In den Achtzigerjahren drang der Kalte Krieg in die letzten Winkel der sozialistischen Arbeitswelt - und hinterließ Spuren in Familien. Das bekamen auch Siegfried Wittenburg und sein Bruder im Westen zu spüren.
Dieding kehrte mit ernstem Gesicht von einer Besprechung mit dem Abteilungsleiter zurück. "Wir kriegen einen neuen Meister", berichtete er, "Fiete kommt. Dann weht hier an anderer Wind!"
Dieding war aktiver Christ, von Beruf Radartechniker und Stellvertreter des Leiters einer Servicestelle eines volkseigenen Rostocker Großbetriebs, die in einer ofenbeheizten Holzbaracke auf der Hohen Düne eine kleine Werkstatt unterhielt und zivile Schiffstechnik der Volksmarine betreute. Dieding war dorthin entsandt worden, weil er wegen seiner unverblümten Meinungsäußerungen für eine andere Servicestelle, bei der auch Schiffe aus dem NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) betreut wurden, als nicht tragbar galt.
Dieding war mein Kollege. Mich schickte man 1970 mit Beginn des 2. Lehrjahrs in die Holzbaracke auf Hohe Düne, weil ich ganz in der Nähe bei meinen Eltern wohnte. Ich lernte, UKW-Funk- und Radartechnik instand zu setzen, auf Masten und in Schiffsbäuche zu klettern, Öfen zu heizen, Werkstatt und Klo zu reinigen, Pilze für das Mittagessen zu suchen, Doppelkopf zu spielen und gelegentlich Bräu zu trinken, wenn es einen Anlass zum Feiern oder mal keine Arbeit gab. Wir empfanden uns weit abseits des real existierenden Sozialismus als eine Art Strafkolonie, der wir mehr positive Seiten abgewinnen konnten als unsere Kollegen, die auf den Westschiffen auf jedes Wort achten mussten. Die Löhne unterschieden sich nicht.
Auf Platt erzählte Dieding, was er von Fiete wusste: 1929 geboren, als Pimpf in der Hitlerjugend auf den Feind eingeschworen und als 16-Jähriger im Volkssturm auf die Amerikaner gehetzt. Nach der Befreiung und der Besetzung des Ostens durch die Rote Armee schwenkte er auf die rote Linie um. Der Betrieb schickte ihn als durchsetzungsstarken SED-Genossen zum Aufbau der Fischfangflotte auf die Färöer und nach Kuba. Warum Fiete nun die Leitung unseres kleinen und verwahrlosten Kollektivs in einer abseits gelegenen Welt übernehmen sollte, blieb jahrelang ein Rätsel.
Es dauerte nicht lange, und die erste Daumenschraube zog an. Auf Initiative der staatlichen Betriebsleitung forderte Fiete alle Kollegen auf, ihre Kontakte zu Verwandten im NSW, einschließlich Bundesrepublik, einzustellen sowie jede zufällige Begegnung mit Personen aus den Staaten des Klassenfeinds zu melden. Die Reaktionen der Kollegen waren zwiespältig: "Ich habe keine Verwandten im Westen", sagten die einen. "Ich möchte diesen Arbeitsplatz behalten", sagten die anderen, und unterschrieben unter leisem Protest die ihnen vorgelegte Verpflichtungserklärung.
Drei Kollegen verweigerten die Unterschrift: Dieding, mein Lehrfacharbeiter und ich. Denn ich hatte einen Bruder, der 1959 als der Älteste von uns vier Geschwistern über die Sektorengrenze von Ost- nach Westberlin flüchtete und es durch Qualifizierung im Rhein-Main-Gebiet zu Wohlstand brachte.
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