Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Hier bitte ausschließlich Themen die sich mit der Berliner Mauer beschäftigen.

Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 9. September 2016, 09:38

Von Günter Litfin bis Chris Gueffroy

Man muss sich schon ziemlich anstrengen, um noch Reste der Mauer zu sehen, die von 1961 bis 1989 Berlin teilte. Einige Meter an der East-Side-Gallery, am Abgeordnetenhaus und ein paar Segmente an der Niederkirchnerstrasse. Dann gibt es Pflastersteine und Bronzestreifen, die in der Innenstadt den Verlauf nachzeichnen und den Mauerweg der dem Kolonnenweg folgt, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontollfahrten angelegt hatten.

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Foto: Trailrunning.de

Es ist der 52te Jahrstag des Mauerbaues. Etwa 160 km lang war der “antifaschistische Schutzwall” rund um Westberlin.

In Stalingrad belog der Tischler aus Leipzig im Auftrag der Roten Armee die deutschen Landser pausenlos per Lautsprecher. Dann wurde er Chef der DDR: Walter Ulbricht, der zwei Monate vor dem Mauerbau den Journalisten in die Blöcke diktierte:

“ Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!”

“Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen!”

220 Ultraläufer aus 17 Nationen stehen heute ( 2013 ) am Start der zweiten Ausgabe der 100 Meilen von Berlin, dazu 44 Staffelläufer.

Der Mauerweg ist kein Landschaftslauf, kein Stadtlauf und kein Trailrun. Er ist ein Gedenklauf, um an die Geschichte und den Verlauf der Mauer zu erinnern. Er geht mit jedem Schritt an die Nieren, steigert sich mit jedem Gedenkstein, kostet Überwindung und Mut. So wie den zahllosen Menschen damals, die alles riskierten, um der Diktatur zu entfliehen.

Hundertfünfzig Meter sind es vom Start an der Lobeckstrasse in Kreuzberg bis wir auf dem Streifen sind, an dem einst die Berliner Mauer stand.

Dreihundert Meter sind es bis zu dem Ort des Todeskampfes von Peter Fechter, der von Fernsehkameras der Nachrichtenagenturen bis zum letzten Atemzug dokumentiert wurde.

Exakt auf den Tag genau (17.August), vor 51 Jahren, da wird Peter in dem Moment, als er auf die Westseite springen will, angeschossen, fällt zurück auf Ostberliner Gebiet. Auf beiden Seiten bilden sich große Menschenansammlungen. Westliche Polizisten werfen Verbandspäckchen zu ihm hin. Die DDR-Grenzer bleiben tatenlos, keine erste Hilfe, nichts.

Die vom Checkpoint Charlie herbeigeeilten US-Soldaten glotzen nur. Ein US Hubschrauber kreist über der der Mauer. Unter “ Mörder! Mörder!”-Rufen stirbt Peter 50 Minuten lang und die Welt schaut zu.

Vertrauensverlust gegenüber den Westmächten, die nach dem Vier-Mächte-Status den sowjetischen Sektor jederzeit hätten betreten dürfen. Sie waren der Ansicht, die Mauer berührt nicht ihre Interessen. Transparente wie “Schutzmacht?” und “Ami go home!” Westberliner Polizei ging gegen die westlichen Demonstranten mit Wasserwerfern, Gummiknüppeln und Tränengas vor, errichtete selbst Stacheldrahtsperren vor der Mauer, auf westlicher Seite!

“Wer die Angehörigen unserer Schutzmächte in unflätiger Weise angreift…der hilft Ulbricht” so die Rede des Regierenden Bürgermeisters, der damit klar machte, wie die amerikanische Berlinpolitik aussieht.

20 Meter weiter Grenzübergang Checkpoint Charly. In wenigen Stunden stehen hier wieder “US-Soldaten”, die gegen Euros für Fotos posieren, es wird gelacht werden und jeder will auf´s Foto. Wenn in Amerika, Frankreich, England, China, Japan oder sonstwo diese lächerlichen Fotos präsentieren werden sagt man: “Oh, Berlin is really nice!”

27. Okt 1961, der dritte Weltkrieg droht, als sich hier sowjetische und amerikanische Panzer gefechtsbereit gegenüber stehen. Burkhard starb hier bei einem Fluchtversuch 1974. Drei DDR-Bürger durchbrachen 1986 diese Grenzsperre mit einem 7,5-Tonner. Hans Peter flüchtete 1989 zusammen mit seiner Tochter im Kofferraum, und …

….Atempause….. An jeder Ampel, denn es droht Disqualifikation bei Verstoß gegen die Verkehrsregeln, und jeder Laufkamerad könnte ein IM der Rennleitung sein, einen Rotlichtverstoß petzen, um im Klassement nach vorne zu rücken. Und so stehen wir brav davor und warten, auch wenn dieser Teil Berlins noch verschlafen ist. In der Wilhelmstrasse fahren eh keine Autos, fette, blau leuchtende Panzersperren verhindern das vor der britischen Botschaft. Politik sollte sich an dem Schutzwall messen lassen, mit dem sie sich umgibt.

Weiter geht unser Lauf entlang des ehemaligen “imperialistischen Schutzwalls”.
Brandenburger Tor, glänzt noch friedlich und touristenfrei in der aufgehenden Sonne.
Reichstagsgebäude, Bundeskanzleramt, Parlamentsgebäude.

Bernd fuhr am 12. August 61 nach Westberlin, um sich an der TU einzuschreiben. Dort sagte man ihm: entweder Abiturzeugnis oder drei Semester DDR-Uni nachweisen. Bernd war der Einzige, der am 16. August nach Ostberlin einreiste, er wollte die Bescheinigung aus Leipzig holen. Seine spätere Flucht über den Rennsteig bei minus 20 Grad habe ich in meinem Bericht vom Rennsteiglauf beschrieben.

Der Bahnhof Friedrichstraße war einer der wichtigsten Grenzübergänge zwischen Ost und West. Wolfgang, ein Westberliner, wurde verhaftet, als er seine Mutter im Osten besuchen wollte. Er sprang beim Verhör in Panik aus dem geschlossenen Fenster, verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Einige Grabsteine des Invalidenfriedhofs (1.WK) stehen wieder, die DDR hatte alles plattgewalzt.

Teil 2 folgt
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Re: Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 9. September 2016, 10:48

Grenzübergang Invalidenstraße, 12. Mai 63: Ein gepanzerter Reisebus rast auf den Grenzübergang zu. Die Flüchtlinge im Innenraum waren geschützt. Manfred, der Fahrer, hielt mit bloßen Händen die Stahlplatte vor die Windschutzscheibe. Die Stahlplatte ist nicht zu halten, wenn Pistolenkugeln auf sie treffen. Er lässt sie fallen, wird von den folgenden Kugeln durchsiebt und stirbt einen Meter vor der Freiheit.

Als der 14jährige Wilfried durch den Kanal flüchete, schossen acht Grenzsoldaten auf ihn, mindestens 121 Schuss wurde auf den Schüler abgegeben. Als er leblos im Wasser trieb, wurde weitergeschossen, da sie “nicht feststellen konnten, ob er täuschen wollte.” Ein DDR-Soldat starb durch einen Querschläger.


Am ersten VP ( km 6 ), der Gedenkstätte Günter Litfin, versorgt uns Jürgen.
Jürgen ist der Bruder von Günter Litfin, der 1961 als erstes Maueropfer zu beklagen war. Dieser Lauf ist Günter Litfin gewidmet, sein Konterfei ist auf der Finishermedaille. Ihm gilt unsere Schweigeminute bei der Siegerehrung morgen Nachmittag.

Günter wurde am elften Tag nach dem Mauerbau erschossen. Er war Schneider in Westberlin, nähte für die Großen des westlichen Showgeschäfts, Greta Garbo, Heinz Rühmann und all die anderen. Ein guter Job, er wollte nur zu seiner Arbeitsstelle zurück. Das ging nur schwimmend.

“Du schon wieder!” begrüßt mich Jürgen mit der Fluppe in der Hand. “Ja, ich schon wieder! Und nächstes Jahr laufen wir wieder im Uhrzeigersinn, dann trinken wir wieder einen.” Der 73jährige ist seit dem Tod seines Bruders Kettenraucher, hat den alten NVA-Wachturm gekauft und ihn zu einer Gedenkstätte für seinen Bruder umgebaut. “Es war doch alles nicht so schlimm“, hört er oft, wenn sich Ossis nur an die Erlebnisse am FKK-Strand erinnern. Dann redet er sich in Rage, um jedem einzelnen Besucher einzubläuen, wie verbrecherisch die DDR war.

Auch ich werde sagen: “Es war alles nicht so schlimm”, direkt hinter der Ziellinie. Ich meine dann damit diesen 100 Meilen Lauf, der mich an meine Grenzen und an die ehemalige führt.

Eine Uhr und 200 Mark bekamen die beiden Grenzer, die Jürgen erschossen haben, wegen “vorbildlicher Leistung”.

Steini, der tätowierte Souvenirverkäufer hat mich eingeholt. “Ente Cross”, so nennt er mich, weil ich diese wöchentlichen Pastaparties nicht ausstehen kann und vor einem Lauf heimlich fette Pekingente esse. Auch gestern, weswegen mir nicht nur die Erinnerungen an meinen emotionalen 100 Meilenlauf von Berlin 2011 eine drückende Nacht bereiteten.

Steini hat drückende Erinnerungen an den Mauerbau, Erinnerungen, die ihm erzählt wurden, denn er war ein Jahr alt, als seine Eltern am Abend des 13.August 1961 ins Theater gingen und ihn über Nacht zur Oma gaben. Am nächsten Morgen war eine Mauer zwischen Oma, ihm und seinen Eltern.

Anfangs war es für Westler kein Problem nach Ostberlin einzureisen, doch seine Eltern waren aus Brandenburg geflüchtet, das Risiko, bei Abholung des kleinen Steini verhaftet zu werden, war zu groß. Drei Tage dauerte es eine Westrentnerin zu finden, die es wagte, rüber nach Osten zu fahren, um sich als Steinis West-Oma auszugeben um ihn zurückzuholen. Seine Oma blieb im Osten, starb 2 Wochen vor dem Mauerfall.

Das “Unternehmen Reisebüro” brachte mit Identitätsaustausch die meisten Menschen in den Westen. Oft stellten sogenannte “Paßspender” aus dem Westen ihre Ausweispapiere für ähnlich aussehende Personen im Osten zur Verfügung. Zunächst unentgeltlich, dann stiegen die Preise. Das “Unternehmen Reisebüro” war schließlich in ganz Westeuropa unterwegs, suchte “Doppelgänger”. Die Passempfänger im Osten lernten holländisch, österreichisch oder belgisch, samt Ortskenntnissen ihrer “Herkunftsländer”. Irgendwann rafften das die Grenzer, machten kleine Markierungen in Pässe. Katz- und Maus-Spiel.

Zunächst war die Mauer ein Sammelsurium aus Friedhofs- und Gartenmauern, Stacheldraht und Häuserfassaden. Zwei Meter hoch sollte sie sein, nach jedem Fluchtversuch wurden die Anlagen verschärft. Es gab auch Soldaten als „Test-Flüchtlinge“. Also erhöhte man bis auf 4,2 Meter.

Die Strelitzer Straße war von mehreren Fluchttunneln durchlöchert. Der Tunnel 57 bekam seinen Namen, weil innerhalb zweier Nächte 57 Menschen durch ihn flohen. Als Grenzpolizist Egon zufällig den Hinterhof Strelitzer Str. 55 betrat, an dem der Tunnel 57 anfing, kam es zum Schusswechsel. Ein Genosse des MfS erschoss ihn versehendlich mit der Kalaschnikow.

Km 10, die ehemalige Mauer bog von der Gartenstraße scharf nach links in die Bernauer Straße. Fast wöchentlich bretterten Westautos von der Gartenstraße kommend mit Höchstgeschwindigkeit gegen die Mauer. Anklagender Selbstmord.

Bernauer Straße. Die Häuser gehörten zur SBZ, aber betreten konnte man sie nur vom Bürgersteig, der zur Westberliner Seite gehörte. Als die Eingänge zugemauert wurden, sprangen die Bewohner aus den Fenstern auf die Westberliner Seite. Dort standen Feuerwehrleute mit Sprungtüchern. Ida war nervös, konnte nicht warten, bis das Sprungtuch zur Stelle war. “Die Blutlache wurde mit Sand abgedeckt” hieß es in dem Bericht der DDR-Volkspolizei.

Die Bernauerstrasse war durchlöchert, überall wurde gegraben, von Westseite aus. Bronzeplaketten im Gehweg erinnern an die erfolgreichen Fluchten. Jeden Meter eine Plakette, Steini staunt.

Heute geht kaum noch jemand von Ost nach West, die Westseite hat kein Leben, nur noch Büros und Museen, die guten Kneipen sind im Ostteil.

Steini erzählt den Spekulationen, die nach der Wende um die Grundstücke hier begannen. Erzählmaterial für viele, viele Jahre Mauerweglauf.

Ehemaliger Grenzübergang Heinrich Heine Straße. Er diente der Abwicklung des Post-und Güterverkehrs. Viele Tote.

Teil 3 folgt
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Re: Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 10. September 2016, 08:35

VP 2 (km 11) Behmstraßenbrücke. Hier befand sich auf einer Brache im Niemandsland ein Gleis, welches von den der französischen Armee genutzt wurde, auf der westlichen Seite der Mauer, aber rechtlich gesehen auf Ostberliner Gebiet. Niemand weiß, warum der Westbürger Lothar hier spazieren ging. Er wurde mit gezielten Schüssen der Grenzer getötet. Wenige Meter weiter wurde Silvio erschossen, die Familie erfuhr erst nach der Wende von seinem Schicksal. Sein Leichnam gilt als vermisst.

Winfried flog mit einem selbst gebastelten Ballon hier über die Grenze, er starb auf Westberliner Gebiet beim Absturz.


S-Bahnhof Wollankstraße, die Mauerbögen waren vernagelt, ideal, um unauffällig einen Tunnel zu gegraben. Aber der ständige Bahnverkehr brachte ihn zum Einsturz.

Die S-Bahn gehörte zur Deutschen Reichsbahn (DDR), die Westberliner boykottierten das Verkehrsmittel. Ein teures Prestigeobjekt der DDR im Westen, und immerhin eine jahrzehntelange Niederlage der DDR.

Die Posten an den Verpflegungsstationen sind angewiesen, auf unsere Fitness zu achten. Attest war ja vorgeschrieben, schützt aber nicht vor der heutigen Hitze. Keule, der Europaläufer macht es vor: “Ich bin der Klaus, mir geht es gut!” Der Satz kommt gut an. Den wiederhole ich jetzt an jedem Posten, auch wenn mich fast alle der 300 Helfer wegen meines 2011er Berichtes kennen.

Am Friedhof Pankow begann ein sehr effektiver Tunnel unter einer Grabplatte. Erbauer war wieder die studentische Fluchthelfertruppe “Unternehmen Reisebüro”. Der Spiegel brachte 1962 einen Artikel mit der Überschrift ”Der dritte Mann wartete im Grab”. Die Pressegeilheit versperrte weiteren Flüchtlingen den Weg in den Westen.

VP 3 (km 16) S-Bahnhof Wilhelmsruh, dann VP 4 (km 22) Lübars. Steini sagt mir, dass es hier war, als ich 2011 im Tiefdelirium war. Irgendwo im Wald, schreckliche Erinnerungen an eine brutale Unterzuckerung. Der Lauf ging damals entgegengesetzt des Uhrzeigersinns, es war km 138. Wenn ein Arzt da gewesen wäre, dann hätte er mich aus dem Rennen genommen.

Heute, im Sonnenschein, genieße ich den Grenzstreifen. Es ist die pralle, geile Natur, die den Todesstreifen erobert hat. Die leuchtenden Farben, die prallen Früchte der Traubenkirschen, die langen Stauden der Goldähren, die mich vor zwei Jahren genervt hatten

“Hier war es!” ruft Steini an der Brücke, wo seine Kumpels sich durch den Stacheldraht gewühlt hatten. Sehr schöne Ecke, wo jetzt ein totgetrampelter Salamander auf dem Weg liegt. “Das Fließ” ist flach, man kann die kleinen Elritzen über dem sandigen Grund sehen. Die zarten Wasserpflanzen wiegen sich in dem 10 Zentimeter tiefen Wasser. Kaum zu glauben. In 4 Stunden Kleinarbeit kämpften die sich unter Todesangst durch dieses flache Naturparadies.

Adenauer hasste das flache, “sandige, Preußisch- Sibirien”. Er liebte Spalierobst. Ich auch. Besonders wenn ich durch seinen Garten in Bad Honnef lief und die süßen Birnen klaute.

Berlin wurde durch die Rote Armee erobert. Damit die West-Alliierten ihren Anteil gemäß den Verträgen der Alliierten erhalten, wurde Thüringen, Teile Sachsens und Mecklenburgs gegen Westberlin getauscht. Nach dem Mauerbau machte Adenauer den Vorschlag, diesen Tausch rückgängig zu machen. Die USA erwägten sodann eine Evakuierung der Westberliner. Da wohnten meine Eltern aber schon am Rhein.

VP 5 (km 28) Oranienburger Chaussee. An der Überquerung zur Schönfließer Straße, wieder der übliche Ampelstopp, vor uns McDonalds und genau davor die Todesstehle von Friedhelm. Es ist genau 52 Jahre her: Eine durchzechte Augustnacht. Friedhelm lief, ohne Fluchtabsicht, laut gröhlend Richtung Kolonnenweg, wo ich jetzt stehe. Er hatte diese perverse, unbegreifliche politische Situation satt, zerbrach randalierend die Holzlatten des Hinterlandzaunes, wurde festgenommen und an zwei Posten übergeben, die ihn bäuchlings auf den Boden legten. Einer der beiden Posten schoss Friedhelm, als er aufstand, um im Suff zu protestieren, aus Panik ins Bein. Nur ins Bein. Ein Daumen auf die pulsierende Beinvene, und er hätte überlebt.

In Glienicke gab es drei Tunnels, durch die 53 Menschen flüchteten. Alle drei befanden sich rund um den Entenschnabel, einer Straßenenklave, der wir dieses Jahr nicht folgen.

Als die Familie Aagaard aus den Sommerferien aus der Tschechoslowakei zurückkam, stand direkt an ihrem Haus die Mauer. Auf westlicher Seite der Mauer war ein Abhang, ideal für den Tunnelbau. Es wurde von der Innenseite der Terrassentür nach Westen gegraben, mit bloßen Händen. Der Sand wurde ins Haus getragen und in eiligst aufgezogenen Zwischenwänden versteckt, in Fahrradschläuchen, Fernsehschränken, Kissen, überall. Vom Wachturm konnte man den Aargaards ins Wohnzimmer gucken. Die ganze Familie flüchtete, die Oma wurde auf einer Luftmatratze durch den Tunnel gezogen.

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VP 6 (km 32) Naturschutzturm Hohen Neuendorf, Beate hat eiskaltes Bier. Ein lieblicher Garten unterhalb des Grenzturmes, sehr gemütlich. Krass dagegen die
Fotos vom ewig breiten Todessstreifen, unbegreifbar die weite Fläche, die nun wild bewachsen ist.

Hier beging Willi Selbstmord, als er von Grenzsoldaten verfolgt wurde. Niedrige Bäume voll mit Mirabellen. Die Früchte liegen leuchtend auf dem ehemaligen Todesstreifen und werden von Schmetterlingen vernascht .

Wird fortgesetzt
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Re: Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 10. September 2016, 09:05

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VP 10 (km 55) Schönwalde, danach die Exklave Eiskeller. Hier wurde für eine Brauerei Eis aus dem Falkensteiner See gelagert. 20 West-Einwohner lebten hier auf ihren Höfen, umschlossen von DDR Gebiet, nur mit einer 800 Meter langen Straße mit Westberlin verbunden. Im Gebiet Eiskeller lagen verschiedene DDR-Enklaven.

An einer Stehle das Foto eines Jungen aus Eiskeller, den ein Panzerwagen über die 800 Meter lange Straße zur Schule geleitet. Der Schulschwänzer hatte behauptet, DDR-Grenzer hätten ihn entführt, weswegen er nicht zur Schule gehen konnte.

Todesstehle neben Todesstehle an diesem Ort, dessen Grenzen für den Normalbürger undurchschaubar waren. Wir passierten die West-Exklave “Große Kuhlake” inmitten der DDR.


Ich muss jetzt Anja aus Dänemark ziehen lassen, denn ich kapiere nicht den Grenzverlauf, muss fragen. Rechte Straßenseite Kopfsteinpflaster und saubere, große Einfamilienhäuser mit Trampolin in den Vorgärten und Stempel des Bausparfuchses. Linke Seite dreckiger Grünstreifen mit geparkten Autos und zerbrochenen Gehwegplatten vor Kasernenhäusern. Verkehrte Welt. Wo ist Westberlin, wo ist DDR-Gebiet? Auf dem Grenzstreifen sind Prachtbauten entstanden. Die blühenden Landschaften? “Dort am Zaun des Vorgartens war die Mauer”, sagt mir ein alter Mann, der hässliche Bürgersteig ist Westberlin, die Wendeschleifen aus Kopfsteinplaster waren für die Westbusse, die hier umdrehten.

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Der Hahneberg ist die Aufschüttung einer westlichen Kiesgrube und überragte wunderbar die Grenzmauer. Steinhaufen aus Basaltsäulen und alten Bruchsteinen inmitten von Schafweiden sind nicht Reste des kalten Krieges, man legte sie für den Steinschmätzer, einer Vogelart der Fliegenschnäpperartigen an. Sehen bisschen aus wie Bachstelzen, hüpfen lustig über die Lauffstrecke und fangen die von mir aufgescheuchten Insekten.

VP 11 (km 61) Falkenseer Chaussee. Ulrich und Egon waren als Grenzsoldaten für die Fahrradstreife eingeteilt (1980). Der 19 jährige Egon schoss Ulrich in den Rücken und floh in den Westen. Der Schuss war tödlich. Egon verbüßte 20 Monate in Westhaft.

Nachtschicht und Alkohol waren der Grund, warum Helmut gegen 15 Uhr aus Versehen mit seinem Motorrad Richtung Grenzbereich fuhr. 10 Meter davor wendete er, fuhr zurück, ohne dass die Besatzung des Wachturmes eingriff. Ein anderer Grenzsoldat jedoch schoss dem wegfahrenden Helmut in den Rücken. Auch nach DDR-Strafgesetzbuch Mord. Der Todesschütze erhielt die Medaille für vorbildlichen Grenzdienst.

Grundsätzlich war es den Westberlinern seit 1952 verboten, das Umland zu betreten, die Stadtgrenze wurde schon damals mit Stacheldrahtzäunen abgesperrt, der Wechsel zwischen den Sektoren jedoch, also auch in den sowjetischen Sektor war weitgehend bis zum Tag des Mauerbaus ungehindert möglich.

Es gab Durchlässe, sogenannte Schleusen, durch die Agenten geschleust wurden.

VP 12 (km 68) Gartenlaube Pletscher, VP 13 (km 72) Pagel & Friends. Laut werde ich von den kleinen Mädchen empfangen: “Die Nummer 5, die Nummer 5!” “Die Nummer 5 ist Joe Kelbel!” ertönt es daraufhin aus dem Lautsprecher. “Was möchtest du trinken?”

Der Flughafen Gatow kam erst am 01.08.45 durch Gebietstausch zur britischen Zone. Wichtiger Ort für Fluchtflüge nach Westen. Eine Kunstpilotin namens Beate Uhse flüchtete von hier mit ihrer Siebel Fh104 nach Flensburg.

http://www.trailrunning.de/laufberichte ... eit/2173/4

Fortsetzung folgt
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Re: Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 11. September 2016, 07:20

Zum Zeitpunkt des Mauerbaus gab es keine Wehrpflicht in der DDR, wäre sonst ein zusätzlicher Grund gewesen, den Osten zu verlassen. Mit dem Bau der Mauer hatte sich die Sorge erledigt, 1962 wurde die Wehrpflicht eingeführt.

“Der bescheuertste Soldat konnte sehen, dass die Anlagen dazu da waren, die eigenen Bürger am Passieren der Grenze zu hindern”, berichtete ein Grenzer. Das Rittergut Groß Glienicke war damals richtig eingemauert, jetzt wunderbares Wochenenderlebnis. Aber das Kopfsteinpflaster! Wer mir viel Spaß für so einen Lauf wünscht, der kann mir auch geriebene Möhren vorsetzen und mir guten Appetit wünschen.

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Die Mauer stand direkt am Ufer, auf DDR-Gebiet, die eigentliche Grenze inmitten des Sees war durch Schwimmbarrieren gesperrt. Die alten und neuen Seeanwohner betrachteten das Ufer zu ihrem Grundstück gehörig, zogen eine neue Mauer, um Besucher vom Ufer fernzuhalten.

Die Potsdamer Stadtverwaltung entfernte 2010 die westliche Sperranlagen. Dennoch ist es nicht erwünscht, dass wir Läufer den Uferweg benutzen. Plakate “Freies Ufer” erzählen vom schwelenden Konflikt.

Wunderschöne Häuser, vor allem rechts oben auf der einzeitlichen Hangmuräne. An der Straße parken vierradbetriebene, hochhackige Autos, teils mit Kennzeichen aus dem Bonner Raum.

VP 14 (km 80) Schloss Sacrow Cut-Off-Limit 21 Uhr, es ist 17 Uhr) “Bis später, Joe!” rufen mir diejenigen zu, die hier hängen bleiben.

VP 15 (km 86) Die Revierförsterei Krampnitz ist am westlichsten Arsch von Berlin. Keine Infrastruktur, nur schöne Natur und der Reiterhof, in einer Bucht gelegen, die an Neuseeland erinnert. Unter dem Beifall der Zuschauer wird guter Reitsport präsentiert, edle Hufe werfen Staub wie Feuerwerk in die Lüfte der ringsum bewaldeten Bucht, während wir über schmerzhafte Vorkriegswege eiern.

VP 16 (km 93) Brauhaus Meierei, hier gibt’s Bier, eiskalt vom Fass. Da kommt die Nachricht, dass Maria gestürzt ist, scheiß Vorkriegswege, Blut, Gehirnerschütterung, Notarzt, Krankenhaus. HaWe ist der Held des Tages, er war den ganzen Tag mit Maria zusammen, begleitet sie nun ins Krankenhaus. 3 Stunden Beistand, Formulare und sonstiges, dann lässt er sich zurücktransportieren und finisht wenige Sekunden vor Zielschluss. Danke im Namen aller Läufer für dieses vorbildhafte Verhalten!

Über 186 Wachttürme gab es um Westberlin herum. Dort oben kochte man heimlich Kaffee oder zapfte die Stromleitungen an, mit denen der Grenzzaun belegt war, um Eier oder Buletten zu brutzeln.

Kurz vor der Glieniker Brücke über den Teltowkanal, die in die Enklave Klein Glienicke führt, entdeckt Rolf hinter einem Baum den fluchtbereiten Horst. Rolf fährt mit dem Kübelwagen den Kolonnenweg rückwärts, doch er wird von Horst erschossen. Rolfs Beifahrer lässt sich aus dem Fahrzeug fallen und erschießt Horst.

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Jetzt wird es politisch unübersichtlich. Links die Straße führt nach Klein Glienicke. Wir brauchen sie dieses Jahr glücklicherweise nicht zu laufen, die “Straße” ist Schrott. Wir nehmen die Abkürzung geradeaus, vorbei an den protzigen, breit geparkten Autos, deren Besitzer im goldumrahmten Bürgershof (1873) schlemmen.

Es ist das Fitzelchen hässlicher Geschichte, das den Schampus versüßt. Keiner der hier geparkten SUV´s würde die 300 Meter-Straße rund um Klein Glienicke fahren. Wer geht mit einem Finishershirt zu den Wight-Watchers?

Rechts, scharfe Kurve in den Wald. Der Weg ist hervorragend markiert. Manchmal bleibe ich stehen, suche kurz, denn die Mauer hatte keine sinnvolle Linie.

VP 17 (km 99) Gedenkstätte Griebnitzsee. Schon komisch, aber die Elemente, die hier zusammengetragen wurden, stammen aus Grabungen. Nicht die sechs Mauerelemente, die sind hierher befördert worden, sondern die Fundamente des Wachturms, die Großpflastersteine.

Der Westen ist jetzt im Norden, im Süden ist Steinstücken, (400x300 Meter) eine der berühmtesten Exklaven.

1,2 Kilometer lang war die Straße, die von Westberlin durch die DDR nach Steinbrücken führte. Dort wohnten einige hundert Westberliner. Wasser und Strom lieferte die DDR, der Telefonanschluss stammte aus Vor-Mauerzeit. Wir nehmen die Abkürzung über die Kohlhasbrücke, laufen den Königsweg bis zum Ende.

Zum Ortsteil Albrechts Teerofen laufen wir dieses Jahr nicht, es ist ein schmaler Westberliner Streifen, dessen Südende an der Autobahn endet, dort war Checkpoint Bravo.

Übergangsstelle Drehwitz/Dreilinden, Weihnachten 1962: Minus 20 Grad, im Scheinwerferlicht erscheint nach kilometerlangem Anlauf ein röhrender Koloss mit stählernem Rammbock. Zwei Familien mit Kindern sitzen in dem zum Panzer umgebauten Bus, Baujahr 1941. Zwei Kilometer breit war hier der Grenzstreifen. Unter dem Kugelhagel der Grenzer gelang den acht Personen in einem infanalischem Gedröhn der Motoren der Durchbruch in den Westen.

http://www.trailrunning.de/laufberichte ... eit/2173/5
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Re: Gedenklauf an die Geschichte und den Verlauf der Mauer

Beitragvon Interessierter » 11. September 2016, 07:34

Hier die letzte Folge:

VP 18 (km 108) Königsweg. Der Königsweg wurde 1730 durch König Friedrich Wilhelm mit königlichen Geldern angelegt, daher der Name; ist scheiss lang und raubt dir die Freude am Lauf.

Um zum VP 19 (km 112) Sportplatz Teltow zu gelangen, laufen wir weg vom Mauerweg, auf der anderen Seite des Teltowkanals Richtung Kleinmachnow. Ätzend, denn auf der anderen Straßenseite kommen mir die schnelleren Läufer entgegen, die schon den VP 19 genossen haben. Cut-Off ist dort 03:00 Uhr, es ist schon dunkel, also etwa 21:30 Uhr. Ich stelle mich unter die Dusche. Zum dritten Mal frische Klamotten. Etwas Luxus muss sein, ich bin nicht auf der Flucht.

VP 20 (km 119) Osdorfer Straße, Es gab für Fluchthelfer Blanko-Druckbögen für westliche Personalausweise. Ob die Bundesrepublik dort mit verdiente? Viele Inhaftierte wurden jedenfalls von der Bundesregierung freigekauft. Auch Horst Müller, der verhaftet wurde, weil er im Prager Flughafen, dort wo Westdeutsche und Ostdeutsche im Transitraum zusammenkamen, westdeutsche Pässe verkaufte.

Es gab vier Versuche, die DDR mittels Flugzeugentführung zu verlassen. Christel und Eckard begingen nach dem gescheiterten Versuch in Schönefeld Selbstmord.

Es ist Sommer, überall wird gefeiert. Links, rechts, überall in den Dörfern jenseits des ehemaligen Grenzstreifens pulsiert das Leben. “Sie hatte Klasse, gar keine Frage, ich lutschte an ihrem Zeeehehee!” Manchmal nervig, wenn schlechte Musiker gute kopieren, oder Feuerwerk meinen Halbschlaf stört. Auch Duft von Gegrilltem und das Lachen der Mädchen sind nicht förderlich für einen Lauf auf ekligem Grenzstreifen, der im Scheinwerfer so verschwimmt, dass man seekrank wird. Der Radbegleiter vor mir schiebt sein Rad, während sein Laufschützling “läuft”. Ich denke mir, ich bin schneller, aber das rote Licht verschwindet langsam.

VP 21 (km 124) Lichtenrade, schnurgerader Grenzstreifen, super gut zu laufen. Ich rechne mir eine wunderbare Zielzeit aus, da…. SCHEISSE ! FUCK ! Trete ich wieder volle Kanne gegen einen Stein. Noch nie habe ich so geschrien. Unvorstellbarer Schmerz. Ich schicke einen Laufkameraden weg, als er mir helfen will. Ich will jetzt allein sein.

Ganz, ganz dunkles Zonenrandgebiet, dunkelstes Ende von Schöneberg, brutalstes Kopfsteinpflaster, ich humpele hinüber auf die andere Straßenseite, damit mich kein Läufer findet.

Anhand der Straßenbeleuchtung kann ich erkennen, ob ich auf ehemaligen Westberliner Gebiet oder auf ehemaligem DDR-Gebiet liege: der Osten hat elektrische Laternen, der Westen setzte auf Gaslaternen, um im Falle eines Embargos unabhängig zu sein. Denn das Gas wurde aus Kohle hergestellt, die man in großen Mengen bunkerte. Ich starre in eine Gaslaterne und zähle die Mücken. Westmücken also.

VP 22 (km 129) lange Zeit später. Kirchhainer Damm. Akribisch wurde jede Grenzverletzung von den DDR-Grenzern notiert: “Vier West-Berliner forderten zur Fahnenflucht auf. Danach zogen zwei Personen die Hosen herunter und zeigten unseren Posten ihr entblößtes Gesäßteil.”

Die Fernschreiber der Regimenter ratterten Tag und Nacht, denn jede Kontaktaufnahme könnte Teil der psychologischen Kriegsführung des Gegners sein. Die Nerven lagen blank. Bei mir auch, ich will weiter.

VP 23 (km 134) Buckower Damm, ich kann wieder lachen. “Ich hab mich für euch hübsch gemacht” sagt mir die Süße, die mir in einer Art Trachtenzeug soweit entgegenläuft, dass mir der Mund offen bleibt: “Willkommen in Groß Ziethen, mein Schatz!” Ich weiß zwar nicht, wo Groß Ziethen ist, aber es gibt Schmalzbrote. “Mit Hügel?” ”Mit Hügel und viel Salz!” Mario pennt, ein Auge offen; hätte nie gedacht, das er noch einmal weiterläuft.

Wir nehmen eine Abkürzung durch Rudow, VP 24 (km 140). Hier begann der 500 Meter lange US-Spionagetunnel, der auf DDR-Seite die Telefonkabel der Sowjets anzapfte. 440.000 Gespräche wurden in 11 Monaten, bis zur Entdeckung aufgezeichnet. Die Tonbänder wurden täglich in die USA zur Auswertung geflogen.

VP 25 (km 144) Stubenrauchstraße. Hier starb Siegfried, ein Angehöriger der Grenztruppen, als er von drei Flüchtenden mit einer Eisenstange erschlagen wurde.

Die Jungs an diesem VP fragen mich, was nach mir kommt. “Nichts! Wirklich nichts!” Ich habe seit Stunden niemanden mehr gesehen. Die kalte Bratwurst mag ich nicht.

Gedenkstehle für Chris Gueffroy, letzter getöteter Flüchtling (5.02.1989). Seine Mutter wird mir in wenigen Stunden die Finishermedaille umhängen, dazu die Back-to-Back-Medaille für die zweimalige 100-Meilen Umrundung.

Aber zunächst geht es vom Teltow-Kanal zum Britzer Verbindungskanal. Der Schrecken der Nacht ist vorbei, VP 26 (km 150) Sonnenallee.

Auch durch Abwasserkanäle wurde geflüchtet. Die Freudenschreie des letzten Flüchtenden nach dem Bad in westlicher Jauche war jedoch so laut, dass der Tunnel entdeckt wurde.

Es gab einige Kanalfluchten. Der Esplanade-Tunnel mit seinem sauberen Regenwasser war sehr begehrt. Es bildeten sich regelrecht Versammlungen, so dass Durchkriech-Quoten per Los erteilt wurden.

VP 27 (km 156) Schlesischer Busch. Die Mädels hier am Verpflegungsposten sind gut drauf. Es ist etwa 8:45 Uhr, die Musik wummert von unten aus dem Kanal, wo die Fledermäuse die Nacht in den Bars verbracht haben. Rechts der Grenzturm.

“Entsorge den Kaffebecher im Mülleimer!” Ich glaub´s ja nicht! Kreuzberg ist voller zersplitterter Bierflaschen und Volljunkies, die auf die Straße kotzen, und ich soll meinen Kaffebecher vorschriftsmäßig entsorgen? Mir droht Disqualifikation, wenn nicht.

Die Schlesische Straße pulsiert, da kommen wirklich noch um diese Uhrzeit gutaussehende Töchter aus den Clubs. Ich kann keine Markierung erkennen, hier ist alles vollgeklebt und vollgepappt, abgerissen und vollgesifft. Ein Tropfauge vor der Kneipe mit dem passenden Namen “Kraut und Rüben” lallt: “Da lang!“

Eine Bierflasche zerplatzt klatschend vor meinen Füssen. “Joe, du bist so verfickt coooool!” Anscheinend wirke ich erotisch, wenn mein Name auf der Startnummer steht. Dieses Bier hätte ich eh nicht mehr getrunken.

Der Westberliner Heinz Müller verirrte sich unter Alkoholeinfluss im Sperrstreifen. Zwei Feuerstöße töteten ihn. Der Westen erfuhr erst nach der Wende von seinem Schicksal.

Wolfgang besorgte sich kurzerhand einen echten Panzerwagen der NVA und raste mit Volldampf die Stalinallee (jetzt Frankfurter Allee) hinunter, durch die Mauer. Es wird geschossen, ein Westpolizist erhält einen Querschläger, Feuerschutz. Wolfgang überlebt mit Loch in der Brust.

Die Oberbaumbrücke stinkt gewaltig nach Pisse, es ist keine Laufmarkierung im Dreck der zerbrochenen Bierflaschen und zerrissenen Plakatreste zu erkennen. Rechts scheißt jemand gegen den Pfeiler, von links hält mir jemand ne versiffte Bierflasche entgegen. Ein Zwischending von Mann und Frau lobt mich über den Klee für meine Leistung und versucht mich zu küssen, während sich Glasscherben in meine Sohlen bohren. Oh Berlin, du kannst ganz schön hässlich sein!

Vorbei geht es an der East-Side Galerie. Originalmauer, 1,3 Kilometer lang. Kurioserweise von der Ostseite bemalt, denn die Malerei stammt aus den Jahren 1989/1990. Die Motive werden immer wieder mutwillig überkritzelt. 2009 wurden sie weitgehend originalgetreu neu gemalt. Dies ist eine Hinterlandmauer. Aufgrund der Nähe zur Spree erhielt sie auch die Betonröhre, damit man oben keinen Halt hat. Deswegen sieht sie optisch wie die Vordere Mauer aus.

Die eigentliche Grenze lag am Kreuzberger Ufer, nicht inmitten der Spree. Wer hier am Kreuzberger Ufer badete, der wurde erschossen. Hier war es, wo die badenden Kinder ertranken, 10 bis 13 Jahre alt. Erwachsene wagten sich nicht ans Ufer, da die Ostseite mit Kalaschnikows auf sie zielte. Die Eltern durften die Leichen ihrer Kinder mit Westmark zurückkaufen.

Es geht wieder hinüber nach Kreuzberg. An der Köpenicker Str kommt mir der 100 Meilen Coach Michael Irrgang entgegengefahren, er muss einen seiner Schützlinge auf die Beine helfen.

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Vorbei geht es am “Baumhaus an der Mauer” von Osman Gecekondu. Er gründete seinen Guerilla-Garten auf einer Verkehrsinsel, die zur DDR gehörte. Die Mauer sparte aus Kostengründen die Insel aus. Er bekam mehrfach Besuch von Grenzsoldaten, die dafür eine Tür in der Mauer nutzten. Später erhielt Osman sogar die Genehmigung des Zentralkomites der SED für die Nutzung.

Die St. Thomaskirche ist beeindruckend groß, Kontrast zu den alten NVA-Lastwagen und DDR-Bauwagen, die das schmuddelige Bild der Rollheimer-Siedlung am Mariannenplatz prägen.

Langsam begebe ich mich auf die Zielgerade. Ich habe zum zweiten Mal den längsten Lauf meines Lebens geschafft. Mit dem Bericht über diesen Lauf habe ich eine wichtige Aufgabe übernommen. Meine Eindrücke und Emotionen bei diesem Lauf rund um die deutsche Hauptstadt bleiben bewusst hinter der Geschichte der Mauer mit ihren Grausamkeiten. “Wenn wir die Geschichte vergessen, holt sie uns ein.”

Von 220 Einzelstartern erreichen 180 das Ziel. Ich liege mit 26:48 Stunden auf Platz 117, erhalte zusätzlich die Back-To-Back Medaille.

Es gewinnen Peter Flock (15:53) vor Federico und Giovanni aus Italien. Bei den Damen: Annette Bahlke (17:13) vor Kerstin Fenzlein und Martina Schliep.

Wer den Mauerweg innerhalb von 24 Stunden schafft, erhält die begehrte Gürtelschnalle

http://www.trailrunning.de/laufberichte ... eit/2173/6

Für mich als " Nichtberliner " sind das sehr interssante Berichte und vor allem auch sehr, sehr viele beeindruckende Fotos, die man durch einen Klick auf die Links, auf 6 Seiten betrachten kann.
Interessierter
 


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