Info Nr. 572a/76 (o.D.)
[ohne Datum]
Information Nr. 572a/76 über Erkenntnisse zur Situation im Bereich Medizin der DDR – Staatliches Gesundheitswesen, Hoch- und Fachschulwesen, Pharmazie und Medizintechnik [Kurzfassung]
Quelle: BStU, MfS, ZAIG 2543, Bl. 1–11.
Serie: Informationen.
Verteiler: Information nicht extern verteilt – ZAIG-Vorschlag: Honecker – Mittig, Ablage (im Dokumentenkopf der Information).
Datum: BStU-Datierung: August 1976 – BStU-Einsortierung: 12.8.1976.
Anlage: Übersicht über Fluchten von Medizinern und daraus resultierende Probleme.
Verweis: Information 572b/76 [Langfassung].
Nach dem MfS vorliegenden Erkenntnissen stellt im Vorgehen gegnerischer Kräfte, besonders der BRD und Westberlins, gegen die DDR der Bereich Medizin mit dem staatlichen Gesundheitswesen, dem medizinischen Sektor des Hoch- und Fachschulwesens, der pharmazeutischen Industrie sowie der Medizintechnik einen Schwerpunkt dar. Das zeigt sich in zielgerichteten
– Aktivitäten zur feindlichen und negativen Beeinflussung im Bereich Medizin tätiger Personen durch die Forcierung der ideologischen Diversion und der Herstellung sowie des Ausbaus von Kontakten mit feindlich-negativer Zielstellung,
– Abwerbungen und Ausschleusungen medizinischer Hoch- und Fachschulkader und vor allem in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung tätiger Ärzte,
– Bestrebungen zur Erlangung geheim zu haltender Informationen auf medizinischem, medizinisch-technischem und pharmazeutischem Gebiet.
Als Initiatoren und Organisatoren derartiger subversiver Handlungen gegen den Bereich Medizin der DDR wurden
– Zentren und Institutionen der ideologischen Diversion,
– imperialistische Geheimdienste,
– kriminelle Menschenhändlerbanden,
– Mitarbeiter von Konzernen der Pharmazie/Medizintechnik und medizinischen Fachverlagen,
– Mitglieder medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften und berufsständischer Einrichtungen (z. B. des »Verbandes der Ärzte Deutschlands – Hartmannbund«) und vor allem auch
– feindlich eingestellte Einzelpersonen aus dem Bereich Medizin der BRD und Westberlins, darunter besonders solche, die die DDR ungesetzlich verlassen haben,
erkannt und nachgewiesen.
In zunehmendem Maße sind die genannten Institutionen, Organisationen und Personengruppen um ein koordiniertes Vorgehen bemüht und konnten durch ihre umfangreichen, in der Regel personengebundenen Aktivitäten Personen im Bereich Medizin der DDR im Sinne ihrer Ziele beeinflussen.
Aus vorgenannten Gründen wurden durch das MfS im Zusammenhang mit der Bekämpfung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und des staatsfeindlichen Menschenhandels sowie bei der Lösung anderer Sicherungsaufgaben im Bereich Medizin der DDR gewonnene Erkenntnisse in einer ausführlichen Information zusammengefasst. Die Information kann bei Bedarf angefordert werden. In der Information wird die Vielfalt der Ursachen, Motive, tatauslösenden und -begünstigenden Umstände und Bedingungen für das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Mediziner dargestellt.
Ungeachtet dieser Vielfalt lassen sich diese im Wesentlichen auf folgenden Kern reduzieren:
Ca. 20 Prozent der wegen ungesetzlichen Grenzübertritts strafrechtlich zur Verantwortung gezogenen Mediziner handelten auf der Basis einer feindlichen bzw. negativen Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR oder zu bestimmten Seiten derselben, wobei diese politische Einstellung sich zum Teil im Verlaufe eines längeren Zeitraumes entwickelte oder verfestigte.
Bei einem größeren Teil straffällig gewordener Mediziner war ein kaum ausgeprägter bzw. ein ungefestigter politischer Standpunkt festzustellen. Ihre Haltung war teilweise durch völliges Desinteresse am politischen Geschehen, Unverständnis für sich aus gesellschaftlichen Erfordernissen notwendig ergebende Maßnahmen sowie Überbewertung und ungerechtfertigte Verallgemeinerung bestimmter negativer Einzelerscheinungen gekennzeichnet. Sie vertraten auch eine solche Auffassung, dass es für einen Arzt zur Erfüllung seiner humanistischen Pflicht unerheblich sei, unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen er arbeite.
Der überwiegende Teil dieser Mediziner verneinte nachdrücklich das Erfordernis gesellschaftlicher Aktivität des Arztes, wobei diese ideologische Einstellung wesentlich für die Herausbildung des Tatentschlusses zum ungesetzlichen Verlassen der DDR war.
Konkreter Ausdruck dessen waren solche Auffassungen, dass
– ein Arzt auch ohne marxistisches Wissen ein hochqualifizierter Fachmann sein könne,
– vom Arzt eine unpolitische Haltung eingenommen werden müsse, da er verpflichtet sei, kranke Menschen unabhängig von deren politischen Positionen zu behandeln,
– die für die gesellschaftliche Arbeit verbrauchte Zeit nutzbringender zur Erfüllung fachlicher Aufgaben und zur persönlichen Weiterqualifizierung verwendet werden könne.
In diesem Zusammenhang wird auch die egoistische, vorrangig auf die Befriedigung materieller Interessen orientierte Einstellung eines großen Teils dieser Personen deutlich. Bei vielen straffällig gewordenen Medizinern spielte die Erwartung einer günstigeren beruflichen und persönlichen Perspektive nach einem ungesetzlichen Verlassen der DDR als Motiv eine dominierende Rolle. Das Niveau des Gesundheitswesens kapitalistischer Staaten wurde – meist in Unkenntnis der konkreten Sachlage – überbewertet und die Auffassung von der »Krisenunabhängigkeit« des ärztlichen Berufes vertreten und propagiert. Durch Kenntnis der relativ hohen Arztgehälter und Vermutungen über »Starthilfen« und sonstige »Förderung« von DDR-Ärzten, insbesondere durch die Behörden der BRD und Westberlins, waren diese Ärzte fest davon überzeugt, nach dem ungesetzlichen Verlassen der DDR ohne nennenswerte Schwierigkeiten Fuß fassen zu können. Eine bedeutende Rolle im Motivationsgefüge spielten auch Vorstellungen über uneingeschränkte Reisemöglichkeiten, höheren Lebensstandard und mehr »persönliche Freiheit«.
Das sozialistische Gesundheitswesen der DDR wurde nur von einem kleinen Teil der wegen versuchten ungesetzlichen Verlassens der DDR angefallenen Ärzte grundsätzlich negiert. Die Mehrzahl erkannte bestimmte Vorzüge und auch die seit dem VIII. Parteitag der SED1 erzielten positiven Veränderungen in diesem Gesellschaftsbereich an, überbewertete jedoch bestimmte Unzulänglichkeiten bezüglich
– der materiell-technischen Sicherstellung,
– der äußeren Arbeitsbedingungen,
– der materiell-finanziellen Lebensbedingungen,
– der Überbelastung des ärztlichen Personals,
– der Ausbildung, Qualifizierung und Weiterentwicklung und
– der Organisation, der Lenkung und Leitung des Gesundheitswesens.
Als weitere – im Zusammenhang mit dem Vorgenannten – motivbildende und tatentschlussfördernde Faktoren traten darüber hinaus eine Reihe persönlicher Probleme und Umstände in Erscheinung wie
– Befürchtungen hinsichtlich einer ungehinderten Entwicklung der eigenen Kinder aufgrund deren sozialer Herkunft,
– Wohnraumprobleme,
– Verärgerung über Nichteinhaltung von gegebenen Zusicherungen bezüglich der Tätigkeit und Weiterqualifizierung nach Abschluss des Studiums,
– Probleme der Partnerwahl und
– intensive Beeinflussung durch Verwandte und Bekannte in der BRD und Westberlin.
Ende Teil 1