht eintauschen gegen einen ruhigen Tag. Im Regen wird das Wiesengrün vor der Volksbühne immer grüner, die Bäume schütteln sich, das laufende Rad kommt nicht weiter, die Tauben halten sich am liebsten am Rand von Wiese und Pflaster auf, fliegen eine Runde und setzen sich wieder, wo sie herkamen, Allmählich stellt sich sogar schon Zugehörigkeitsgefühl ein.

https://www.berlinstreet.de/5465

Ein Bericht den ich gerne gelesen habe. Erinnert er mich doch an meine zwei oder drei Besuche Anfang der 60ziger Jahre kurz nach dem Mauerbau und meine unzähligen Aufenthalte nach der Wende. Für mich waren die Berliner, einschließlich ihres Dialektes, schon immer etwas Besonderes.
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 14. Juni 2019, 11:58

Die Wahrheit und die Wirklichkeit

Bild

Bis zur Danziger Straße bringt mich meine Freundin R. in ihrem schnellen, flachen Auto, aus dem ich mich auf den paradoxen Weg mache: hinauf zur Untergrundbahn.
Zur Schönhauser Allee steigt die U-Bahn auf, erhebt sich, hält sich eine ganze Weile oben, ehe sie nach einer bunten Fassade am Eschengraben wieder hinabführt: beziehungsreich bis zur Station Vinetastraße. Denn Vineta hieß die Stadt, die die Stürme des Meeres von der Insel Wollin hinabfegten in einen Untergrund der Sagenhaftigkeit.

Ich gehe nun das U-Bahn-lose Stück der Berliner Straße hinunter, das die Tram in zwei ärgerlich getrennte Seiten zerschneidet. Die U-Bahn-Verlängerung zum S-Bahnhof Pankow ist aber schon im Bau.
In einem Kirschbaum abseits der Straße zwitschern die Spatzen und vebreiten ihr optimistisches Lebensgefühl. Das Hof-Haus dahinter sieht ein bisschen wie Goethes Gartenhaus aus. Da fange ich schon an, an Heiner Müller zu denken. Ich will mir das Haus Kissingenplatz 12 ansehen. Ich will mir vorstellen, wie die Gegend hier vor 20 Jahren aussah, vor 19 Jahren, im Sommer 1978, als Müller hier mit der Stasi sprach.

Grüß Gott Berlin stand damals nicht an der S-Bahnbrücke, auf die ich – das “Kissingen-Eck” im Rücken – hinabblicke, denn die Straße hebt sich leicht an oder fällt ab zu dieser S-Bahn-Unterführung, hinter der nach meiner persönlichen Voreingenommenheit erst das “richtige Pankow” beginnt und durch die ich nachher zu dem backsteinprächtigen S-Bahnhof Pankow gehen werde für die Rückfahrt.

Hier geht es weiter:
https://www.berlinstreet.de/4006
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Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon Interessierter » 23. Juni 2019, 11:45

Altbischof Rathke und sein mutiges Leben in der DDR

Schwerin. Keine Frage: Heinrich Rathke ist ein mutiger Mann. Als Mecklenburger Landesbischof zeigte er klare Kante gegen die Stasi. In seiner Autobiografie verrät der 86-Jährige jetzt, warum er freiwillig in die DDR ging und was er Honecker zuflüsterte.

Heinrich Rathke (86) war ein unkonventioneller und mutiger Bischof. Insbesondere sein Verhältnis zur DDR-Staatssicherheit (Stasi) war klar und offen. Zwei Stasi-Leute, die ihm kurz vor seinem Amtsantritt als mecklenburgischer Landesbischof eine Zusammenarbeit vorschlugen, ließ er mit knappen Worten abblitzen: "Meine Herren, ich gedenke unsere kirchlichen Angelegenheiten ohne ihre Mitarbeit zu regeln." Rückblickend sagt er heute: "Damit waren die Fronten klar." Vor wenigen Wochen ist seine 200-seitige Autobiografie "Wohin sollen wir gehen?" erschienen.

Mit der Stasi hatte Rathke zuvor schon langjährige Erfahrungen gemacht. Als Gemeindepastor in Warnkenhagen (bei Güstrow) erfuhr er 1960, dass ein Bauer aus der Nachbarpfarre wegen Widerstands gegen die Zwangskollektivierung verhaftet wurde. So fuhr er kurz entschlossen auf dem Motorrad hinterher - und landete selbst für einige Tage im Gefängnis. Als in den 60er Jahren - Rathke war inzwischen Pastor im Neubaugebiet Rostock-Südstadt - ein kirchlicher Mitarbeiter von der Stasi bedrängt wurde, tauschte Rathke die Rollen, erschien selbst beim nächsten konspirativen Stasi-Treff und beendete die Zusammenarbeit.

Klartext mit Erich Honecker

Er war auch ein tatkräftiger Bischof: Als er einen pensionierten Pastor besuchte, der die ganze Zeit darüber nörgelte, dass es die Baudienststelle seit Wochen nicht schafft, den Dachstein seines Pastorats zu ersetzen, stieg der Landesbischof kurzentschlossen selbst auf die Leiter und wechselte den Dachziegel aus.

Beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt beim DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 13. Dezember 1981 im Güstrower Dom ließ es sich Landesbischof Rathke nicht nehmen, Klartext zu reden. Am Ausgang sagte er Honecker "noch unter vier Augen unverblümt und direkt", was die Kirche in der DDR bedrückte: die Drangsalierung der Jugend, die Militarisierung und die Bedrängnis durch die Stasi.

Dabei hätte sich der im mecklenburgischen Mölln (bei Neubrandenburg) geborene Pastorensohn eine Menge Ärger ersparen können, wenn er 1953 nicht in die DDR zurückgekehrt wäre. Nach seiner Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft machte er in Lübeck Abitur und absolvierte in Kiel, Erlangen und Tübingen sein Theologiestudium. Um dem Pastorenmangel in der DDR abzuhelfen, gehörte Rathke zu den rund 80 bis 100 Theologen, die nach Ostdeutschland zogen.
Kontakt zur Gemeinde war ihm wichtig

Vor allem der Kontakt zu den Gemeinden war Rathke wichtig. Auf manche privilegierte Auslandsreise und Repräsentation verzichtete er, um genügend Zeit für Besuche in seiner Landeskirche zu haben. Er führte einen monatlichen Sprechtag ein, an dem ihn jeder auch unangemeldet in seiner Bischofswohnung im Schweriner Schleifmühlenweg besuchen konnte. In den 70er Jahren feierte Rathke gemeinsam mit seinem katholischen Amtskollegen in Althof bei Bad Doberan den ersten ökumenischen Gottesdienst in Mecklenburg.

Nach seiner Bischofszeit von 1971 bis 1984 wurde Rathke wieder Gemeindepastor in Crivitz (bei Schwerin). Für ihn sei es wie eine "Rückkehr aus dem Exil" gewesen, sagt er heute. Dabei war er 1970 eigentlich auf Lebenszeit gewählt worden. Doch gleich nach der Wahl kündigte er an, sein Amt in absehbarer Zeit wieder zur Verfügung stellen zu wollen.

Stasi-Stützpunkte enttarnt

In Crivitz wirkte er dann auch an der Enttarnung von heimlichen Stasi-Stützpunkten mit. Sogar Morddrohungen seien daraufhin bei ihm eingegangen, berichtet Rathke. Doch obwohl er viele Stasi-Aktivitäten zu DDR-Zeiten mitbekam, gibt er in seinen Lebenserinnerungen zu, völlig unterschätzt zu haben, "welch großes Heer von 'Inoffiziellen Mitarbeitern (IMs)' umherschwirrte". Allein auf seine Familie seien weit über 100 Stasi-Spitzel angesetzt gewesen.

Im Ruhestand kümmerte er sich in besonderer Weise um die russlanddeutschen Gemeinden in Mittelasien. Im Rahmen dieser Arbeit war er von 1991 bis 1994 Bischöflicher Visitator von Kasachstan. Heute lebt er in Schwerin.

https://www.nordkirche.de/nachrichten/n ... n-der-ddr/

Wie krank müssen diese Stasi - Schergen eigentlich gewesen sein, wenn sie alleine auf seine Familie schon 100 Spitzel ansetzte? [bloed]
Interessierter
 

Re: Zeitzeugen berichten 2

Beitragvon augenzeuge » 23. Juni 2019, 12:16

100 Spitzel und Morddrohungen vom MfS?

Was müssen die für eine Angst vor ihm gehabt haben.
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