von Merkur » 7. Dezember 2011, 19:18
Einige Anmerkungen zu den Komplexen Schuldfrage, Zurechnungsfähigkeit und Zurechnungsunfähigkeit in der DDR.
Die Schuldfrage stellte sich im StGB der DDR als Frage der Zurechnung einer Tat zur individuellen Verantwortung eines Menschen in der Gesellschaft.
Ihre erste Voraussetzung war daher die Zurechnungsfähigkeit. Sie war im Gesetz entsprechend den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft, der Psychologie und der Strafrechtswissenschaft geregelt.
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit, die sich an die Verletzung bestimmter Regeln des menschlichen Zusammenlebens knüpft (der Strafrechtsnormen), setzte voraus, dass der Mensch fähig war, die Regeln und Anforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu befolgen. Er musste also in der Lage sein, seine Entscheidung zum Handeln oder zu einem Verhalten in Übereinstimmung mit den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt bestimmen zu können.
Diese Fähigkeit mussten sich alle Menschen erst im Prozess des allmählichen Hineinwachsens in die Gesellschaft erwerben. Dieser Prozess vollzog sich kontinuierlich und unterlag in bestimmten Phasen der altersmäßigen Entwicklung einer ständigen Vervollkommnung.
Die Zurechnungsfähigkeit wurde also die Fähigkeit eines Menschen betrachtet, sich durch soziale Normen in Gestalt von Rechtsnormen und ihnen zugrundeliegende soziale Anforderungen der Gesellschaft in seinen Entscheidungen und in seinem Handeln bestimmen zu lassen.
Schuldhaftes Handeln setzte die Fähigkeit des Täters voraus, eine gesellschaftsgemäße Entscheidung zu treffen und in seinem Handeln den sozialen Regeln und Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens entsprechen zu können. Die Voraussetzung der Zurechnungsfähigkeit musste vorliegen, wenn einem Täter sein gesellschaftswidriges bzw. gesellschaftsgefährliches Handeln zugerechnet werden sollte.
Die Zurechnungsfähigkeit war an bestimmte Voraussetzungen gebunden
Der Mensch muss in die Gesellschaft mit ihren staatlich sanktionierten gesellschaftlichen Normen hineinwachsen können
Der Mensch musste ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben.
Kinder waren bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres strafrechtlich nicht verantwortlich. Bei Jugendlichen zwischen dem vollendeten 14. Lebensjahr bis zum vollendeten 18. Lebensjahr waren hinsichtlich ihrer Schuldfähigkeit besondere Anforderungen zu beachten.
Rechtsbrecher, die älter als 18 Jahre waren, wurden grundsätzlich als zurechnungsfähig angesehen.
Das hatte für die Prüfung der subjektiven Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Sicherheits- und Rechtspflegeorgane insofern Bedeutung, als bei diesem Personenkreis entwicklungsspezifische Besonderheiten nur in Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen waren. Das bedeutete:
Für diesen Personenkreis nicht mehr positiv die Zurechnungsfähigkeit zu prüfen und nachzuweisen, sondern nur noch bei entsprechenden Anhaltspunkten die Zurechnungsunfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit (§§ 15,16 StGB der DDR).
Bei den Menschen musste eine entsprechende Erkenntnis- und Willensbestimmungsfähigkeit vorliegen, da es um seine Fähigkeit ging, sich in seinem Handeln von bestimmten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens leiten zu lassen.
Die Fähigkeit zu einem sozialgemäßen Verhalten war an wesentliche Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung gebunden. Dem Handelnden musste es möglich sein, die gegebene Situation richtig zu erkennen und unter Berücksichtigung seiner eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse zu beurteilen, die erwarteten Vorteile und die möglichen Risiken gegeneinander abzuwägen, die Art und die Resultate seines Verhaltens nach den gesellschaftlichen Verhaltensnormen, den moralischen Grundsätzen und den persönlichen Überzeugungen zu bewerten. Daraus resultierten Maßstäbe zur Beurteilung der Verhaltensweisen in der Richtung, das zu tun, was im gesellschaftlichen Interesse nützlich, konstruktiv und erfolgversprechend ist und das zu unterlassen, was Schäden und Gefahren auslösen konnte.
Die Entscheidungsfähigkeit schloss die Fähigkeit ein, in der gegebenen Situation und entsprechend den persönlichen Voraussetzungen in Übereinstimmung mit den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Notwendigkeit eines bestimmten Verhaltens zu erkennen und entsprechend dieser Einsicht zu handeln (Erkenntnis- und Willensbestimmungsfähigkeit bzw. Regulationsfähigkeit).
Zurechnungsfähigkeit lag nur dann vor, wenn beim Handelnden sowohl das Merkmal der Erkenntnis- als auch der Willensbestimmungsfähigkeit gegeben war. Die Zurechnungsfähigkeit musste zum Zeitpunkt der Tatentscheidung gegeben sein.
Die Zurechnungsfähigkeit ist grundsätzlich keine bleibende oder zumindest relativ beständige Eigenschaft des Menschen; sie ist vielmehr ein Kriterium der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgrund einer ganz bestimmten Handlung. Bei Störungen der Geistestätigkeit, Bewusstseinsstörung, im Zustand der Bewusstlosigkeit ist niemand in der Lage, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen. Beim Vorliegen bestimmter Umstände musste daher geprüft werden, ob der Handelnde zum Zeitpunkt der getroffenen Entscheidung zur Tat in der Lage war, eine solche verantwortungsbewusste Entscheidung zu treffen und dem nicht bestimmte Gegebenheiten entgegenstanden. Die Zurechnungsfähigkeit bzw. Zurechnungsunfähigkeit oder die verminderte Zurechnungsfähigkeit musste für eine ganz bestimmte Tat vorliegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Zurechnungsfähigkeit die subjektiv-individuelle Voraussetzung strafrechtlicher Schuld ist.
Erst wenn zweifelsfrei feststand, dass der Mensch, der strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, fähig war, sich bei seiner verantwortungslosen Entscheidung zum Handeln von den bestehenden Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens leiten zu lassen, wenn also feststand, dass er im Widerspruch zu diesen sozialen Anforderungen bei gegebener Fähigkeit gehandelt hat, konnte zur weiteren Prüfung der strafrechtlichen Schuld übergegangen werden.
Im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit konnten Sachverhalte auftreten, die begründete Zweifel an die Zurechnungsfähigkeit des Täters aufkommen ließen. Das konnten Umstände sein, die aus einer psychischen Störung oder Bewusstseinsstörung resultierten. Es konnten aber auch Täter sein, bei denen schwerwiegende abnorme Entwicklungen der Persönlichkeit zu psychischen Störungen mit Krankheitswert führten.
Ferner konnte in der vielfältigen Breite der Tätigkeit der Sicherheits- und Rechtspflegeorgane nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Kriminalisten/Mitarbeiter mit Sachverhalten konfrontiert wurden, die beinhalteten, dass das aggressive Verhalten eines psychisch Kranken zu einer konkreten Gefahr von Bürgern, also zu einer Gemeingefahr und damit zu einer Gefährdung der Sicherheit der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers führte. In bestimmten Fällen entsprach daher die äußere Verhaltensweise einer Person dem Tatbestand eines Verbrechens (oder auch einer Verfehlung/eines Vergehens), jedoch war in Folge der psychischen Erkrankung die Zurechnungsfähigkeit nicht gegeben. Die Praxis zeigte, dass psychisch Kranke, also zurechnungsunfähige Personen, beispielsweise als Tatmittler zur Begehung von Verbrechen ausgenutzt wurden oder dass sich zurechnungsfähige Täter nach der Begehung der Straftat auf Zurechnungsunfähigkeit zu berufen bzw. zurechnungsunfähige Täter ihren Zustand zu verbergen versuchten. In solchen und ähnlichen Situationen war es erforderlich, die speziellen Anforderungen zu kennen, die bei der Prüfung und Feststellung der Zurechnungsunfähigkeit (§ 15 StGB der DDR) und der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 16 StGB der DDR) durch die Sicherheits- und Rechtspflegeorgane zu berücksichtigen und welche gesetzlichen Voraussetzungen im konkreten Einweisungsverfahren zu beachten waren.
Eine spezielle Prüfung der Zurechnungsfähigkeit war nur dann erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Täter möglicherweise sowohl zum Zeitpunkt der Tat als auch für eine bestimmte Tat zurechnungsunfähig oder vermindert zurechnungsfähig war.
Für diese Umstände mussten also begründete Annahmen sprechen, d. h., es mussten begründete Zweifel darüber vorliegen, ob der Beschuldigte/Angeklagte bei der Tatausführung zurechnungsfähig war. Anhaltspunkte für begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit konnten sich tatsachenbezogen aus solchen Umständen ergeben, wie dem Persönlichkeitsbild des Beschuldigten, seiner Entwicklung (Krankheiten/Verletzungen, die ggf. auf eine Störung der höheren Nerventätigkeit hindeuten konnten; auffallende Persönlichkeitsveränderungen, die plötzlich und ohne erklärbare äußere Umstände auftraten, Motivation der Tatbegehung u. a. m.)
In diesem Stadium der Prüfung konkreter Anhaltspunkte durch den Kriminalisten ging es nicht um die Feststellung irgendwelcher Symptome einer Geisteskrankheit oder Bewusstseinsstörung, sondern einzig und allein um die aus begründetem Zweifel heraus erforderliche Veranlassung einer Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit. Die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen psychischen Störungen die ggf. vorliegen konnten, war Aufgabe der Psychiatrie und erforderte ein entsprechendes Gutachten. In derartigen Fällen – unabhängig vom Stand des Verfahrens war es gem. § 43 StPO der DDR möglich, den Beschuldigten/Angeklagten durch den Staatsanwalt oder das Gericht befristet in ein Krankenhaus für psychisch Kranke einzuweisen. Die Dauer der Einweisung zu Zwecke der Untersuchung durfte gem. § 43 Abs. 3 StPO der DDR höchstens 6 Wochen betragen. Bei Anforderung eines Gutachtens mussten dem Gutachter die Problemkreise mitgeteilt werden, über die der Gutachter im Interesse einer allseitigen Sachaufklärung Aufschluss vermitteln sollte.
Im Zusammenhang mit der Aufdeckung und Aufklärung von Straftaten war unabhängig von diesen Problemen folgendes bedeutsam: Vom Untersuchungsorgan war stets zu prüfen und begründet festzustellen, ob der Beschuldigte – abgesehen von den spezifischen Besonderheiten einer psychischen Störung – eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hatte, also die objektiven Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf der Grundlage der Verletzung des Tatbestandes eines Verbrechens/Vergehens erfüllt hatte. Das ergab sich aus dem § 99 StPO der DDR, wonach die Untersuchungsorgane die Pflicht hatten, auch strafrechtlich relevante Handlungen zurechnungsunfähiger Personen zu untersuchen.
Der Nachweis, ob Zurechnungsunfähigkeit vorlag, konnte nur durch das koordinierte Zusammenwirken zwischen Psychologen, Medizinern und Mitarbeitern der Sicherheits- und Rechtspflegeorgane auf der Grundlage eines Gutachtens erbracht werden. Entweder handelte es sich nachgewiesenermaßen von vornherein u zurechnungsunfähige Personen, wie bei bereits festgestellter und im Bezug auf diese Person gegebener Zurechnungsunfähigkeit oder sie musste durch eine gesonderte Untersuchung erst noch nachgewiesen werden. Der Prüfungsprozess erfolgte auf der Grundlage des StGB der DDR i. V. m. den entsprechenden Bestimmungen der StPO der DDR und unter Beachtung des Einweisungsgesetzes.
Selbstverständlich muss jeder seine individuelle Sicht bzw. Meinung haben und schreiben. Quelle: Augenzeuge.