Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten

Hier bitte ausschließlich Themen die sich mit der Berliner Mauer beschäftigen.

Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 17. Juli 2011, 10:23

Leben retten unter Beschuss

Auf dem Straßenpflaster schlagen Farbbeutel auf. Hosen und Jacken der Feuerwehrmänner werden bespritzt. Doch das ist nichts, von dem sich die jungen Uniformierten aufhalten lassen würden. Die 16 Feuerwehrmänner aus West-Berlin ziehen unbeirrt das Sprungtuch stramm.

Der Mann, der einige Meter über ihren Köpfen im Fensterrahmen hockt, zögert nur noch kurz, bevor er sich einen Ruck gibt und springt - voller Angst und Hoffnung.

Szenen wie diese in der Harzer Straße spielen sich für Werner Grützmann in den Tagen und Wochen nach dem 13. August 1961 mehrfach und ähnlich ab. Grützmann ist zu dieser Zeit Oberfeuerwehrmann in West-Berlin. Einige Male muss er anrücken, um Flüchtenden, die von Ost nach West wollen, beizustehen. Aus den Obergeschossen der schon verrammelten Grenzhäuser in die Freiheit springen sieht leicht aus - und kann doch ohne die Unterstützung der Feuerwehr tödlich enden. "Wurden wir zu diesen Einsätzen gerufen, sind wir stets ohne Blaulicht und Fanfare gefahren. Es kam nicht selten vor, dass uns trotz aller Vorsicht schon die Volkspolizisten der DDR auf der anderen Seite erwartet haben."

Dann bleibt es nicht bei den von den Dächern geworfenen Farbbomben. Bei einigen Hilfsaktionen fallen auch Warnschüsse - abgegeben von den Vopos. "Gezielt auf uns angelegt haben die aber nicht, eher in die Luft geschossen", so sein Eindruck. "Zum Glück waren wir auch nicht auf uns allein gestellt. Männer der West-Berliner Polizei hielten uns jedes Mal den Rücken frei. Haben teils auch mit gezückter Waffe in der Hand Posten bezogen." So ist die Stimmung an der Grenze Mitte August 1961: Polizei muss Feuerwehrleute schützen, die verzweifelten Menschen helfen wollen.

Grützmann kennt beide Gesichter Berlins. In Friedrichshain geboren und aufgewachsen, zieht er im Alter von zehn Jahren mit seiner Mutter zum Stiefvater nach Neukölln. Die Grenzen und ideologischen Schranken, die die Stadt mehr und mehr zerschneiden, nimmt der Junge zwar wahr. Aber er lässt sich davon nicht aufhalten. Als er die Chance hat, eine Ausbildung als Werkzeugmacher in Ost-Berlin zu bekommen, greift er zu. "Die Betriebskantine im Osten bot eindeutig das bessere Essen", erinnert sich Grützmann schmunzelnd. "Die Russen haben zu dem Zeitpunkt nicht schlecht für die Berliner in ihrem Sektor gesorgt", ist sein Eindruck. Dass ein Teil seines Lehrlingsgehaltes in Ost-Mark ausgezahlt wird, ist für Grützmann, Jahrgang 1931, kein Problem. Lebensmittel, auch andere Waren des täglichen Bedarfs, kann der Lehrling für wenig Geld in Ost-Berlin unproblematisch besorgen.

Mit typisch jugendlichem Hang zur Provokation eckt Grützmann an seiner neuen Arbeitsstätte allerdings wiederholt an. Als die DDR-Zeitung "Junge Welt" ein Bild von Erich Honecker, dem damaligen Vorsitzenden der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) und späteren DDR-Staatschef, abdruckt, schneidet der Geselle kurzerhand das Foto aus, heftet es an die Wand seines Betriebskabuffs und setzt dem "Genossen" ein selbst gefaltetes "Teufelshütchen" auf. Seine Kollegen lassen beides hängen.

Wenige Jahre später drückt Grützmann noch einmal die Schulbank und lässt sich in West-Berlin zum Feuerwehrmann ausbilden. Ab 1956/57 fährt er seine ersten Einsätze. Bald bestimmen Selbstmörder, Unfallopfer, Ermordete, Verletzte und alle Arten von Bränden seinen beruflichen Alltag. Dass Grützmann das Zeug zum guten Feuerwehrmann hat, steht schnell fest. "Benötigt jemand Hilfe, darf man sich nicht von eigenen Emotionen aufhalten lassen, sondern muss schnell reagieren", sagt er. Das kann er, und so wird er schon nach kurzer Zeit zum Oberfeuerwehrmann befördert. "Die Arbeit bei der Feuerwehr war für mich immer mehr als nur ein Broterwerb. Das ist eben kein Beruf, sondern eine Berufung", bilanziert der Rentner heute nach mehr als 35 Jahren als Lebensretter und Brandbekämpfer.

Ein Einsatz an der Grenze sticht aus Grützmanns Erinnerungen heraus. Am Teltowkanal, 27. Dezember 1962. "Bitterkalt war es. Die Temperaturen lagen bei minus 11 Grad ", weiß er noch. In dieser Winternacht werden die Männer der Feuerwache Britz (heute Buckow) alarmiert. "An der Späthbrücke stationierte Polizisten hatten die Hilfeschreie eines Mannes gehört und vermuteten ihn irgendwo verletzt am Ufer des Teltowkanals." Grützmann und seinen Kollegen ist klar, dass es sich eigentlich nur um einen gescheiterten Fluchtversuch handeln kann.

"Um die Grenzsoldaten auf der anderen Seite des Kanals nicht aufzuschrecken, haben wir uns bewusst ohne Handscheinwerfer auf unserer Seite durch die Uferböschung geschlagen", sagt Grützmann. Nicht eine Sekunde zögert er, als er eine hilflose Person auf der Kanalseite gegenüber liegen sieht. Er lässt ein Schlauchboot zu Wasser. Gemeinsam mit einem jungen Kollegen paddelt er vorsichtig ans andere Ufer. Das Bild der Wassertropfen, die an der Schlauchboothülle fast sofort zu kleinen Eiszapfen gefrieren, steht vor seinen Augen. "Ich wusste, wenn wir nicht sofort reagieren, kann der Mann sterben."

Die Handgelenke des Mannes, der auf der Böschung liegt, sind verletzt. Grützmann tippt auch auf Prellungen an seinem Körper. Mit Hilfe der beiden Feuerwehrleute kann er sich trotz allem fast allein ins Schlauchboot ziehen. Dann stößt das Boot leise ab - ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Bald ist klar, was geschehen ist: Der 36-jährige Horst K., von Beruf Artist, wollte zu seinem Vater fliehen, der am Hermannplatz wohnte. An der damals noch nicht gekappten Hochspannungsleitung über den Teltowkanal versuchte er sich entlang zu hangeln. Doch irgendwann verließen ihn die Kräfte, er stürzte ab. "Sein Glück, dass er auf die weiche Uferkante gefallen ist. Beim mindestens acht Meter tiefen Fall hätte er sich ohne weiteres das Genick brechen können", sagt Grützmann. Er hat genug Stürze gesehen, um das zu beurteilen.

Das Happy End bleibt allerdings aus. Ein halbes Jahr später erfahren die Retter, dass Horst K. in den Osten zurückgekehrt sei. "Er scheint auch im Westen keinen Fuß auf den Boden bekommen zu haben", glaubt Grützmann. Erst 48 Jahre nach dem Vorfall am Teltowkanal erfährt der einstige Helfer die Details. "Aus Sehnsucht nach Sohn und Frau, die noch in der DDR lebten, ist er zurückgegangen. Er kam für zwei Jahre ins Gefängnis, bevor er schließlich von der Bundesrepublik freigekauft wurde." Ein Schicksal, so typisch für diese Zeit, sagt Grützmann.
http://www.morgenpost.de/printarchiv/be ... chuss.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 18. Juli 2011, 15:10

Für den Mauerbau 16 Stunden Beton transportieren

Sein ganzes Leben hat die DDR geprägt: Dieter Weber war am 17. Juni 1953 dabei, beim Mauerbau und bei der Großdemonstration am 4. November 1989

Urlaubsende, endlich. Dieter Weber ist erleichtert. Der 13. August 1961 ist sein letzter Tag auf Usedom. Nach einer Woche Dauerregen in Bansin freut er sich fast auf seine Arbeit beim VEB Bautransporte. Der 23-Jährige schnürt mit seinen Freunden gerade die nassen Zelte zusammen, als er im Radio die Nachrichten hört und erschrickt. Die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin wird abgeriegelt?

Schon am nächsten Morgen wünscht er sich an die Ostsee zurück. Der junge Kraftfahrer, der sich immer geweigert hat, in die SED einzutreten, muss nämlich mittun beim Mauerbau. „Als ich in Oberschöneweide meinen Laster holen wollte, um am Bau des Schönefelder Kreuzes weiterzuarbeiten, bekam ich einen anderen Auftrag. Ich sollte Beton vom Mischwerk in Friedrichshain zur Chausseestraße in Mitte bringen.“

Dort, nahe dem U-Bahnhof Schwarzkopfstraße, geht der 73-jährige Rentner ein halbes Jahrhundert später über einen kleinen Parkplatz. „Da stehen ja noch Mauerteile!“ Wenige Meter vor den mit Graffiti besprühten Segmenten schweift sein Blick suchend über den Boden. Nur ein paar Sekunden. Dann zeigt er auf eine längliche, unebene Stelle. „Hier, der helle Betonstreifen, der ist von uns. Das Fundament der Pfosten des Stacheldrahtzauns.“

Drei Tonnen schafft sein Laster, etwa zwei Kubikmeter Beton, normalerweise. „Aber bald quetschte ich noch einen halben Kubikmeter mehr drauf, um den Plan zu erfüllen, sonst hätte ich die Jahresendprämie nicht bekommen. Schließlich lief alles auf Akkord. Lohn der Angst sagten wir immer.“ Zwölf Stunden dauert sein normaler Arbeitstag. Beim Mauerbau fahren Weber und seine Kollegen bis zu 16 Stunden. Bis zur Erschöpfung pendeln sie zwischen Friedrichshain und Mitte. „Jeder von uns solange, wie er eben gerade konnte.“ Die Volkspolizei hat an der Chausseestraße Zelte aufgestellt. „Dort schenkte man zum Durchhalten Tee mit Rum aus. Das heißt, eher war es Rum mit Tee.“ Leicht beschwipst sei er meistens gewesen auf seinen Touren. „Dazu bekamen wir Unmengen Fliegerschokolade mit viel Koffein.“ Zwei Tage geht das so, dann kehrt wieder der Alltag ein: Das Schönefelder Kreuz wird weitergebaut. Weber ist froh, dass er nicht mehr an die Grenze muss.

Das SED-Regime spannte Dieter Weber zum Mauerbau ein. Acht Jahre zuvor aber war er schon auf der Stalinallee mitmarschiert, als 14-jähriger Maurerlehrling am 17. Juni 1953. „Ich hatte gerade angefangen zu lernen, baute mit am neuen Bettenhaus im Krankenhaus Friedrichshain.“ Morgens rufen die Gesellen dazu auf, sich an einer Demonstration zu beteiligen. Schon länger schwelt in der DDR eine wirtschaftliche und politische Krise. Nun sind auch noch die Arbeitsnormen um zehn Prozent erhöht worden.

Die Stimmung ist aufgeheizt. Dieter Weber hat Angst, weigert sich mitzugehen. Die Gesellen drohen dem schmächtigen Jungen. „,Wenn du nicht mitmachst, hauen wir dich mit dem Weichmacher tot!' So nennt man das Werkzeug, mit dem man den Mörtel umrührt. Da gab ich nach.“ Aus allen Bezirken strömen Zehntausende ins Regierungsviertel. Als die Arbeiter an der Wilhelmstraße ankommen, hat der Lehrling seine Furcht längst vergessen. Mit Steinen wirft er auf die Panzer, die plötzlich vor ihm stehen. „Dann hörten wir, vorne am Brandenburger Tor habe es Tote gegeben.“

Der Zorn entlädt sich nun noch gewaltiger. Panik erfasst Dieter Weber. Er kämpft sich durch die brodelnde Menschenmenge, flüchtet sich an der Leipziger Straße in einen Hauseingang. Von dort geht es heim zu seiner Mutter. Er ahnt nicht, dass er gerade vor dem Gebäude stand, in dem er bald arbeiten wird, als Fahrer des Presseamtsleiters beim DDR-Ministerpräsidenten.

Mit dem Mauern ist es nämlich schon 1954 vorbei. „Ich hatte immer wieder Sehnenscheidenentzündungen.“ So wird er zunächst Hilfsarbeiter beim Verlag Neues Deutschland, fährt mit Lastwagen nach Sachsen, um Druckpapier nach Berlin zu schaffen. „Ich hatte ja mit 15 Jahren noch keinen Führerschein, aber einer der Fahrer ließ mich auf der Autobahn immer ans Steuer. Der hielt dann ein Nickerchen.“ Erst kurz vor Berlin wechselten die beiden die Plätze.

Und dann landet er an der Leipziger Straße, in jenem Haus, in dessen Eingang er sich am 17. Juni geflüchtet hatte. „Vier Jahre nach dem Aufstand suchte man dort Kurierfahrer. Aber bald bekam ich einen viel besseren Posten: Der Fahrer des Presseamtsleiters ging in Rente, und man wollte es mal mit mir versuchen.“ So fährt der 19-Jährige stolz eine sowjetische Limousine. Meist geht es zum ZK der SED oder zur Volkskammer.

Die Kollegen sind nicht nur neidisch, sondern auch neugierig. „Wie alt bist Du? Wen fährst Du denn? Bist Du Genosse?“ Weber antwortet auf die letzte Frage stets ausweichend. Sein Chef lässt ihm einige Monate Zeit, doch Weber denkt nicht daran, in die SED einzutreten. Im März 1958 muss er kurz nach der Rückkehr von der Leipziger Messe die Aufgabe an einen „Genossen“ abtreten. „Auftrag des ZK der SED“, sagt der Presseamtsleiter. Sein Auto müsse ein Parteimitglied steuern. Aus der Traum. Weber kündigt noch am selben Tag. Die nächsten drei Jahre sitzt er bei der Grenzpolizei hinter dem Steuer, diesmal fährt er Armeelaster, chauffiert aber auch einen Hauptmann.

Als er mit seiner Freundin ins Kino geht, trifft er ausgerechnet seinen Vorgesetzten. „Ich hatte Zivilkleidung an, obwohl wir Grenzpolizisten eigentlich immer Uniform tragen mussten. Der Hauptmann hat mich furchtbar zusammen gestaucht. Darauf sagte ich ihm, er sehe in seiner Offiziers-Uniform ja adrett aus, aber meine hässliche, khakifarbene Grepo-Kleidung – da würde ich mich vor meiner Freundin schämen.“ Tatsächlich hat sein Chef ein Einsehen: Weber bekommt für seine Freizeit sogar eine „ständige Zivilgenehmigung“.

Glücklich geht auch ein riskanter Kinobesuch im Wedding aus. Kurz vor dem Mauerbau trifft er sich mit seinem Bruder zur Nachtvorstellung in der Brunnenstraße. „Ich als Grepo im West-Kino!“ Prompt sieht er einen Volkspolizei-Gehilfen, der in seinem Haus wohnt. „,Ach, du Scheiße, da steht Otto', sagte ich erschrocken zu meinem Bruder. Aber der verblüffte Otto wollte nur eins wissen: ,Bleibste im Westen, oder gehste zurück zu deiner Mutter?' Ich wollte ja sowieso zurück. Aber wenn er mich verpfiffen hätte, wäre ich in den Knast gewandert.“

Im Mai 1961 ist das Kapitel Grenzpolizei für Dieter Weber endlich abgeschlossen. „Zum Glück habe ich den Mauerbau nicht als Grepo erlebt, Das hätte ich noch schlimmer gefunden als Beton zur Grenze zu fahren.“ Ein Jahr lang fährt er noch für den VEB Baubetonwerke, wird dann Krankentransporteur. In den 70er-Jahren fährt er für einen Stahlbau-Betrieb. „Dort arbeitete ich 16 Stunden, wie beim Mauerbau, 150 Überstunden im Monat. Meine Tochter sah ich nur schlafend.“ Seit 55 Jahren sitzt Dieter Weber mittlerweile hinter dem Steuer, bis heute unfallfrei.

Aber nicht nur darauf ist er stolz. Er hat sich nicht verbiegen lassen. Nie. Auch nicht, als in den 80er-Jahren der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew Marzahn besuchte, wo ich damals wohnte. „Unser Stasi-Nachbar klingelte, drückte mir eine rote Fahne in die Hand, die ich aus dem Fenster hängen sollte.“ Weber gibt sie ihm gleich wieder: „Ich bestimme, wann ich eine Fahne raushänge!“ Am 4. November 1989 ist er mitten im Geschehen, als sich auf dem Alex eine Million Menschen versammelt. Das Regime steht kurz vor dem Kollaps. Wenige Tage später macht er sich mit Werkzeug auf zur Bernauer Straße. „Ich haute mir ein großes Stück Mauer heraus, vier Meißel sind zu Bruch gegangen.“ Der Brocken liegt bei ihm im Wohnzimmerregal. Tellergroß.
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... ieren.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 18. Juli 2011, 15:13

Retten, was nicht mehr zu retten war

Schon vor Beginn des Mauerbaus vor fast 50 Jahren war das Schicksal der DDR nach Einschätzung des Historikers Manfred Wilke besiegelt. Das habe auch SED-Chef Walter Ulbricht gewusst. „Durch den Mauerbau hat sich die SED 28 Jahre Zeit erkauft“, so der ehemalige Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin.
http://www.nwzonline.de/Aktuelles/Polit ... n-war.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 19. Juli 2011, 19:59

"Gießen war ein Synonym für Freiheit"

Gießen - Selbst seiner Frau durfte er nicht verraten, was er vorhatte: Mit einem leeren Bus fuhr Heinz Dörr an so manchem Abend zum damaligen Grenzübergang Herleshausen. "Ich saß im Niemandsland der Grenze hinter einem Busch auf einer Holzbank. Dann kam ein Pkw, der blinkte", berichtet der 83-Jährige. Ein Unterhändler der DDR brachte politische Häftlinge an die Grenze, die von der BRD freigekauft worden waren. Mit dem Bus fuhr Heinz Dörr sie dann nach Gießen ins Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus der DDR. "Manchmal spielten sich rührende Szenen ab", berichtet Dörr. "Es kam zu Gefühlsausbrüchen im Bus. Viele fingen an zu weinen."

20 Jahre seines Lebens war Heinz Dörr der Leiter des Lagers, das in der DDR als "Synonym für Freiheit" galt. Heute ist dort die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende aus aller Welt untergebracht. Auf Gießens Bedeutung für die deutsch-deutsche Geschichte weist hier nichts mehr hin. Die Stadt möchte dies ändern und plant eine Gedenkstätte.

Bis zur Schließung des Lagers fanden hier 900.000 Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR vorübergehend Unterschlupf. Die Mehrheit reiste mit dem Zug nach Gießen, die Ausreisegenehmigung der DDR in der Tasche "Am Bahnhof kamen die meisten an, über eine Brücke gelangten sie zu uns und meldeten sich dann an der Pforte", berichtet der Soziologe. Hier erhielten sie freie Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und 15 Mark Taschengeld. Die DDR-Bürger mussten sich offiziell anmelden und einen Ausweis für die BRD beantragen. Von Gießen aus ging die Reise für viele weiter in das gesamte Bundesgebiet.

Gegründet wurde das Lager bereits 1946 zur Aufnahme von Heimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. Im August 1949 wurde es zum zentralen Aufnahmelager in der US-Besatzungszone für Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone, ein Jahr später erhielt es den Namen "Notaufnahmelager". Nun war die Einrichtung auch für ganz Westdeutschland zuständig. Zwei Jahre nach dem Mauerbau 1961 war das Lager das einzige in der Bundesrepublik, das Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR aufnahm. 1986 folgte die Umbenennung in "Zentrale Aufnahmestelle des Landes H

Die Stadt will den eigenen Beitrag zur deutsch-deutschen Geschichte nun würdigen. In Zusammenarbeit mit Historikern der Universität soll bis 2014 eine Gedenkstätte geschaffen werden, um auf angemessene Weise an diesen Ort zu erinnern, sagt eine Stadtsprecherin.

Die Historikerin Jeanette van Laak bereitet aktuell ein Forschungsprojekt zum Notaufnahmelager vor, in dem sie auch die Kontakte zwischen Flüchtlingen und Menschen aus Gießen untersuchen möchte. "So ein Flüchtlingslager vor den Stadttoren prägt den Umgang einer Stadt und ihrer Bürger mit- und untereinander", sagt sie. "Wenn Sie heute in Gießen nach dem Notaufnahmelager fragen, erhalten sie meist als erstes zur Antwort: 'Das war eine Einrichtung des Bundes. Damit hatten wir nichts zu tun!' Hier stimmt nur der erste Satz. Wenn man dann nämlich nachfragt, erfährt man, was so alles erzählt wurde, über die anderen Deutschen."

1989 nach dem Fall der Mauer geriet für einen Moment auch Gießen in den Mittelpunkt des Weltgeschehens. "Wir hatten Fernsehteams aus der ganzen Welt hier. Ein Reporter aus Italien hat sich darüber gewundert, wie diszipliniert die vielen Menschen in einer Schlange standen", erinnert sich Dörr. Über 2.500 Menschen kamen in den Tagen nach dem Mauerfall in Gießen an. 120.000 waren es im gesamten Wendejahr, 23.000 allein im November.

Auf den Zufahrtswegen zum Lager habe sich ein Trabant an den nächsten gereiht, auch die Wiesen an der Lahn seien voll geparkt mit Autos gewesen. Um im Lager mit dem großen Menschenansturm fertig zu werden, musste enorm improvisiert werden. "Aus Zweibettzimmern haben wir dann Vierbettzimmer gemacht", berichtet er.

Noch heute erinnert er sich gerne an seine Zeit als Leiter des Lagers. Im Arbeitszimmer in seinem Haus im Gießener Norden hängt ein Verdienstorden, unterschrieben vom ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, daneben ein Ehrenbrief des Landes Hessen. Am 31. Juni 1990 ist Heinz Dörr in den Ruhestand verabschiedet worden. Im selben Monat wurde die Zentrale Aufnahmestelle in Gießen geschlossen. Das Ende seines Arbeitslebens war gleichzeitig das Ende eines Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte.
http://net-tribune.de/nt/node/45573/new ... r-Freiheit
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 21. Juli 2011, 16:19

Mit dem Brautkleid im Koffer nach Ost-Berlin- eine persönliche Flucht in die DDR, die nie bereut wurde

An einem kalten Wintermorgen hält Christel Kiel die Freiheit nicht mehr aus. Sie packt ihren Koffer, nur das Wichtigste kommt mit. Die Zahnbürste, ein paar warme Socken, der Mantel. Oben liegt das weiße Brautkleid, sorgfältig zusammengelegt. Christel Kiel verabschiedet sich von ihrer Mutter und ihrem Onkel. Endgültig.

Sechs Monate ist es her, dass die DDR ihre Grenzen abgeriegelt hat. Für die junge Frau aus Wedding ist es eine Tragödie. Ihre große Liebe lebt in Ost-Berlin. Am 15. März 1962 sitzt die 18-Jährige in einem kahlen Raum im Bahnhof Friedrichstraße. Ein Volkspolizist verhört sie, der Ton ist ruppig. „Wer sind Sie?“, „Was wollen Sie in der DDR?“. Christel Kiel antwortet wahrheitsgemäß, sie will nur eines: zu ihrem Verlobten nach Schöneweide. Als Christel Kiel, die damals noch Hoffmann hieß, ihren Mann Lothar 1960 kennenlernt, ahnen beide noch nichts von der Mauer. Schnell wird der Kontakt enger. Sonntags treffen sie sich regelmäßig zum Kirchgang an der Frankfurter Allee. Es wird ein festes Ritual.

Am 13. August 1961 steht Christel Kiel weinend am Bahnhof Gesundbrunnen. Die SED hat ihre Drohung wahr gemacht und die drei westlichen Sektoren von Berlin abgeriegelt. Ein Polizist schickt sie wieder zurück. Kiel glaubt, dass sie ihren Freund nie wieder sieht.

Zu Hause nimmt ihr Onkel sie in den Arm, beide setzen sich in die S-Bahn und fahren nach Schöneweide. Noch ist der Verkehr nicht unterbrochen. Am 20. August besucht die junge Frau ihren Lothar zum letzten Mal, sie verloben sich. Doch die räumliche Trennung schmerzt, das junge Paar ist verzweifelt. Beide schreiben sich Briefe. Kiel wird klar, dass sie ohne Lothar nicht leben will. Nicht leben kann. Was nützt die Freiheit, wenn sie unglücklich macht? In Kiel reift der Entschluss, dass es nur einen Weg geben kann: Sie muss rüber, in den Osten. Für immer.

Am 15. März 1962 steht das junge Mädchen am Bahnhof Friedrichstraße. Die Polizisten schicken sie weiter an den Alexanderplatz. Auch dort wird sie verhört. Christel Kiel kommt nach Blankenfelde, ein Ortsteil im Norden von Pankow. Hier hat die DDR ein Auffanglager für Flüchtlinge eingerichtet. Kiel teilt sich ihr Zimmer mit drei Frauen. Nach dem Frühstück wird täglich per Lautsprecher durchgesagt, wer bleiben darf, wer mit dem Bus abgeholt wird – oder wieder in den Westen zurück muss.

Nach zwei Wochen kommt die erlösende Botschaft: Sie darf in der DDR bleiben. Kiel bekommt eine Buskarte, sofort fährt sie nach Schöneweide ans Transformatorenwerk. Dort arbeitet ihr Verlobter. Kiel ist erleichtert. Endlich angekommen. Das junge Paar lebt in den ersten Wochen in einer 1,5-Zimmer-Wohnung in Schöneweide – mit den Schwiegereltern. Vier Menschen auf engstem Raum. Am 30. Mai 1962 heiraten die Kiels. Im Januar 1963 kommt ihr gemeinsames Kind zur Welt.

Christel Kiel arrangiert sich schnell mit den Verhältnissen im Sozialismus. Kiel sagt, sie sei unpolitisch gewesen. Als Verkäuferin arbeitet sie in einem Markt in Johannisthal, einem Ortsteil von Köpenick. Ständig fehlt Ware. Weihnachten 1963 sieht sie ihre Familie zum ersten Mal wieder. Im Osten. Das Paar lebt noch immer hier. Vor sechs Jahren sind sie in eine kleine Wohnung am Rand von Köpenick gezogen. Christel Kiel sagt, Ost-Berlin sei ihre Heimat geworden. Würde sie sich heute, im Rückblick auf 49 Jahre Ehe, wieder so entscheiden? Kiel ergreift die Hand ihres Mannes. „Ja. Ich habe es nie bereut.“
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 22. Juli 2011, 15:54

Eine Flucht mit alliierten Nummernschildern (so einfach konnte es sein......)

Steil und steinig ist die Böschung gleich unterhalb der Stubenrauchbrücke in Johannisthal. Manfred Wenzel wagt sich trotzdem zum Teltowkanal hinunter. "Hier ist die Stelle." Der 74-jährige Weddinger setzt sich ins Gras, sieht über das Wasser: Auf der westlichen Seite liegt Rudow, kleine Betriebe säumen das Ufer. "So sah es dort schon Anfang der 60er-Jahre aus."

In Johannisthal hat sich das Bild dagegen verändert: Hier verläuft nun die Verlängerung der Stadtautobahn - "damals stand an dieser Stelle die Kulissenstadt der DEFA." Auf diesem Gelände nimmt Wenzels Leben am Abend des 13. August 1961 eine entscheidende Wende. An diesem Sonntag macht sich der junge Familienvater mit seiner Frau Ursel und dem neun Monate alten Markus auf den Weg zur Kirche. "Der Gottesdienst war gerade zu Ende, da hörten wir zum ersten Mal von den Ereignissen an der Grenze. Ein Schock." Manfred Wenzel entschließt sich spontan, noch am selben Abend zu flüchten. Seine schwangere Frau hält ihn nicht ab.

Sie weiß, dass der gläubige Christ seine Kinder nicht unter einem sozialistischen Regime aufwachsen lassen will. Außerdem arbeitet der Chemie-Ingenieur als Grenzgänger bei Borsig in Tegel. So stimmt seine Frau zu - voller Vertrauen in ihren Mann. "Wir dachten, dass sie sicher bald nachkommen könnte. Ich packte Papiere, Schuhe und Jacke in wasserdichte Folie, stopfte alles in meine Aktentasche und machte mich auf nach Johannisthal." Hier, am Teltowkanal, ist er als Kind oft zum Baden gewesen. Die anschließende Flucht vor den Defa-Kulissen ist filmreif: "Als ich über das Gelände schlich, war niemand zu sehen. Aber zwei Vopos auf der Stubenrauchbrücke machten mir Sorgen. Dann ertönte Stimmengewirr von der anderen Seite der Brücke." In diesem Moment lässt sich der 24-Jährige ins Wasser gleiten, in der linken Hand die Aktentasche. Sofort saugt sich seine Kleidung mit Wasser voll, die 50 Meter bis zum anderen Ufer erscheinen ihm unendlich lang. Die Hälfte ist geschafft, als ihn am westlichen Ufer Spaziergänger entdecken. "Was glotzt ihr so? Geht weiter!", schreit er. Die Vopos hören nichts. Die Stimmen auf der anderen Seite der Brücke fesseln ihre Aufmerksamkeit. "Das Paar lief weiter, kehrte aber zum Glück noch mal um und zog mich aus dem Wasser, mich hatten die Kräfte verlassen." Ein Mannschaftswagen der Polizei sammelt ihn auf und bringt ihn zum Aufnahmelager Marienfelde. Von dort fährt Wenzel zu Verwandten nach Lichterfelde. In die Freude, es geschafft zu haben, mischen sich bald bange Gefühle. "Die Amerikaner, auf die ich vertraut hatte, taten nichts." Seine Tochter Monika ist zwei Monate nach dem Mauerbau zur Welt gekommen. Wann würde er sein Kind sehen können?

Im Herbst 1962 trifft er einen ehemaligen Mitschüler: "Er fragte, warum ich meine Frau nicht rüberholen würde. Ich sagte, Fluchtmöglichkeiten gebe es ja nicht wie Schrippen beim Bäcker." Der junge Mann nimmt Wenzel mit zu einem Bekannten: "Überall lagen englische Kennzeichen von Alliierten-Fahrzeugen herum - ein Traum!" Aber wie soll Wenzel seine Frau informieren? Briefe aus dem Westen werden von der Stasi geöffnet, Telefone abgehört. "Ich schrieb ihr einen Bibelvers: Wachet und betet, denn Ihr kennt nicht Ort und Stunde", erinnert sich Wenzel.

15 Monate nach Wenzels Flucht fährt ein schwarzer Opel Kapitän mit Alliierten-Kennzeichen über den Checkpoint Charlie nach Johannisthal. Die Familie wohnt bei Ursels Großmutter. "Unruhig wartete ich zu Hause in Wedding auf die Rückkehr des Wagens", erinnert sich Manfred Wenzel. Doch der Fluchthelfer ist allein, Wenzels Frau hat die Botschaft nicht verstanden. "Sie war bei Bekannten. Zum Kaffeetrinken!" Die Großmutter erzählt ihrer Enkelin anschließend von dem Fremden, da "fiel der Groschen, von da an blieb sie zu Hause". Am 20. November kehrt der Fluchthelfer zurück: Als angeblicher Diplomat bringt er Wenzels Ehefrau in seinem Opel nach West-Berlin. Im Kofferraum des Autos liegen die mit Schlafmittel betäubten Kinder. Checkpoint Charlie passiert das "Diplomaten-Paar" reibungslos. Sie halten kurz die Pässe gegen die Scheibe, dann werden sie durchgewinkt. Kurz darauf hält der Wagen vor Wenzels Mietshaus - "und diesmal öffnete sich auch die Beifahrertür."

Als Manfred Wenzel heute, fast 50 Jahre später, die Böschung am Teltowkanal wieder hinaufgekraxelt ist, schweift sein Blick noch einmal über das Wasser. Tiefes Durchatmen. Was empfindet er in diesem Moment? "Dankbarkeit. Große Dankbarkeit für 30 Jahre West-Berlin."
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 22. Juli 2011, 16:08

"Einschränkung von offiziellen Ausreisen"

Der Wert eines Menschen ist leicht festzustellen: Kann er arbeiten, oder macht er Arbeit? Diese zynische Unterscheidung lag einem streng geheimen ("Blitz - Sofort auf den Tisch") Fernschreiben zugrunde, das DDR-Innenminister Karl Maron am 22. Juli 1961 an alle "1. Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke" schickte.

Also an die Vertrauensleute der SED-Führung in der DDR-Provinz. Dieses Fernschreiben ist die erste schriftlich überlieferte Konsequenz aus der grundsätzlichen Entscheidung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Nikita Chruschtschow zwei Tage zuvor, der SED den Bau der Berliner Mauer zu genehmigen.

Marons Anordnung betraf die "Übersiedlung nach Westdeutschland und Westberlin". Bei den formal zuständigen Räten der Bezirke, in der zentralistisch organisierten DDR so etwas wie Regierungspräsidien, lagen zu dieser Zeit zehntausende solcher Anträge. Nach Marons Ansicht waren sie "zum Teil im Zusammenhang mit der Abwerbung zu sehen" und wurden "auch vom Klassengegner zur Hetze gegen unsere Deutsche Demokratische Republik missbraucht". Deshalb ordnete er formal an, dass "Genehmigungen zur Übersiedlung nach Westdeutschland oder Westberlin, gleich aus welchen Gründen diese Anträge gestellt werden (Eheschließung, Familienzusammenführung usw.) nicht mehr zu erteilen" seien.

Ausnahmen dürften nur aus "zwingenden Gründen" zugelassen werden und ausschließlich für "alte, arbeitsunfähige, alleinstehende" Antragsteller, "die nachweislich keine Angehörigen in der DDR haben und ständig hilfs- und pflegebedürftig sind". Offiziell ausreisen dürfen sollten nur noch Menschen, die den SED-Staat Geld kosteten. Sie wollte Maron sogar loswerden. Als leitendes Prinzip für jede Einzelentscheidung legte die Anordnung des DDR-Innenministers die "allseitige Einschränkung" von offiziellen Ausreisen fest. Dabei solle ein "strenger Maßstab" angelegt werden. Maron gehörte zu dem kleinen Kreis führender Funktionäre, die an der Vorbereitung der Grenzschließung beteiligt waren. Seit Januar 1961 gehörte er einer Arbeitsgruppe an, die den Auftrag bekommen hatte, Maßnahmen gegen die Massenflucht vorzubereiten. Niemand außer Walter Ulbricht und dem sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin, Michail Perwuchin, wusste, dass die eigentliche Aufgabe dieses Stabes die Vorbereitung der dauerhaften Zerschneidung Berlins war - und keine neue Kampagne gegen die "Abstimmung mit den Füßen".
http://www.morgenpost.de/printarchiv/be ... eisen.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 25. Juli 2011, 21:08

"Wenn Papa das schafft, gehst du!"

Renate Reich sagt es ihrem Russisch-Lehrer direkt ins Gesicht: "Was Sie hier mit uns machen, erinnert mich an die Nazizeit!" Sie kennt Dokumentarfilme aus den Hitlerjahren. Sie sieht die Parallelen, und sie kann die Phrasen dieses Mannes nicht mehr hören.

Ost-Berlin, Mitte der 50er-Jahre. Schon als Kind steht sie auf Kriegsfuß mit den Kommunisten. Die Wut der Schülerin aus Prenzlauer Berg ist weit größer als die Angst vor Konsequenzen. Sie erscheint nie zum Fahnen-Appell, ist weder bei den Jungen Pionieren noch in der FDJ. Stattdessen geht sie in die Kirche. Der Vater, der in Wedding wohnt, belohnt seine Tochter für jede Fünf in Russisch mit einer West-Mark.

Die Rektorin handelt schließlich. Sie will das aufsässige Mädchen in ein staatliches Erziehungsheim stecken. Doch Renate Reichs Mutter warnt: Der Vater würde seine Tochter in diesem Fall sofort zu sich nach West-Berlin holen. "Damit war die Sache erledigt. Aber als ich den Antrag für die Oberschule ausfüllte, zerriss mein Russisch-Lehrer den Zettel: Für solche Subjekte wie mich gäbe die DDR kein Geld", erzählt die heute 67 Jahre alte Rentnerin aus Blankenfelde. Eine bittere Erfahrung: Schließlich will Renate Reich später nach West-Berlin und Lehrerin werden. Nun macht die 14-Jährige beim Mitropa-Friseur am Bahnhof Friedrichstraße eine Lehre. "Aber ich plante, im Januar 1962 in den Westen zu gehen. Dann war ich 18, wollte mein Abi nachholen und studieren."

Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 drohen ihre Träume zu platzen. Dabei ist sie noch am Tag zuvor bei ihrem Freund am Fehrbelliner Platz gewesen. "Leider fuhr ich nachts mit der U-Bahn nach Ost-Berlin zurück." Der Zugverkehr verlief planmäßig. Noch. Erst am nächsten Morgen hört sie im Radio von der Abriegelung des Ostteils. "Ich war panisch - nun schien ich für immer getrennt vom Vater und von meiner ersten Liebe." Doch das Mädchen erinnert sich an den 17. Juni 1953, den Tag des Aufstands der Arbeiter in der DDR. Renate Reich ist damals neun Jahre alt, will ihren Vater besuchen, der am Gesundbrunnen eine Druckerei besitzt. "Von der Husemannstraße lief ich immer zum Übergang Bernauer Straße. Aber an diesem Tag waren die Grenzen vorübergehend dicht." Ein Volkspolizist empfiehlt ihr, zur Kremmener Straße zu gehen, einer Parallelstraße der Bernauer. Dort könne sie über die Höfe in den Westteil gelangen. "Das klappte auch." [shocked]

Am 13. August 1961, acht Jahre später, versucht sie es wieder. Vergeblich. Überall Betriebskampfgruppen. Verzweifelt fährt sie zu ihrer Mutter in die Charité. Die ist am Bein operiert worden und hat gerade Besuch von ihrem Ex-Mann - als West-Berliner darf er noch einige Tage über die Grenze. "Mach dir keine Sorgen, ich hol dich rüber", beruhigt Fritz Reich seine aufgewühlte Tochter. Ihre Mutter, die mit gesundem Bein gleich mitgekommen wäre, sagt: "Wenn Papa das schafft, dann gehst du!" Renate Reichs Freund Manfred besorgt sich den Ausweis einer Bekannten. Er gibt die Papiere dem Vater seiner Freundin, der den Stempel des Ausweises fotografiert und in seiner Druckerei kopiert. Anschließend tauscht er das fremde Passbild gegen ein Foto von seiner Tochter aus.

Am 15. August 1961 ist es dann soweit. Es dämmert schon, als Vater und Tochter zur Harzer Straße laufen. Ein Übergang, der Fritz Reich weniger gefährlich als andere erschien: Im schwachen Schein einer Laterne steht ein einzelner Grenzposten, der nur einen flüchtigen Blick in die Ausweise wirft. Geschafft. Die Reichs sind in Neukölln. Ein paar Schritte weiter fallen sich Vater und Tochter wie erlöst in die Arme. "Nun mussten wir noch meine Mutter in den Westen holen."

Der Bruder ihres Vaters besitzt ein Casino in der Hasenheide. Eines Abends hört er, wie sich ein Gast damit brüstet, Ost-Berliner mit ausländischen Pässen nach West-Berlin zu holen. Kurz entschlossen nimmt der Onkel Kontakt zu dem Fluchthelfer auf. Zwei Tage vor Weihnachten steigt die Mutter von Renate Reich am Bahnhof Friedrichstraße mit einem schwedischen, professionell gefälschten Ausweis in die Bahn und fährt zu ihrer Tochter nach Steglitz. Heiligabend ist die Familie wieder vereint.

Zu Renate Reichs Glück fehlt jetzt nur noch das Abitur. "Aber für die Abendschule war keine Zeit, ich musste Geld verdienen", erzählt sie. Dennoch erfüllt sich ihr Traum - sie wird Religionslehrerin.

Ihre Mutter hingegen holt die Vergangenheit ein. In Düsseldorf findet 1968 eine Papierwaren-Messe statt, die Inhaberin eines Schreibwaren-Ladens will hin. Statt wie andere Flüchtlinge nach Westdeutschland zu fliegen, nimmt sie das Auto. "Sie glaubte, seit ihrer Flucht sei genug Zeit vergangen", erinnert sich Tochter Renate Reich.

Die Volkspolizei am Grenzübergang Dreilinden ist anderer Meinung. Gertrud Reich kommt in Ost-Berlin ins Gefängnis, wird depressiv und schwer herzkrank. Nach neun Wochen kauft die Bundesregierung sie frei. Doch die damals 44-Jährige erholt sich nicht, wird zwei Jahre später Frührentnerin. Die Erinnerungen bewegen Renate Reich noch immer: "Von all diesen Erlebnissen in der DDR würde ich sehr gerne in Schulen als Zeitzeugin erzählen."
http://www.morgenpost.de/printarchiv/be ... st-du.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 25. Juli 2011, 21:10

West-Berliner kaufen billig im Osten ein – und Ost-Zeitungen berichten darüber

Fast täglich berichtet die Ost-Presse jetzt über Haftstrafen wegen „Schiebung“ mit Lebensmitteln wie Fleisch, Wurst, Eiern oder Butter. „Zentnerweise schleppen Schieber unsere Lebensmittel nach Westberlin“, heißt es. Gemeint sind verbotene Einkäufe von Ostlern für West-Berliner Verwandte oder Bekannte. Das ist für Westler spottbillig, denn in den West-Berliner Wechselstuben gibt es für eine West-Mark mehr als vier Ost-Mark. Doch der Einkauf wird teuer, wenn man dabei erwischt wird. Die Späher sind überall, und mit der Einziehung der Ware ist es nicht getan.

In der „Berliner Zeitung“ ist von einer Ost-Berlinerin die Rede, die sofort nach dem Gefälligkeitseinkauf mit ihrer West-Begleiterin gefasst wurde.

Die Ost-Berlinerin bekam vier Monate Gefängnis aufgebrummt, die West-Berlinerin sechs Wochen. Obendrein ist die Ostlerin eine Grenzgängerin, die ihre „sichere Arbeitsstelle geschmissen“ hat, „seither schubbert sie beim Siemens-Konzern“.

Nur wenige Tage vor dem Richterspruch sei sie in der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz von „Kontrolleuren“dabei beobachtet worden, wie sie auf Zeichen ihrer Begleiterin, einer Siemens- Kollegin, „achteinhalb Pfund Schweinebraten für 40 Mark“ kaufte und dieser den „schweren Fleischbeutel in die Hand drückte. Gemeinsam hätten sie „in Richtung ‚Freie Welt‘ davonziehen“ wollen, aber Vopos nahmen die beiden fest.

Natürlich tauschen auch die Ost-Berliner in den Wechselstuben Ost- gegen West-Geld. Für sie ist das kostspielig, aber sie kaufen dafür im Westen Dinge, die im Osten besonders teuer oder in guter Qualität kaum zu haben sind wie Kaffee, Schokolade, Südfrüchte oder Schuhe. An der West-Berliner Sektorengrenze wie am Schlesischen Tor oder in der Brunnenstraße blüht das Geschäft mit „Ost-Bewohnern“. Doch das ist für die Ost-Presse kein Thema.

Einen kleinen Vorteil haben Ostler in West-Berlin. Sie zahlen ermäßigte Eintrittspreise für Ausstellungen, Kinos, Theater, Bäder und so fort. Nach Mitteilung der Messeleitung kosten die Karten für die Rundfunk-, Fernseh- und Phono-Ausstellung, die vom 25. August bis 5. September am Funkturm stattfindet, zwei DM, für Ost-Besucher 1:1, also zwei Ost-Mark.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/26-ju ... 30856.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 25. Juli 2011, 21:15

"Keiner hatte Lust zu bleiben"

Irgendwann ist es normal. Am Anfang aber hat sie "geschluckt". Damals, am 2. Januar 1965, als sie mit Mann und Sohn nach Staaken zieht. Dass die neue Wohnung im Westen so dicht an der Mauer lieg, hat etwas Bedrohliches. "Später dann, je länger ich dort wohnte, habe ich mich daran gewöhnt", sagt Annemarie Salzmann, die heute noch immer in der 2,5-Zimmer-Wohnung in Staaken wohnt und sich dort wohl fühlt.

Die Hoffnung, dass sie mit ihrer Familie eines Tages doch noch einmal zusammenkommen würde, hat die heute 66-Jährige nie aufgegeben.

In einer Nacht- und Nebel-Aktion überwindet Annemarie Salzmann die Grenze und lässt sie ein für alle Mal hinter sich. Das ist die Nacht vom 23. auf den 24. März 1962 gewesen, als Annemarie es wagt und ein hohes Risiko eingeht. Sie ist gerade einmal 17 Jahre alt. "Heute würde ich das nicht mehr machen, aber wenn man jung ist, überlegt man nicht lange." Ihr Entschluss steht damals schnell fest. Sie will weg - in den Westen, mit ihrem Verlobten Wolfgang Salzmann. Sie, die gern mit Kindern arbeitet und Kindergärtnerin werden will, hat es satt, den Kleinen den Kommunismus zu erklären. Wolfgang Salzmann, der Verlobte, will nicht zum Militär. "Keiner hatte Lust zu bleiben", erinnert sich Annemarie Salzmann. Den Fluchtplan "baldowert" sie mit ihrem Verlobten und dessen Freund Schicki in einer Milchbar in Pankow aus. "Das war nur wenige Monate nach dem Mauerbau im Jahr 1961", erinnert sie sich. Der 13. August 1961 hat ihnen Angst gemacht. Annemarie Salzmann arbeitet damals als Küchenhilfe in einem Ferienheim in Eberswalde. Dort lernt sie den Rettungsschwimmer Wolfgang Salzmann kennen. "Wir hatten erst gar nichts mitgekriegt. Doch als wir am 13. August aus dem Radio erfuhren, dass Berlin abgeschottet war und keiner mehr von Ost nach West und umgekehrt durfte, herrschte im Ferienheim ein Riesenaufruhr." Die Kinder aus Westdeutschland geraten in Panik. Sie haben Angst, nicht mehr nach Hause zu kommen.

Sieben Monate später - am 23. März 1962 - fassen sich Annemarie und Wolfgang Salzman ein Herz und setzen den Fluchtplan um.

Das junge Mädchen wohnt noch bei ihrer Mutter in Heinersdorf. Am 23. März fährt die Mutter nach Dessau, die Tochter bringt sie zum Bahnhof - verschweigt jedoch ihren Fluchtplan. "Sie hätte mich zurückgehalten, weil sie Angst um meinen Bruder hatte, der als Nationalhandballer beim Dynamo Polizeiverein spielte. Der hätte Schwierigkeiten bekommen", sagt Annemarie Salzmann. Der 23. März ist ein Sonnabend. Das junge Mädchen und ihr Verlobter müssen warten, bis es dunkel wird. Um sich die Zeit zu vertreiben, gehen die beiden ins Kino. "Ich war so aufgeregt. Ich habe von dem Film gar nichts mitbekommen." Nach dem Film eilen sie nach Hause, holen zwei dunkle Overalls und Handschuhe. Annemarie Salzmann zieht mehrere Kleidungsstücke übereinander an. "Sonst haben wir nichts mitgenommen." Mit der Straßenbahn fahren sie nach Rosenthal, steigen eine Station vor der Endhaltestelle aus. Quickborner- Ecke Wilhelmsruher Damm ist ein Feld. Dort wollen sie die Grenze überwinden. Sie ziehen die Overalls an, legen sich auf den Bauch und robben los. Es ist Mitternacht, der Himmel ist bedeckt. Es ist kalt. Sie hören die Grenzposten, das Hundegebell.

Dann reißen die Wolken auf, der Mond kommt raus. "Was glauben sie, was ich für eine Angst hatte. Schrecklich! Wolfgang, der schon 18 Jahre alt war, wäre wegen Fahnenflucht und Entführung Minderjähriger rangekommen." Doch sie haben Glück. Nach einer Viertelstunde schieben sich die Wolken wieder vor den Mond. Die Dunkelheit ist zurückgekehrt. Die beiden Flüchtlinge robben weiter. Stacheldrahtzaun und Stolperfallen überwinden sie mühelos. Doch dann tut sich ein Wassergraben vor ihnen auf. Er ist einen Meter breit, aber zugefroren. Aber wenn das Eis bricht? Der Belastung nicht standhält? Stillschweigend einigen sie sich darauf, es zu versuchen. Wolfgang Salzmann hangelt sich als erster rüber - es klappt. Annemarie Salzmann kommt hinterher. Anschließend müssen sie noch zwei Stacheldrahtzäune überwinden. Mit ihren Handschuhen ziehen sie den Draht auseinander - "ha, und dann waren wir im Westen".

Es ist drei Uhr. Mitten in der Nacht. Annemarie und Wolfgang Salzmann stehen auf einem Kohlenplatz. In einem Haus sehen sie Licht, klopfen an die Fensterscheibe. Die Bewohner sind überrascht: "Wo kommen sie denn her?" Im Haus werden Annemarie und Wolfgang Salzmann mit Obst bewirtet. Doch vor lauter Aufregung kriegen sie nichts runter.

Der Weg aus der DDR nach West-Berlin war hart, doch das Gefühl von Freiheit will sich bei Annemarie und Wolfgang Salzmann nicht so recht einstellen. Polizei, Aufnahmelager in Marienfelde, Verhöre durch die Alliierten. Die Mutter des jungen Mädchens drängt darauf, dass ihre Tochter zurückkommt - der Sportkarriere des Bruders wegen. "Wir sind dann aus Berlin ausgeflogen worden und landeten im Durchgangsheim in Ludwighafen", erinnert sich die heute 66-Jährige. Wolfgang und Annemarie Salzmann heiraten im September 1962. Im Januar 1963 kommt Sohn Manfred auf die Welt. Im Herbst 1963 gehen sie nach Berlin zurück. Nach einem Zwischenstopp in Moabit landen sie im Januar 1965 in Staaken. Dort ist die Odyssee zu Ende. 1970 darf ihre Mutter, die inzwischen Rentnerin ist, ihre Tochter besuchen.
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Dieter1945 » 26. Juli 2011, 15:15

Vor 40 Jahren hat die DDR Post zum zehnjährigen Jubiläum des "antifaschistischen Schutzwall" Sonderbriefmarken herausgegeben.
Du hast keine ausreichende Berechtigung, um die Dateianhänge dieses Beitrags anzusehen.
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 26. Juli 2011, 15:31

Folgender Artikel könnte besonders Dieter interessieren.... [denken]

Peter Guba war Grenzer und Hobbyfilmer. Seine Aufnahmen aus den 60er Jahren sind heute Zeitdokumente.
Einsatzort Wollankstraße: Hier wie an vielen anderen Orten Berlins dreht Peter Guba mit seiner Kamera. Seine kurzen Filme haben den Weg ins Deutsche Historische Museum und die Stiftung Berliner Mauer gefunden

Sie hebt die Hand, lächelt, winkt dem jungen Mann in der Uniform der Volkspolizei zu. Der hat eine Schmalfilmkamera auf sie gerichtet und hält fest, wie die Frau und ihr Begleiter nach Ost-Berlin blicken. Dass diese Perspektive wenige Monate später von Stacheldraht und Beton mehr als eingeschränkt wird, ahnt Peter Guba nicht, als er die Szene mit dem neugierigen Pärchen auf Zelluloid bannt.

Auch nicht, dass sich die Gesichter, die er nach dem 13. August 1961 vor die Linse bekommt, misstrauisch oder wütend verzerren, wenn sie ihn bemerken. Statt der Hand, die ihn freundlich grüßt, wird Guba von da an die kalte Schulter gezeigt.

Gubas Aufnahmen – krisselig, teils verschwommen – sind bis heute erhalten. Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zeigen sie hautnah die Atmosphäre an den Grenzübergängen Berlins kurz vor und nach dem Mauerbau.

„Meine Aufnahmen, die ich Anfang der 60er gemacht habe, hatte ich aber gedanklich längst beiseite geschoben.“ Die in Blechdosen verschlossenen Filmrollen aus 1961 sind für Guba längst Geschichte. Zeitgeschichte, wie seine Ehefrau schließlich zum 40. Jahrestag des Mauerbaus erkennt. Also kramt Guba Streifen für Streifen hervor. Das Deutsche Historische Museum nimmt sich des Materials an und ist darüber hocherfreut, ebenso wie bald darauf auch die Stiftung Berliner Mauer in der Bernauer Straße. „Hätte ich gar nicht gedacht“, sagt Peter Guba.

Für den jungen Volkspolizisten ist die Filmerei ein Hobby, von dem er auch in der Dienstzeit nicht lassen kann. „Daran, dass ich statt zum Fotoapparat zur Filmkamera gegriffen habe, ist mein Vater schuld. Der sagte, ein Hobbyfotograf in der Familie sei genug – und meinte damit sich selbst.“ Der Sohn besorgt sich als Alternative die kleine Filmkamera. Nicht nur Szenen mit den Eltern und dem Hund nimmt er auf. Die Stunden, die er in der Kaserne oder an den noch offenen Grenzübergängen verbringt, hält er ebenso fest. „Auf die Idee, meine Vorgesetzten um Erlaubnis zu bitten, bin ich nie gekommen“, sagt Guba rückblickend. Heute verbucht er das unter jugendlicher Naivität. [super]

1959 tritt der gelernte Bootsbauer seinen Dienst bei der Volkspolizei (VP) an. Eigentlich will der Köpenicker zur Wasserschutzpolizei. Ein Kriminaler rät ihm, den Weg über die VP zu gehen. Zwischen Pankow und dem Brandenburger Tor steht der 19-Jährige nun Tag für Tag und kontrolliert den Warenverkehr. In der Wollankstraße, der Köthener und der Bernauer Straße, in der Chaussee- und der Invalidenstraße, am Nordufer und am Reichstag schiebt Guba Schicht. Sind hübsche Mädchen unter den Passanten, lässt sich Guba gern einmal mehr die Papiere vorlegen (könnte sich AZ bei RMR auch gut vorstellen) [flash] , um die Ausweise samt einem Kompliment zurückzugeben. Die leutselige Art des jungen Wachtmeisters kommt auch bei Touristen an. Patrouilliert Guba am Brandenburger Tor, wird er nicht selten von Auswärtigen angesprochen. Den richtigen Weg soll er ihnen zu den Sehenswürdigkeiten weisen, am liebsten gleich den Stadtführer spielen. „Da habe ich mir kurzerhand einen Stadtplan gekauft.“ Den hat Guba – wie seine Kamera in einer extra erworbenen Kartentasche – stets griffbereit.

Längst haben sich die Kollegen an seine Leidenschaft gewöhnt, jede kleine Begebenheit auf Film festzuhalten. Ohne Scheu posieren sie vor seinem Objektiv, präsentieren ihre Waffen und Stahlhelme, salutieren scherzhaft vor einer sich im Wind blähenden Fahne der Freien Deutschen Jugend, der Staatsjugend der DDR. Peter Guba bewahrt in etlichen drei- und vierminütigen Schwarz-Weiß-Sequenzen ein wichtiges Stück Zeitgeschichte.

Am 13. August 1961 wird fast alles anders. Guba hat am Tag des Mauerbaus zufällig Wochenendurlaub. Er sitzt vor dem Fernseher in der elterlichen Wohnung, als er erfährt: Zwischen Mitte und Wedding, Treptow und Neukölln werden Betonpfosten in den Boden gestemmt und Stacheldraht gespannt. „Jetzt können wir sicher nicht mehr zu Tante Lotte fahren, hat meine Mutter die Nachricht aufgeregt kommentiert.“ Der Junior winkt allerdings gelassen ab. „Ich war davon überzeugt, dass sich in Kürze alles regulieren wird.“ Mit der neuen Lage kann sich Guba schnell arrangieren. Sein Leben spielt sich im Ostteil Berlins ab, dort, wo Freunde und Verwandte wohnen. „Arbeiten muss ich hier wie dort“, nimmt der junge Mann den Einschnitt pragmatisch. Dass sich die Farbe seiner Uniform ändert, wurmt ihn da schon mehr. „Statt der Volkspolizei unterstanden wir im Oktober 1961 plötzlich den Grenztruppen. Ob wir damit einverstanden sind, hat uns zuvor niemand gefragt.“

Wenn Guba nun an den geschlossenen Grenzübergängen mit der Waffe über der Schulter ausharrt, fliegen Schimpfworte von West-Berliner Seite zu ihm herüber, gelegentlich auch Pflastersteine. „Die Zeit, in der eine West-Berlinerin zu Weihnachten mit einer Tafel Schokolade vorbeikam, war endgültig vorbei.“ Was Guba nicht davon abhält, weiterhin zu filmen. Nun jedoch besorgt er sich die Genehmigung seiner Vorgesetzten. Denn Kollegen haben ihn mehrfach gemahnt. Guba ist verunsichert. „Wegen der allgemein angespannten Situation wollte ich mich lieber zurückversichern.“ Mit der Leidenschaft des Hobby-Filmemachers, der davon schwärmt, das Davor und Danach an den Grenzanlagen zu dokumentieren, überzeugt er seinen Kompaniechef, drei Zugführer, auch einen Politoffizier. „Selbst meine fertigen Filme musste ich nicht vorlegen. Eigentlich unglaublich“, sagt Guba.

Die Volkspolizei bleibt für ihn ein Gastspiel. Der Bootsbauer will zur See, bewirbt sich Anfang 1962 bei der staatlichen Reederei. „Schon im Juni war ich Matrose.“ Die nächsten zehn Jahre fährt er zur See, ist auf der Ostsee wie auf dem Indischen Ozean unterwegs. Seine Prioritäten haben sich längst verschoben. Guba ist verheiratet, wird dreimal Vater. Was er auf Reisen sieht, hält er nach wie vor auf Film – nun ausnahmslos auf Farbmaterial – fest.
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... ollen.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Dieter1945 » 26. Juli 2011, 19:02

augenzeuge hat geschrieben:Folgender Artikel könnte besonders Dieter interessieren.... [denken]

Peter Guba war Grenzer und Hobbyfilmer. Seine Aufnahmen aus den 60er Jahren sind heute Zeitdokumente.
Einsatzort Wollankstraße: Hier wie an vielen anderen Orten Berlins dreht Peter Guba mit seiner Kamera. Seine kurzen Filme haben den Weg ins Deutsche Historische Museum und die Stiftung Berliner Mauer gefunden


http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... ollen.html



Vielen Dank Augenzeuge für das Einstellen des Artikels. [crazy]
Habe sofort bei Herrn Peter Guba angerufen. Am 11. August werde ich ihn bei der Uraufführung des Films "Bis an die Grenze - der private Blick auf die Berliner Mauer" in der Urania treffen.

Seine Filme kann man sich auch auf der Home page des Deutschen Museums anschauen:

http://www.dhm.de/filmarchiv/02-mapping ... n/peter-g/

Gruß Dieter
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon ex-maja64 » 26. Juli 2011, 22:09

Dieter1945 hat geschrieben:Vielen Dank Augenzeuge für das Einstellen des Artikels. [crazy]
Habe sofort bei Herrn Peter Guba angerufen. Am 11. August werde ich ihn bei der Uraufführung des Films "Bis an die Grenze - der private Blick auf die Berliner Mauer" in der Urania treffen.

Seine Filme kann man sich auch auf der Home page des Deutschen Museums anschauen:

http://www.dhm.de/filmarchiv/02-mapping ... n/peter-g/

Gruß Dieter



Iss ja erstaunlich!! [shocked]
Wenn ich mich recht entsinne, war der gute Mann voriges Jahr beim Forentreffen (Anfang März) in Berlin dabei. Ihn dürften also schon einige User hier persönlich kennen.
Vielleicht meldet sich ja der Zaunkönig auch hier bei uns an. [wink]


Mario
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon manudave » 27. Juli 2011, 16:46

Stimmt Maja !!!
Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Er hatte damals unzählige Schwarz-Weiß Fotos dabei - das war ein Highlight. Turte dürfte sich auch noch gut daran erinnern. Zaunkönig war am Freitag in der Gaststätte beim ersten Treffen - und da stank es fürchterlich nach Frittenfett. Rainman kennt wirklich merkwürdige Läden... [flash]
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 27. Juli 2011, 18:02

Wilfried Mommert drückt und schiebt, doch er kommt nicht voran. Er steckt fest, zwischen den beiden deutschen Staaten. Eingeklemmt zwischen Ost und West. Menschenmassen drängen sich durch den schmalen Durchgang in der Invalidenstraße, blockieren sich gegenseitig. Alle wollen raus aus der DDR. Schnellstmöglich. Nur Wilfried Mommert möchte an diesem 9. November 1989 nach Ost-Berlin. „Der Reflex des eingemauerten West-Berliners“, sagt der heute 66 Jahre alte Journalist.

Die DDR ist kaum gegründet, da führte die Freie Deutsche Jugend (FDJ) die Blauhemden ein. Kinder in Uniform? „Nicht noch einmal!“, beschließen Wilfried Mommerts Eltern. Sie flüchten mit dem damals sechsjährigen Sohn aus Nauen nach Spandau, West-Berlin. Nationalsozialismus und Hitler haben die Eltern geprägt. Sie wollen die Freiheit kein zweites Mal verlieren. Am 13. August 1961 passiert es wieder. Wilfried Mommert, inzwischen 16 Jahre alt, ist noch im Halbschlaf, als er die Nachricht von der Schließung der innerdeutschen Grenze hört. Das Brandenburger Tor werde abgeriegelt, heißt es in den Nachrichten. Es ist Sonntag. Die Familie ist erst in der Nacht aus den Ferien im Sauerland zurückgekehrt. Doch für Wilfried Mommert ist schnell klar: „Da muss ich hin! Da ist was los!“ Am späten Vormittag eilt er zum Brandenburger Tor. Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen, Stacheldraht, Absperrungen und Wasserwerfer. „Ich war völlig von den Socken. Was ist jetzt los? Ist jetzt Krieg?“, erinnert sich Wilfried Mommert.

Entsetzt verfolgt der Jugendliche die Abriegelung der Grenze. Versucht, die Ereignisse zu begreifen. Irgendwann kommt die Wut. Mit anderen West-Berlinern fordert er: „Werft die Waffen weg! Stacheldraht weg!“ Und direkt an die DDR-Grenzsoldaten gerichtet: „Schämt euch!“ Wilfried Mommert bleibt den ganzen Tag vor dem Brandenburger Tor. Erst abends diskutiert er seine Erlebnisse mit der Familie. Die Eltern und die fünf Brüder sind sich einig: Der Bau einer Mauer mitten durch Berlin – unvorstellbar. „Wir dachten, es sei eine vorübergehende Sperrmaßnahme“, erinnert sich Wilfried Mommert. Ein Irrtum. Die Familie ist nun in West-Berlin von den Verwandten abgeschnitten. Wochenendausflüge zu ihnen nach Grünau – „unsere zweite Heimat“ – sind nicht mehr möglich. „Wir fingen an, uns im Kreis zu drehen“, erinnert sich Mommert. Die Wut des West-Berliners auf das SED-Regime wächst. Auch auf die Amerikaner, denn „die taten ja nichts“.

Am 17. August 1962 dann der Tod Peter Fechters. In der Zimmerstraße unweit des Axel-Springer-Verlags erklimmt der 18-Jährige die Mauer. Ohne Vorwarnung eröffnen die DDR-Grenzsoldaten das Feuer. Der Flüchtling fällt auf die Ost-Berliner Seite, liegt über eine Stunde verletzt im Todesstreifen – bis er schließlich verblutet ist. „Diese Eindrücke ließen mich nicht mehr los“, sagt Mommert. Unter die Hilflosigkeit Mommerts, ebenfalls fast 18 Jahre alt, mischen sich Wut und Empörung: „Es war unfassbar, dass mitten in der Stadt ein Junge einfach so verblutet.“ Wilfried Mommert mischt sich am Grenzübergang Checkpoint Charlie unter die Demonstranten, brüllt: „Mörder, Mörder!“ Er sieht, wie Jugendliche Volkspolizisten mit Steinen bewerfen. Die Grenzsoldaten der DDR wehren sich mit Tränengas. Die West-Berliner Polizei beendet die Auseinandersetzung schließlich. Mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln drängt sie die Demonstranten auseinander. West-Berliner gegen West-Berliner – „das war der eigentliche Schock“.

Dann kommt die Gewöhnung. Wilfried Mommert arrangiert sich mit der Mauer, dem eingeschränkten Leben in West-Berlin. Er heiratet und bekommt zwei Kinder. Nach seiner Lehre zum Verlagskaufmann beim Ullsteinverlag volontiert er bei der Nachrichtenagentur dpa, wird Kulturjournalist.

Erst am 9. November 1989 kehrt die Freiheit zurück. Die Pressekonferenz von Günter Schabowski verfolgt Mommert gelangweilt zu Hause in Frohnau. Seine Schwiegereltern sind zu Besuch, der Fernseher läuft nebenbei. Irgendwann fallen die entscheidenden Worte: „Ab sofort“, stammelt Schabowski. Die DDR hat ein neues Reisegesetz, doch Mommert glaubt ihm nicht: „Was redet der da für ein wirres Zeug?“ Vor Mitternacht fährt er doch an die Grenze. In die Invalidenstraße, nicht ans Brandenburger Tor. Zu gefährlich. „Das war kein ordnungsgemäßer Übergang“, sagt Mommert. „Da bin ich Preuße.“ Die Grenze in der Invalidenstraße kennt er, hat sie beruflich oft passiert. Hier macht er als Privatmann den ersten Schritt nach Ost-Berlin.
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 27. Juli 2011, 18:04

Zum Mauerbau-Jahrestag ist eine Schweigeminute in der Stadt geplant.

Am 13. August um 12 Uhr soll es ruhig werden in Berlin. In Gedenken an den 50. Jahrestag des Mauerbaus haben der Förderverein Berliner Mauer und die Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft zu einer Schweigeminute aufgerufen. Die Aktion „Eine Minute für die Freiheit“ soll an die Teilung der Stadt und ihre Folgen für alle Berliner in Ost und West erinnern. Der Senat unterstützt die „begrüßenswerte Idee“, die dazu beitragen könne, „dass wir am 13. August ein würdiges Gedenken haben an diesen schlimmen Tag der Stadtgeschichte“, sagte Senatssprecher Richard Meng dem Tagesspiegel.

Berlin soll an diesem Tag nicht nur still sein, sondern kurzzeitig still stehen.

Auch die BVG hat sich dem Aufruf angeschlossen und wird um 12 Uhr alle U-Bahnen und Busse an der nächstgelegenen Haltestelle für drei Minuten anhalten lassen.
Eine Lautsprecherdurchsage soll den Fahrgästen mitteilen, dass sich die Verkehrsbetriebe an der Schweigeminute zum Gedenken an den Mauerbau beteiligt. „Wir sind ein Unternehmen, das die Teilung unmittelbar erfahren hat“, sagt Pressesprecherin Petra Reetz. Sie erinnert an die Zugführerkollegen aus West-Berlin, die jahrelang durch „Geisterbahnhöfe“ im Ostteil der Stadt brausen mussten, ohne anzuhalten. „Aber wir sind auch ein Unternehmen, das dazu beigetragen hat, dass die Teilung schneller überwunden wurde“, so Reetz. Sehr schnell seien die U-Bahnen wieder in ganz Berlin gefahren und die Verkehrsnetze wiederhergestellt worden. In der Tat hielten nur zwei Tage nach dem Mauerfall wieder Züge an der U-8-Haltestelle Jannowitzbrücke, auf der Mittelebene hatte die DDR schnell eine provisorische Passkontrolle eingerichtet.

Es soll eine Minute innegehalten werden – „im Gedenken der Opfer von Mauer und kommunistischer Gewaltherrschaft, aber auch in Erinnerung an die mutigen und gewaltfreien Bürger, die die SED-Diktatur stürzten“, sagt Pfarrer Manfred Fischer, Pfarrer der Versöhnungsgemeinde und Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte Berliner Mauer. Auch der Tagesspiegel unterstützt die Aktion und ruft seine Leser auf, ebenfalls einen Moment lang innezuhalten.

Die Aktion folgt dabei einem historischen Vorbild. Einen Tag, nachdem die DDR-Führung die Sektorengrenze der Stadt mit Barrikaden und Stacheldraht abriegeln ließ, kam es am 14. August in West-Berlin zu Kundgebungen.

Die Idee hat ein lebhaftes Echo ausgelöst. Neben der BVG hat sich auch die Stiftung Berliner Mauer in der Bernauer Straße angeschlossen. Hier, wo auch die offizielle Gedenkveranstaltung mit Bundespräsident Christian Wulff stattfindet, soll die Schweigeminute in das Programm der Veranstaltung integriert werden. Im Anschluss an die einminütige Stille soll von einem Chor das Lied „Die Gedanken sind frei“ gesungen werden. Der Ökumenische Rat der Kirchen Berlins hat zudem alle Gemeinden gebeten, um 12 Uhr Glocken erklingen zu lassen, um die Menschen zur Schweigeminute einzuladen. „Viele Kirchengemeinden auf beiden Seiten der Mauer haben sich in den Jahren von 961 bis 1989 bemüht, Partnerschaften und Beziehungen zueinander aufrechtzuerhalten, teilweise unter schwierigsten äußeren Umständen. Sie haben so auf ihre Weise dazu beigetragen, dass wir heute des 13. August in Freiheit gedenken können“, sagte die Vorsitzende des Ökumenischen Rats, Friederike von Kirchbach. Auch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und das Bürgerbüro zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur unterstützen den Aufruf. Der Berliner Einzelhandelsverband wird die Aktion ebenfalls mittragen. Hauptgeschäftsführer Niels Busch-Petersen sicherte zu, seine Mitglieder auf die Aktion hinzuweisen.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/naech ... 30864.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 28. Juli 2011, 18:29

"Steh auf! Die machen dicht!"

Unaufhörlich trommelt der Regen auf das Zeltdach, über dem Campingplatz von Binz hängen graue Wolken. Manfred Roseneits Zuversicht, dass dieser trostlose Sommer auf Rügen doch noch schön werden könnte, schwindet täglich. Mit seinem Transistorradio, für 100 Mark in West-Berlin gekauft, empfängt der 22-Jährige den Deutschlandfunk.

Der Wetterbericht meldet Sonnenschein im Norden Skandinaviens. Aber wie soll er dorthin kommen, als Ost-Berliner?

Tagträume auf der klammen Luftmatratze: Wie das wohl wäre - in Saßnitz die Fähre nach Trelleborg zu nehmen, und dann weiter zum Polarkreis! In seinem Zelt kommt sich Roseneit wie ein Gefangener vor. Die Träumerei wird immer wieder unterbrochen - dröhnende Motoren-Geräusche von Militärfahrzeugen sind zu hören. "Auf einmal gab es massive Truppenbewegungen auf der Insel", erzählt der heute 72 Jahre alte Rentner in einem Steglitzer Lokal. Parallel verkündet der RIAS steigende Zahlen von flüchtenden DDR-Bürgern.

Roseneit ist beunruhigt. Er will zurück zu seiner Familie, schnell. Er schnürt das Zelt auf seinen Motorroller und fährt im Dauerregen nach Berlin. Wieder zu Hause in Altglienicke: Die Sonne scheint an diesem Morgen des 13. August 1961. Endlich. Roseneits Schwester hämmert an die Zimmertür ihres Bruders. "Steh auf, die machen die Grenze zu West-Berlin dicht!"

Minuten später erreicht der junge Mann die Schleichwege des kleinen Grenzverkehrs nach Rudow. Entsetzt sieht er, wie Stacheldraht ausgerollt wird. "Jetzt bist du hier eingesperrt", schießt es ihm durch den Kopf. Und seine Arbeit? Als Grenzgänger prüft er bei einer Charlottenburger Firma Fernseh-Röhren.

"Ich wollte unbedingt rüber, jetzt gleich", erzählt Roseneit. Nun muss er einen anderen Weg finden. Die Kiefholzstraße, Ecke Dammweg fällt ihm ein. Dort, in Treptow, ist er als Junge oft mit dem Fahrrad gewesen. Nun fährt er mit dem Motorroller hin. "Eine Straßenseite bildete die Grenze zu Neukölln. Am Dammweg war die Straße abgeriegelt worden - nur ein kleiner Fußweg führte noch von Ost nach West." Roseneit verharrt vor dem Stacheldraht, überlegt verzweifelt, was er machen soll.

Auf der westlichen Seite stellt ein Filmteam gerade seine Kamera auf. "Ja, dachte ich, filmt nur, was die mit uns hier machen!" Sein Blick wandert zur Lücke in der Grenze, durch die er in die Freiheit laufen könnte. Aber er hat nichts dabei, keine wichtigen Unterlagen, keine persönlichen Dinge. Roseneit fährt noch einmal zurück. In Altglienicke sitzt die Mutter im Garten und stopft Socken, als ihr Sohn auf sie zustürmt. "Mutti, ich muss gehen!" Manfred Roseneit schießen Tränen in die Augen, als er sich an das Schluchzen seiner Mutter erinnert. "Blitzschnell packte ich dann meine Papiere zusammen. Mein Radio nahm ich auch mit." Wieder in Treptow, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen: Die letzte Lücke ist inzwischen auch dicht. Voller Panik fährt er mit dem Motorroller zu den nahen Laubenpiepern, sein jüngerer Bruder Joachimsitzt hinter ihm. Er überlegt, ob er mit in den Westen geht, ringt noch mit sich - er ist frisch verliebt. In einem Garten entdecken die beiden einen hochgebogenen Drahtzaun. Manfred Roseneit robbt in die Freiheit. Bruder Joachim bleibt zurück.

Mit der S-Bahn fährt er zu seiner Patentante nach Friedenau, bei der er unterkommt. Im Herbst wechselt der Rundfunkmechaniker seine Arbeitsstelle und geht zu Bosch, wo er elektronische Anlagen prüft. "Beruflich lief es bestens, aber meine Familie vermisste ich sehr."

Vier Monate nach seiner Flucht bekommt Roseneit, inzwischen West-Berliner, von einem Bekannten den Tipp, doch mal ins Kino zu gehen. Er sei in der UFA-Wochenschau zu sehen, die damals noch vor jedem Film läuft. "Vier Monate nach meiner Flucht sah ich in einem Rückblick zum 13. August in Überlebensgröße mein verzweifeltes Gesicht", erinnert sich Manfred Roseneit. Er nimmt Kontakt zur Ufa auf, wird sofort zu neuen Wochenschau-Aufnahmen nach Hamburg eingeladen. "Im ersten Bericht war ich nur der unbekannte junge Mann aus dem Osten", sagt er. Im zweiten Film schildert er die Umstände seiner Flucht.

Und das tut er heute noch, als Mitglied der Zeitzeugen-Börse. "Ich gehe in die Schulen, um Geschichte lebendig zu machen." Der engagierte Rentner bedauert, dass die Nachfrage ausgesprochen gering sei. Aber er ist auch beliebt: "Sehr interessiert sind dagegen immer die Abitur-Klassen einer Wiesbadener Schule, die ihre Abschluss-Fahrt regelmäßig nach Berlin machen. Ich zeige denen den Ufa-Film und gehe mit ihnen ins Mauer-Museum", sagt der heute 72 Jahre alte Rentner.

In der Hauptstadt und in Brandenburg wüssten die meisten Schüler dagegen fast nichts über ihre jüngste Geschichte, meint Roseneit kopfschüttelnd. Steigt auf seine schwere Boxer-BMW und fährt davon.
http://www.morgenpost.de/printarchiv/be ... dicht.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Nonkonform » 28. Juli 2011, 21:28

augenzeuge hat geschrieben:Und das tut er heute noch, als Mitglied der Zeitzeugen-Börse. "Ich gehe in die Schulen, um Geschichte lebendig zu machen." Der engagierte Rentner bedauert, dass die Nachfrage ausgesprochen gering sei. Aber er ist auch beliebt: "Sehr interessiert sind dagegen immer die Abitur-Klassen einer Wiesbadener Schule, die ihre Abschluss-Fahrt regelmäßig nach Berlin machen. Ich zeige denen den Ufa-Film und gehe mit ihnen ins Mauer-Museum", sagt der heute 72 Jahre alte Rentner.

In der Hauptstadt und in Brandenburg wüssten die meisten Schüler dagegen fast nichts über ihre jüngste Geschichte, meint Roseneit kopfschüttelnd.


Das Thema deutsche Teilung verkommt zum Randthema. Da schlachten wir lieber das Thema III.Reich bis zum Erbrechen aus. Da hat man doch tatsächlich den Eindruck, deutsche Geschichte bestünde nur aus diesen 12 unseligen Jahren.

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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 30. Juli 2011, 08:41

Tatort Bernauer Straße Genau hier flüchtete Peter Hohmann am 14. August 1961. Seine Schwester Ingeborg holte er mit einem falschen Ausweis nach

Es ist wie das Geräusch von damals, dieses dröhnende Hämmern von Pressluftbohrern. Peter Hohmann und Ingeborg Hiekel-Henning stehen an der Bernauer Ecke Brunnenstraße. Genau dort, wo Hohmann am 14. August geflüchtet ist – und wo seine Schwester verzweifelt zurückblieb. Wie damals wird hier heute gebaut. Doch diesmal erweitern die Arbeiter nur die Gedenkstättenanlage der Stiftung Berliner Mauer. Für die Geschwister ist es die passende Kulisse für eine Reise in die Vergangenheit.

„Ich wohnte damals in Hohenschönhausen und arbeitete am Kurfürstendamm, im Hotel am Zoo“, erzählt der heute 69-jährige Hohmann, „ich war also ein Grenzgänger.“ In der Nacht zum 13. August zechte der junge Kellner mit seinem Freund und Kollegen Peter Schiemann in einer Kneipe gegenüber dem Theater des Westens. Mitten in der Nacht kamen Gäste herein, die aufgeregt erzählten, dass DDR-Grenztruppen die Grenze abriegeln. Die S-Bahn fahre schon nicht mehr. „Mein erster Gedanke war: Das wird eine Blockade wie 1948/49 sein.“ Mit einem Taxi fuhren die beiden Ost-Berliner zum Brandenburger Tor; im Tiergarten verbuddelten sie ihr Trinkgeld in Westmark. Dann passierten die Freunde die hell erleuchteten Stacheldraht-Sperren und liefen durch das Tor gen Osten. „Was für ein Fehler! Aber ich dachte, morgen wäre auch noch Zeit, sich abzusetzen.“

Am folgenden Tag jedoch war guter Rat teuer. „Dabei hatte ich genau einen solchen Rat schon Monate zuvor von Ludwig Erhard persönlich bekommen, aber leider nicht angenommen. Ich bediente den Bundeswirtschaftsminister oft im Hotel am Zoo, wo er in Berlin stets wohnte. Häufig brachte ich ihm auch Zigarren aufs Zimmer. Er meinte, ich solle doch bloß rüber in den Westen kommen.“

Zwar hatte der Hotelkellner schon mit diesem Gedanken gespielt, den entscheidenden Schritt aber immer wieder verschoben. Jetzt war der 19-Jährige abgeschnitten von seiner Arbeit. Vorbei schien die Zeit, da er während der Filmfestspiele Stars wie Gina Lollobrigida bediente, aber auch dem „Regierenden“ Willy Brandt oder Konrad Adenauer das Essen servierte. „Brandt kippte einen Kümmel nach dem anderen. Und den Platz des Kanzlers schmückte ich immer mit Rosen.“ Das alles sollte nun vorbei sein? Die Kino-Besuche am Kudamm, die Kaugummis und Tarzan-Hefte? Die Trinkgelder?

Daheim in Hohenschönhausen beriet er sich mit seiner Schwester. „Sie hatte einen Freund im Wedding und wollte ebenso flüchten wie ich.“ Die Geschwister fuhren zum Sophienfriedhof an der Bernauer Straße, dessen Mauer die Grenze zum Westen bildete. „Wir wollten darüber klettern. Um keinen Verdacht zu erregen, besorgten wir uns Blumen und gingen damit auf das Tor zu. Aber schon davor wiesen Grenzposten uns ab.“ Also weiter, zur Kreuzung Bernauer/Ecke Brunnenstraße. Hohmann wandte sich an einen der sechs Volkspolizisten, die breitbeinig auf der Brunnenstraße standen. „Ich behauptete, dass ich hier von meinem Weddinger Schwager seinen Hund übernehmen sollte. Eigentlich wollten wir dann gleich an den Grenzposten vorbeirennen, aber der Vopo ließ sich erst noch meinen Ausweis zeigen.“

In diesem Augenblick setzte hinter ihnen ein Mann zum Spurt an, im Zickzack durch die Sperren. „Der Vopo hinterher, meinen Ausweis immer noch in der Hand. Auch die anderen Grenzposten nahmen die Verfolgung auf.“ Peter Hohmann reagierte blitzschnell und sprintete los. Zurück blieb Ingeborg: „Auf einmal sah ich, wie Vopos einen Mann im hellen Trenchcoat festnahmen. Peter trug so einen Mantel!“ Entsetzt fuhr Ingeborg heim. „Ich heulte, bis am Nachmittag mein Freund vor der Tür stand – West-Berliner durften ja noch eine Woche nach dem 13. August in den Ostteil. Er bestellte mir Grüße von Peter!“ Einen hellen Trenchcoat hatte auch der Mann getragen, der als erster losgerannt war. Er hatte weniger Glück gehabt.

Beim nächsten Besuch brachte Ingeborgs Freund zwei Tage später den West-Ausweis einer Kollegin mit, die ihr ähnelte. „Peters Freundin Brigitte war Friseurin und machte mir die Haare zurecht wie auf dem Foto.“ Dann fuhr Ingeborg mit ihrem Freund zum S-Bahnhof Friedrichstraße. „Dort musste ich drei Kontrollen passieren.“ Ihr späterer Mann hatte seinen Hund dabei, der einen Maulkorb trug. „Um mein Gesicht zu verbergen, beugte ich mich immer wieder herunter und tat so, als säße der Beißschutz nicht richtig. Endlich konnten wir in die S-Bahn steigen und in die Freiheit fahren.“

Nun waren zwar die Geschwister glücklich vereint im Westen. „Brigitte mussten wir aber auch noch irgendwie herüberholen“, erzählt Hohmann. Er wohnte inzwischen am Gleimtunnel und stieg in der Bernauer Straße oft auf die Aussichtsplattform, um seiner Freundin wenigstens zuzuwinken. „Und dann verlobten wir uns: Eine befreundete Amerikanerin brachte ihr von mir den Ring, und so feierten wir eines Abends – ich auf dem Dachgarten des Hilton-Hotels in der Budapester Straße, sie auf dem Dachgarten des Hotels Stadt Berlin am Alex, jeder mit ein paar Freunden.“ Und mit sehnsuchtsvollen Gedanken, die über die stetig wachsende Mauer gehen.

Wenig später verabreden sich die beiden an der Grenze zwischen Neukölln und Treptow. Hohmann: „An der Heidelberger Ecke Elsenstraße stand noch keine Mauer, nur ein Zaun. Als wir uns dort trafen, kam ein Volkspolizist vorbei, den wir zufällig vom Tanzen kannten. Er hatte gesehen, dass Brigitte bis zu dem Hauseingang vorgelaufen war, der gleich an die Sperren grenzte – was für uns beide in Rufnähe, aber nur Hausbewohnern erlaubt war. Im nächsten Moment erkannte der Vopo mich auf der anderen Seite. Er war verblüfft und wollte wissen, seit wann ich denn im Westen sei.“

Peter Hohmann erzählte ihm von seiner Flucht und fragte, ob Brigitte am nächsten Abend um 18 Uhr wieder herkommen dürfe. Kurzes Kopfnicken. Das sei kein Problem, er habe dann wieder Dienst. „Brigitte informierte gleich meinen Freund Peter Schiemann.“ Es war der 5. Oktober 1961 und es dämmerte schon, als sich Hohmann von West-Berliner Seite aus mit einer großen Drahtschere am Zaun an der Heidelberger Straße einfand. An der verabredeten Stelle kam bald der Vopo auf seiner Streife vorbei: „Wenn ihr was vorhabt – ich will auch!“, rief er seinem Bekannten zu.

Hohmann begann sofort, den Stacheldraht zu zerschneiden. Ein kurzes Aufflammen seiner Zigarette war für Brigitte und Peter Schiemann, die im Hauseingang gewartet hatten, das Zeichen zur Flucht. „Sie liefen los, aber Brigitte stürzte. Ich zog sie durch das Loch im Stacheldraht zu mir herüber.“ In diesem Moment knallten Schüsse. Aber der Vopo hatte nur in die Luft gefeuert. Sofort darauf warf er die Waffe fort und folgte den beiden Flüchtlingen. „Wir alle konnten unser Glück kaum fassen. Gefeiert wurde bei mir zu Hause, Ingeborg war natürlich auch dabei.“ Kurz darauf bediente Peter Hohmann wieder einmal Ludwig Erhard. „Ich erzählte ihm, dass ich geflüchtet bin. Da schenkte er mir 20 Mark als Startgeld und gab mir wieder einen Rat: ,Immer schön sparen!' Daran habe ich mich bis heute gehalten.“
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... wurde.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 1. August 2011, 16:32

Durch ein Zaunloch in den Osten und zurück

In der Serie "50 Jahre Mauerbau" berichten Zeitzeugen über ihre Erlebnisse im geteilten Berlin. Monika Schönickes Vater besaß im Westen in einer Gartenkolonie ein Häuschen. Zehn Mal musste die damals 13-Jährige mit ihrer Schwester durch ein Loch im Zaun zurück in den Osten, um Hausrat zu holen.

Als die Welt den Atem anhält, liegt die 13-jährige Monika Jandek in einer Neuköllner Gartenkolonie und schläft. Zwischen Schrebergärten und Holzhütten besitzt ihre Familie im „Helmutstal“ ein kleines Steinhaus für die Sommermonate. Gerade anderthalb Zimmer groß, niedrige Decken, davor ein kleiner Garten.

Am 13. August 1961 werden die Jandeks um sieben Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. Ein lautes, durchdringendes Klingeln. Dreimal, viermal. Vor der Tür steht ein Nachbar aus der Kolonie. „Kommt raus, die DDR riegelt die Grenze ab, eure Tochter steht noch im Osten“, ruft er panisch. Die Gartenkolonie liegt direkt an der Kiefholzstraße, entlang der die Sektorengrenze verläuft. Vom Grundstück der Jandeks sind es knapp 200 Meter bis nach Ost-Berlin. Monikas Vater greift nach seinen Kleidern und rennt an die Sektorengrenze. Auf der Straße patrouillieren die Volkspolizisten, an einigen Stellen ist Stacheldraht verlegt. Der Blick des Vaters schweift über die skurrile Szene vor ihm. Und da stehen sie: Monikas 18 Jahre alte Schwester, daneben ihr Ehemann. Auf dem Arm hält sie die gemeinsame Tochter. Als sie hörten, dass die DDR die Grenze schließt, sind sie sofort gekommen. Monikas Vater entschließt sich: Er muss ihnen helfen. Sofort.
Flucht in den Westen

Aus eigener Erfahrung weiß der Vater, wie das Leben in der DDR organisiert ist. Bis 1958 war auch er ein Teil der sozialistischen Gesellschaft. Die Familie stammt aus Ost-Berlin. Die jüngste Tochter Monika wurde in Prenzlauer Berg geboren und verbrachte dort ihre Kindheit. Ihre Eltern hatten ein Friseur-Geschäft. 1957 zwingt der Staat die Jandeks, den Laden aufzugeben. Ein Jahr später flieht der Vater in den Westen und lässt seine Familie zurück. Er wird als politischer Flüchtling anerkannt. Noch ahnt die Familie nicht, dass einmal ein „antifaschistischer Schutzwall“ Berlin teilen könnte. So oft es geht, besuchen Mutter und Kinder den Vater im Westen. In der Sonnenallee in Neukölln hat er eine Wohnung gemietet. Das Friseurgeschäft, das er in Prenzlauer Berg aufgeben musste, baut er im Westen wieder auf. Im Sommer wohnt die Familie wie selbstverständlich für einige Wochen in der Gartenkolonie. Ein Stück Idylle im Kalten Krieg. Bis zu jenem Sonntag, dem 13. August 1961.

Als der Vater seine Tochter, den Schwiegersohn und das Baby am Grenzübergang sieht, rennt er zurück zum Steinhaus. Dort liegt der Seitenschneider. Mit der großen Zange spurtet Monikas Vater zurück zur Sektorengrenze und schneidet den Stacheldraht durch. Die DDR-Wachposten bekommen davon angeblich nichts mit. In Wirklichkeit lenken Bewohner der West-Kolonie sie ab, bestechen sie mit Kaffee, Schnaps und Zigaretten. Die junge Familie schlüpft durch das Loch im Zaun und verschwindet in Richtung Gartenkolonie.
Durch den Zaun und wieder zurück

Doch die Strapazen sind noch nicht vorbei. Monikas Schwester Inge hat alles in der kleinen Wohnung in Prenzlauer Berg zurück gelassen. Kleidung, Fotos, Papiere. Monika und ihre Schwester müssen wieder zurück, um die wichtigsten Dinge zu holen. Noch einmal schlüpfen sie durch den Zaun, in entgegengesetzter Richtung.

Richtig begreifen kann die 13-Jährige die Ereignisse dieses Tages nicht. Sie ist ein Mädchen ohne ausgeprägte politische Haltung. Monika ist Mitglied bei den Jungen Pionieren. Wenn sie die schmucke Uniform trägt, fühlt sie sich als Teil eines großen Ganzen. Die DDR sei der perfekte Staat, erklären ihr die Lehrer. Die spießbürgerliche Moral und Überwachung in der DDR kümmern sie nicht. Wenn Monika bei ihrem Vater im Westen ist, verblassen die Gruselgeschichten von der Bundesrepublik als „Hort des Faschismus“ sofort. Als Monika Jandek mit ihrer Schwester in der S-Bahn sitzt, fühlt sie sich wie in einem Abenteuerfilm. Sie spürt die Nervosität der Menschen. Am S-Bahnhof Prenzlauer Allee steigen sie aus und gehen zur Wohnung. Da nicht alles in den Koffer passt, muss Monika die Kleider der Schwester tragen. Fünf Teile übereinander.

Zehn Mal fahren die beiden hin und her. Von Treptow bis zur Prenzlauer Allee. Erst am Abend haben sie alles im kleinen Steinhaus in Neukölln untergebracht. Die Volkspolizisten lassen sie an der Kiefholzstraße passieren. Bis zum Schichtwechsel am Abend gelingt vielen Ost-Berlinern dort die Flucht in die Freiheit. Nach der Wachablösung lassen die Grenzer niemanden mehr durch.

Die Jandeks haben es noch geschafft, gerade so: Zwei Tage später melden sie sich im Flüchtlingslager in Marienfelde. Die ersten Schritte in der Freiheit fallen Monika Jandek nicht leicht. In der Schule vermisst sie das Kollektiv, schwänzt den Unterricht. Mit 15 beginnt Jandek eine Lehre als Schneiderin. Mit 19 wird sie schwanger, heiratet und nimmt den Namen Schönicke an. Mehrmals wagt sie den Schritt in die Selbstständigkeit, jedes Mal gibt sie wieder auf. Heute lebt Schönicke immer noch in Neukölln. Mit ihrer Vergangenheit hat sie abgeschlossen, mit nun 63 Jahre alt. In Prenzlauer Berg war sie schon ewig nicht mehr. Nach der Wende besuchte sie noch einmal ihr Geburtshaus. Und danach nie wieder.
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... rueck.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 2. August 2011, 20:38

Mauerbau zerstörte meine Existenz

Im Sommer des Jahres 1961 dachte Lothar Heinze, er wäre ein gemachter Mann. Vor 50 Jahren war er gerade erst 26 Jahre alt (Jahrgang 1935), glücklich verheiratet und besaß eine eigene Drogerie in Kreuzberg.

Dann kam der 13. August 1961. Der Mauerbau erschütterte Heinzes Existenz in ihren Grundfesten. Er verlor sein Geschäft, viel Geld und schließlich zerbrach seine Ehe. „Das habe ich den roten Brüdern ein Leben lang übel genommen“, sagt Heinze heute.

Seine Drogerie hatte er am 1. Juli 1959 in der Falckensteinstraße 44 eröffnet. Das war SO 36, direkt an der Oberbaumbrücke. Heinzes Schwiegervater hatte ihm 25.000 Mark vorgestreckt. Monatlich konnte er 1000 Mark abstottern. Viel Geld damals, aber der Umsatz war da. Heinze: „Es war eine einfache Rechnung, nach zwei Jahren war alles abbezahlt, so gut lief es.“

Geschäft und Familienleben liefen Hand in Hand. Heinze lebte mit seiner Frau Ingeborg in einer Wohnung direkt über dem Geschäft. Die Sektorengrenze war nur 100 Meter entfernt. Und die Nähe zur sowjetischen Zone war ein entscheidender Standortfaktor.

Heinze: „Viele Kunden kamen aus allen Ostbezirken, um bei mir einzukaufen. Meist größte Mengen, besonders beliebt waren Artikel, die es drüben nicht gab. Nivea- und Penaten-Creme, Tosca-Parfüm und 4711 für zwei Mark die Flasche. Auch Baby-Nahrung war sehr gefragt und mein Tee-Sortiment. Ich hatte sogar Stammkunden aus Sachsen.“

DDR-Bürger bezahlten in Ostmark, Heinze wechselte zum täglich aktuellen Umtauschkurs.

„Am Sonntag des Mauerbaus guckten wir am frühen Morgen von unserem Balkon. Die Stimmung im Kiez war bereits seit Tagen komisch, aber was dann passierte, davon ahnten wir nichts. An der Bornholmer Brücke sah man jetzt Vopos, die Stacheldraht ausrollten.“

Am nächsten Tag öffnete Heinze wie gewohnt sein Geschäft. Bereits am Abend stand fest, dass seine kleine Firma nun ein Problem hatte. „Vor der Mauer hatte ich Tagesumsätze von 200 bis 300 Mark, manchmal mehr das Doppelte. Jetzt zählte ich jeden Tag nur 30 bis 50 Mark in der Kasse.“

Denn Heinzes Geschäft lag nun „am Ende der Welt“ und Westkunden waren rar. „Erst als sie Pakete für die Verwandten zu packen begannen, erholten wir uns ein wenig. Aber schließlich war die Drogerie nicht mehr zu halten. Wir mussten aufgeben.“ Am 31. Dezember 1966 folgte der Total-Ausverkauf.

Der Bau der Mauer brach mir damals das Genick.

„Die Mauer hat mir als selbstständiger Geschäftsmann das Genick gebrochen“, sagt Lothar Heinze. „Und wenig später zerbrach darüber auch meine Ehe. Vorher standen wir von früh bis spät zusammen im Laden, das fehlte jetzt.“

Die meisten Wunden sind inzwischen verheilt. Heinze hatte bis zur Pension sein Auskommen, wurde kaufmännischer Angestellter bei einem Drogerie-Großhändler.

Was Lothar Heinze nie verließ: seine große Liebe Hertha BSC. Seit 1949 ist er Mitglied, ein Fußballverrückter, in guten und schlechten Zeiten.
http://www.bz-berlin.de/aktuell/mauerba ... 39403.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Nostalgiker » 2. August 2011, 21:55

Ich verkneif mir jetzt mal ein paar sarkastische Bemerkungen.

Nur soviel:
Seine Drogerie hatte er am 1. Juli 1959 in der Falckensteinstraße 44 eröffnet. Das war SO 36, direkt an der Oberbaumbrücke.
Bezirk Kreuzberg im Westen, im Osten Friedrichshain

Heinze lebte mit seiner Frau Ingeborg in einer Wohnung direkt über dem Geschäft.
Am Sonntag des Mauerbaus guckten wir am frühen Morgen von unserem Balkon. ..... An der Bornholmer Brücke sah man jetzt Vopos, die Stacheldraht ausrollten.“

Bornholmer Brücke: Verbindung zwischen Wedding (West) und Prenzlauer Berg (Ost), liegt vom Alex gesehen NNO
Oberbaumbrücke liegt vom Alex gesehen OSO

1961 waren in Berlin durchaus noch Kriegsschäden, trotzdem keine freier Blick von Kreuzberg in den Wedding über gut 10 Km.

Dramatische Geschichten zum Mauerbau finde ich gut, nur sollten die Fakten einer Überprüfung standhalten.

Geht nicht gegen Dich AZ, die BZ steht von Niveau etwas unter der Bild. Nur so als Info.

Gruß
Nostalgiker
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 3. August 2011, 16:24

Ja, Nostalgiker, ich stimme dir voll zu. Ich hätte es auch erkennen müssen....sorry. Aber gut das du es vermittelst!!
AZ
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Nostalgiker » 3. August 2011, 18:35

Hallo AZ,

brauchst Dich nicht bei mir zu entschuldigen, schließlich hast Du den Unsinn nicht verzapft.
Ich frage mich bloß bei solchen Beispielen wo haben die verantwortlichen Redakteure ihr Handwerk gelernt, wo und wie hat der Journalist der Story gegenrecheriert um die Aussagen des "Zeitzeugen" zu überprüfen.
Ein Blick auf den Stadtplan hätte gereicht.
Das ganze Läuft dann unter der Überschrift "Objektiver, wahrer Journalismus", aber das ist ein anderes Thema.

Gruß
Nostalgiker
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Icke46 » 3. August 2011, 18:43

Nun ja, das hatten wir ja schon mal - in dem Bericht, wo die junge Frau auf dem Lehrter Stadtbahnhof am 13.8.61 mehrere Stunden auf
die S-Bahn nach Lichtenrade gewartet hat - wahrscheinlich wartet sie heute noch....

Aber mit den Journalisten is heute wirklich nix mehr los - Hauptsache Papier füllen - ob die Fakten stimmen - wen interessiert das schon [mad] .

Gruß

icke
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 4. August 2011, 18:12

Zwei Mal versucht Heinz Kranaster nach dem Mauerbau die Flucht aus der DDR – und scheitert immer in letzter Minute.

Der Tag, an dem sein Leben einen unerwarteten Verlauf nimmt, beginnt mit einer erdrückenden, fast unheimlichen Stille. Es ist kurz nach Mitternacht, als Heinz Kranaster den blinden Onkel seiner Frau von der Pankower Wohnung zur S-Bahn-Station Wollankstraße bringt. Die ganze Familie hatte am 12. August den 69. Geburtstag seines Schwiegervaters gefeiert. Was die Geburtstagsgäste nicht ahnen: Heinz Kranaster hat nur noch dieses Fest in Pankow abgewartet – „um noch einmal mit allen zusammen zu sein“ – bevor er einen längst gefällten Entschluss wahr macht. Die Taschen sind gepackt, am Morgen will er mit seiner Frau und den zwei kleinen Töchtern in den Westen fahren – und bleiben. Der Onkel nimmt die letzte S-Bahn, es muss so gegen 0.45 Uhr gewesen sein. „Die Stadt schlief“, erinnert sich der heute 89-Jährige. Als um sechs Uhr das Telefon klingelt und ihm von Panzern, Stacheldraht und Kampfgruppen berichtet wird, denkt er nur eins: „Zu spät“.

Eine einzige vergilbte Schwarz-Weiß- Fotografie ist geblieben, von einem Leben, das anders geplant war. Es zeigt Heinz Kranaster, Ende der 50er-Jahre, in einem schlichten Büro bei der AEG im Wedding. Seit einigen Jahren war dort sein Arbeitsplatz. Er hat einen interessanten Posten in Aussicht. Dafür muss er aber im West-Teil der Stadt wohnen, das war die Voraussetzung. Bereits 1958 hatte er deshalb einen Antrag auf Umsiedlung gestellt. „Abgelehnt“ hieß es. Erst von der Bezirksbehörde, dann vom Präsidenten Wilhelm Pieck.

Die Tochter wird trotzdem in einer Weddinger Grundschule eingeschult und gehört wie ihr Vater zu den Grenzgängern. An einer Zukunft im anderen Teil der Stadt besteht längst kein Zweifel mehr. Eine Woche vor Mauerbau kommt die Familie aus dem Ostseeurlaub zurück und wird von den Schwiegereltern mit den Worten empfangen: „Wisst ihr nicht, was hier los ist?“ Alles deutet darauf hin, dass sich für Grenzgänger einiges ändern wird. Für die Familie ist klar: Sie müssen so schnell wie möglich übersiedeln. Nur noch die Geburtstagsfeier zum Abschied.

1950 ist der gebürtige Thüringer mit seiner Frau, die aus Berlin stammt und ihre erste Anstellung als Grundschullehrerin in seiner thüringischen Heimatstadt Monstab gefunden hat, nach Pankow zurückgekehrt. Sie finden eine 124 Quadratmeter große Ausbauwohnung, holen die Eltern seiner Frau zu sich, bekommen zwei Kinder.

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Heinz Kranaster macht 1952 seinen Diplom-Gewerbelehrer und fängt als Berufsschullehrer bei einem Elektroapparatewerke in Treptow an. „Ich habe immer meine Arbeit gemacht, aber mit dem Staat wollte ich nichts zu tun haben“, sagt er. Der Lehrer weigert sich, anlässlich der Wahlen mit seinen Schülern in West-Berlin Propaganda für die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) zu machen. Als 1953 die Panzer vor dem Werkseingang mit dem Kanonenrohr auf die Berufsschule zielen, bricht Kranaster den Unterricht ohne Erlaubnis des Direktors ab. Damit ist seine Karriere beendet. Ostern 1955 bekommt er die Kündigung. An seine Arbeitssuche im Ost-Teil erinnert er sich mit dem Satz: „Ich bin rum gelaufen wie ein Hund in der Wüste, der einen Baum sucht.“ Freunde vermitteln ihm dann den Job bei der AEG im Wedding, wo er im technischen Außendienst Kontakte zu Kunden und Zulieferern pflegt. Er bekommt eine Chance, aufzusteigen. Er soll sich um die Geschäftsverbindungen der AEG mit der DDR kümmern. Dafür ist die Familie bereit, in den Westen überzusiedeln.

Nachdem Heinz Kranaster am Morgen des 13. August den Hörer wieder aufgelegt hat, nimmt er seinen Schäferhund an die Leine, um sich selbst ein Bild von der Situation. In der Nähe seines Hauses hatten die Kampfgruppen begonnen, Straßen mit Stacheldraht zu trennen. „Mit meiner Frau allein hätte ich einen Durchschlupf gefunden und die Flucht gewagt“, sagt er. Doch mit den Töchtern, fünf und sieben Jahre alt, sei es ihm zu riskant gewesen. Am Nachmittag kommen Kollegen von der AEG und ein befreundeter Arzt aus West-Berlin, um „Kriegsrat“ abzuhalten. Die schmerzliche Einsicht: „Wir mussten uns damit abfinden.“

Einige Tage später hat Heinz Kranaster einen Termin im Rathaus in der Abteilung Volksbildung, wo alle Lehrer angestellt waren. Den Dialog kann der 89-Jährige heute noch wortwörtlich wiedergeben:

Frage: „Warum haben Sie beim Kapitalisten gearbeitet?

Antwort: „Weil ich hier keine Arbeit gefunden habe.“

Frage: „Sie hatten doch vorher Arbeit?“

Antwort: „Ich bin entlassen worden.“

Frage: „Würden Sie wieder Arbeit im demokratischen Sektor aufnehmen?

Antwort: „Gibt es eine andere Möglichkeit?“

Über alte AEG-Kontakte findet Heinz Kranaster einen Job als Projektierungsingenieur beim VEB Starkstromanlagenbau, der früher zur AEG gehörte. Chancen auf einen beruflichen Aufstieg hat er nicht.

Er bleibt seiner Haltung treu. Die Kinder sind nicht bei den Pionieren, am 1. Mai hisst er keine Fahne. Nur einmal geht er am „Kampftag der Arbeiterklasse“ zur Demonstration: „Aber nur bis zur ersten Straßenecke, dann bin ich abgebogen“, räumt Heinz Kranaster heute ein.

Noch ein zweites Mal will die Familie die Flucht wagen. 1962 erfahren sie vom Bau eines Tunnels an der Wollankstraße. Diesmal sind sie entschlossen, die Flucht mit den Kindern zu wagen. Doch kurz bevor der Tunnel fertig ist, bringt ein Rohrbruch das Bauwerk zum Einsturz. Der Osten ereifert sich über den Agententunnel. Nach dem zweiten missglückten Fluchtversuch, steht für Heinz Kranaster fest: „Ich muss jetzt hier klarkommen.“
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... y-End.html
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon Icke46 » 4. August 2011, 18:46

augenzeuge hat geschrieben:
Eine einzige vergilbte Schwarz-Weiß- Fotografie ist geblieben, von einem Leben, das anders geplant war. Es zeigt Heinz Kranaster, Ende der 50er-Jahre, in einem schlichten Büro bei der AEG im Wedding. Seit einigen Jahren war dort sein Arbeitsplatz. Er hat einen interessanten Posten in Aussicht. Dafür muss er aber im West-Teil der Stadt wohnen, das war die Voraussetzung. Bereits 1958 hatte er deshalb einen Antrag auf Umsiedlung gestellt. „Abgelehnt“ hieß es. Erst von der Bezirksbehörde, dann vom Präsidenten Wilhelm Pieck.



Kann mir das oben zitierte mal jemand erklären? Wieso stellt der Mann 1958 einen Antrag auf Umsiedlung? Er hätte nur seine Sachen nehmen und in die S-Bahn steigen müssen - oder übersehe ich da was?

Ist schon komisch, dass diese Berichte aus der Morgenpost - so interessant sie auch sind - immer wieder logische Fragen aufwerfen.

Gruss

icke
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 4. August 2011, 18:56

Ob das so einfach war, Icke, bezweifle ich. Zumal er ja nicht nur eine Tasche mitnehmen wollte, sondern sicher das gesamte Umzugsgut. Hierfür musste man den Antrag stellen.
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Re: 50 Jahre Mauerbau

Beitragvon augenzeuge » 6. August 2011, 09:35

Wohnen im deutsch-deutschen Niemandsland

Ursula Behrendt wohnte in der Bernauer Straße 44. Nach dem Mauerbau flüchtete ein Student über das Dach – und stürzte ab.

Als Ursula Behrendt zusammen mit ihrer Mutter am Morgen des 13. August das Haus in der Bernauer Straße 44 verlassen wollte, trafen sie unten auf Nachbarn. „Das könnt ihr vergessen“, sagten sie. Der Besuch von Freunden in Brieselang bei Berlin fand an diesem Tag nicht statt. Die 17-jährige Ursula Behrendt und ihre Mutter waren ratlos. Was hatte das alles zu bedeuten? Sie waren am Vorabend noch mit der U-Bahn problemlos von der Neuköllner Leinestraße zurück zur Bernauer Straße gefahren „Es war nichts zu erkennen“, sagt Behrendt heute.

Vom Tag des Mauerbaus an wohnten Mutter und Tochter im deutsch-deutschen Niemandsland. Denn das Haus Nummer 44 war das Eckhaus Bernauer Straße/Wolliner Straße. Es hatte zwei Eingänge. Einen zur Wolliner Straße, der sich von nun an östlich der gesperrten Sektorengrenze befand, und einen zur Bernauer Straße hin, der in den Westteil führte. „Das Haus gehörte zum Ostteil, wenn ich meinen Kopf aus dem Fenster hielt, war ich im Westen“, beschreibt Behrendt die bizarre Situation.

Ursula Behrendt und ihre Mutter betraten an diesem Morgen also wieder den Eingang in der Wolliner Straße, nahmen den West-Ausgang und fuhren mit der S-Bahn zu Onkel und Tante nach Wedding, um sich Rat zu holen. Das ging an diesem ersten Tag der Grenzsperrung noch problemlos. „Die Mauer“, sagte die Tante, „die Mauer richtet sich gegen uns im Westen, nicht gegen euch. Ihr könnt also zu Hause bleiben.“ Sonst hatten Mutter und Tochter keinen Ansprechpartner im Westteil der Stadt, so dass sie in ihrem Haus zwischen den Welten wohnen blieben.

In den folgenden Tagen und Monaten spielten sich dramatische Szenen in und vor ihrem Haus ab. Der Ausgang zur Bernauerstraße wurde von der Volkspolizei verrammelt. „Als sie anfingen, den Stacheldraht durch Betonsteine zu ersetzen, wusste ich, dass der Mauerbau etwas Dauerhaftes war“, erinnert sich Ursula Behrendt. Familien aus den ersten Etagen seilten sich über das Fenster in den Westteil ab. Aus den oberen Etagen ließen manche Nachbarn Körbe hinab, die vom Kioskbesitzer nebenan mit Lebensmitteln gefüllt wurden, bevor sie sie wieder hochzogen.

Die Bewohner des Hauses wurden nach und nach in andere Wohnungen verlegt. Zuerst die unteren Stockwerke, dann die oberen, die allgemeine Wohnungsnot ließ einen sofortigen Umzug aller auf im Grenzgebiet heimischen Berliner nicht zu. Die Behrendts wohnten damals ganz oben im 5. Stockwerk. Mutter und Tochter wagten nicht, aus fast 30 Metern Höhe in ein Sprungtuch der West-Berliner Feuerwehr zu springen. Und auch ein Abseilen kam für sie nicht in Frage. Denn tatsächlich handelte es sich bei Ursula Behrendts „Mutter“ nicht um ihre Mutter, sondern um ihre Großmutter. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, er war im Krieg als Soldat gestorben – kurz nach ihrer Geburt. Ihre Mutter starb 1948 an den Folgen einer Tuberkulose. Ursula Behrendt wuchs bei ihrer Großmutter auf, die sie schon immer „Mutter“ nannte. Als die Mauer gebaut wurde, war die Großmutter bereits 68 Jahre alt. An riskante Fluchtwege war nicht zu denken.

Ursula Behrendt erinnert sich an den 22. August 1961, als Konrad Adenauer vor ihrem Haus erschien und den Bewohnern auf der Ostseite signalisierte durchzuhalten. „Das hilft uns auch nicht weiter“, habe die Großmutter gesagt. Im gleichen Maß, wie die Grenztruppen die Maueranlage immer mehr sicherten, wurden die Fluchtversuche verzweifelter. Als Ursula Behrendt sich eines Tages im Herbst 1961 auf dem Weg zum Jahn-Stadion machte, hörte sie einen Schuss aus der Richtung ihrer Wohnung. Auch das noch, habe sie gedacht. Möglicherweise handelte es sich dabei um die Ereignis des 4. Oktober, als der Student Bernd Lünser versuchte, über das Dach des Hauses Nummer 44 in den Westen zu fliehen. Doch mittlerweile hatte die Volkspolizei auch Wachposten auf den Dächern der Grenzhäuser postiert. Es kam zu einer Verfolgungsjagd und Schießerei hoch über der Bernauer Straße. Lünser konnte sich losreißen und sprang vom Dach. Doch er verfehlte das Sprungtuch und war sofort tot.

Als Ursula Behrendt an diesem Abend wieder nach Hause kam, fand sie die Wohnung aufgebrochen und durchsucht. Zusammen mit ihrer Großmutter erstattete sie Anzeige. Vermutlich hatte die Polizei die Wohnung auf der Suche nach einem weiteren Flüchtling aufgebrochen. Die Strafanzeige lief ins Leere. Immerhin erhielten die Behrendts eine neue Tür und ein neues Schloss.

Am 13. Oktober, zwei Monate nach dem Bau der Mauer musste dann auch Ursula Behrendt zusammen mit ihrer Großmutter das Haus in der Bernauer Straße 44 verlassen. Ein Lastwagen der ostdeutschen Mineralölfirma Minol fuhr vor und lud die Habseligkeiten der verbliebenen Familien des Hauses auf. Sie wurden in die Griebenowstraße in Mitte einquartiert. Großmutter und Enkelin richteten sich endgültig auf ein Leben im Ostteil ein. „Von da an mussten wir mit den Wölfen heulen“, sagt Ursula Behrendt heute. Allerdings ohne sich zu verbiegen. Als eine Mitarbeiterin der Nationalen Front sie aufforderte, in der Nachbarschaft nach Fluchtwilligen Ausschau zu halten, erwiderte sie schroff: „Ich bespitzle doch keine Nachbarn!“ Die Großmutter musste schlichten.

Das Haus in der Bernauer Straße 44 geriet noch einmal in das Licht der Öffentlichkeit. Am 10. April 1962 plante der damals neunjährige Thomas Molitor zusammen mit einem Freund die Flucht, aus Enttäuschung darüber, dass er seine Großeltern im Westteil nicht mehr besuchen durfte. Er sprang vom Dach des Hauses in ein Sprungtuch der Feuerwehr. Sein Freund wagte den Sprung nicht und blieb zurück. Ein Jahr später starb er allerdings bei einem Fahrradunfall im Westteil der Stadt. Der mittlerweile Zehnjährige hatte einen Zug zu spät bemerkt und wurde überfahren.

Ursula Behrendt arbeitete zunächst als Stenotypistin in der Charité, später als Lohnbuchhalterin des Jugendreisebüros Jugendtourist. So konnte sie die osteuropäischen Bruderländer bereisen, bevor sie 1987 – als Höhepunkt – eine Spanienrundreise unternehmen durfte. Den Mauerfall am 9. November 1989 verpasste Ursula Behrendt. „Das kann er nicht gemeint haben“, dachte sie damals, als Günter Schabowski von der unverzüglichen Reisefreiheit sprach. Erst einen Tag später besuchte sie den Westteil der Stadt – und staunte darüber, wie sehr sich in den fast 40 Jahren der Teilung alles verändert hatte.

Ihre Großmutter hat diesen Tag nicht mehr erlebt. Sie war 1983 im Alter von 96 Jahren gestorben.
http://www.morgenpost.de/berlin/berline ... sland.html
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