Serie: 50 Jahre Mauerbau, Teil 2
"Du bleibst DDR-Bürger!"
Den schlechtesten Ratschlag seines Lebens bekam Manfred Migdal am 13. August 1961, gegen halb elf Uhr vormittags auf der Warschauer Brücke - und er befolgte ihn. "Das war der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Er hat mich fast zehn Jahre meiner Freiheit gekostet", sagte der 68-jährige Berliner heute im Rückblick.
Die Stimmung war gespannt an diesem Sonntagmorgen. Weil die SED in der Nacht schlagartig die innerstädtische Grenzen hatte absperren lassen, standen auf der Warschauer Brücke, der wichtigsten Zufahrt zur Oberbaumbrücke, Dutzende Mitglieder der "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" mit Maschinenpistolen. Ihre Aufgabe war es, niemanden von Osten her in die Nähe der Befestigungen vordringen zu lassen, die zur selben Zeit auf der Brücke errichtet wurden. Genau das aber wollten Migdal und seine Freunde aus dem Friedrichshainer Kiez. "Wir waren aggressiv, haben versucht, die Bewaffneten zu provozieren", erinnert er sich: "Aber die haben sich nicht provozieren lassen."
Auch nicht, als Migdal seinen West-Berliner Ausweis hochhielt: "Ich lebte ja schon seit einem Dreivierteljahr im Westen, bei meiner Tante, war dort sogar polizeilich gemeldet." Nie hatte er vor jenem Sonntag Schwierigkeiten gehabt bei den stichprobenartigen Kontrollen an der innerstädtischen Sektorengrenze, und auch in der vorangegangenen Nacht hatte er wieder einmal in der Wohnung seiner Mutter an der Warschauer Straße übernachtet. Die Männer von der "Kampfgruppe" reagierten auf Migdals Forderung nicht, ihn durchzulassen. Dann kam ein Offizier vorbei, sah den Ausweis an und empfahl, sich an das Ost-Berliner Polizeipräsidium in der Keibelstraße zu wenden: "Hol Dir dort einen Passierschein." Das klang überzeugend, denn der in der DDR aufgewachsene Jugendliche war gewohnt an alle möglichen Passierscheine.
Zuerst aber wollten seine Freunde und er noch ans Brandenburger Tor. Ihnen war klar, dass dort der Brennpunkt liegen musste. Sie nahmen die S-Bahn - deren Bahnhof Warschauer Straße war noch zugänglich, während die U-Bahn-Station der Linie B an der Warschauer Brücke schon hinter der Absperrung lag. "Wir stiegen an der Friedrichstraße aus, weil der Zug dort endete, und gingen zu den Linden. Aber an der Kreuzung kamen wir nicht weiter." Auch hier stand eine Postenkette, und davor hatten sich Hunderte Ost-Berliner versammelt, die immer lauter protestierten.
"Plötzlich flogen Steine, und mir wurde es zu gefährlich." Denn nun begannen Männer in Zivil, aus der Menge der Demonstranten echte oder vermeintliche Rädelsführer herauszuholen. "Sie warfen die Festgenommenen auf Laster. Da war mir klar, dass es sich um Stasi-Leute handeln musste." Mit der ostdeutschen Geheimpolizei aber wollte Manfred Migdal sich auf keinen Fall anlegen. Er erinnerte sich an den Rat des Kampfgruppen-Offiziers und machte sich auf den gut zwei Kilometer langen Weg zum Polizeipräsidium, um sich dort einen Passierschein zu holen. Er dachte nicht daran, noch einmal nach Hause zu gehen, um mit seiner Mutter zu sprechen oder sich im Radio zu informieren.
In dem riesigen Komplex, der früheren Verwaltung des Kaufhauskonzerns Karstadt, ging es aufgeregt zu. Erleichtert stellte Migdal fest, dass offenbar auch viele andere West-Berliner denselben Ratschlag bekommen hatten. "Ein Polizist nahm unsere Ausweise und verschwand. Dann dauerte es. Und dauerte." Schließlich wurde er aufgerufen. Ein Volkspolizist bat ihn, Platz zu nehmen. "Zuerst war der ganz freundlich zu mir und fragte mich: ,Was haben Sie in Ost-Berlin gemacht?'" Auf diese Frage hatte sich der junge Mann eine Antwort zurechtgelegt, die den Vorteil hatte, wahr zu sein: "Ich habe meine Mutter besucht!"
Plötzlich änderte sich der Tonfall der Befragung: "Und Du bist wirklich West-Berliner?" Noch immer verstand er die Brisanz der Situation nicht: "Ja, klar." Der nächste Satz traf ihn wie ein Blitz: "Nein, bist Du nicht. Du bist DDR-Bürger und Du bleibst DDR-Bürger!" Der Polizist grinste schief: "Und ich werde Dir auch sagen, wo Du herkommst! Du bist im November aus dem Jugendwerkhof Hummelshain abhauen!"
Schlagartig erkannte Manfred Migdal, dass er sich unversehens in größte Gefahr begeben hatte. Denn der DDR-Polizist hatte recht: Er war tatsächlich geflüchtet, aus einem Arbeitslager für angeblich schwer erziehbare Jugendliche Damals hatte er einen Passierschein so manipuliert, dass er damit nach Berlin fahren konnte. Dort war er bei Tante Erna untergekommen, der Schwester seiner Mutter, hatte sich eine Arbeit gesucht und ein Leben in Freiheit begonnen, wie er es zuvor nicht kannte.
Schon als 9-Jähriger war Manfred 1951 das erste Mal denunziert worden - von einer Frau im Haus seiner Mutter. "Sie war eine Hundertfünfzigprozentige, wollte aus mir unbedingt einen echten ,sozialistischen Jungen' machen." Deshalb passte der Nachbarin nicht, dass der Junge sich nach westlicher Mode kleidete und Witze über die DDR machte. "Ich wurde meiner Mutter weggenommen und in ein Sonderkinderheim gesteckt. Aber ohne Erfolg!" Als er wieder daheim war, malte er sich aus Aufsässigkeit den Namen "James Dean" auf seine Jacke.
"Besonders erbost hat die Nachbarin aber, dass ich mit ,westlicher Schundliteratur' zu tun hatte." In Wirklichkeit klaubte Manfred aus Mülltonnen ausgelesene Mickey-Mouse-Hefte und Romanheftchen, glättete sie und bot sie vor West-Berliner Kinos anderen Jugendlichen an, denen neue Hefte oft zu teuer waren. "Einen Groschen pro Stück habe ich verlangt und bekommen - das war ein guter Preis!" Comics, die er nicht verkauft hatte, nahm er mit nach Friedrichshain und schenkte sie seinen Freunden - was die Nachbarstochter ihrer Mutter verriet. So verschwand Manfred Migdal 1958 in Hummelshain. Und weil er sich als aufsässig erwies, bekam er keine Chance auf vorzeitige Entlassung. "Die dauernde ,Rotlichtbestrahlung' war unerträglich", erinnert er sich, "ich habe da immer voll gegen gehalten." Mehrfach versuchte er erfolglos auszubrechen; erst nach mehr als zwei Jahren gelang ihm die Flucht nach West-Berlin.
All das ging Manfred Migdal im Polizeipräsidium durch den Kopf, als der Volkspolizist ihm den Begriff Hummelshain an den Kopf geworfen hatte. "Ich stand unter Schock, dann kam die Wut - vor allem auf mich selbst." Der Volkspolizist ließ ihn in ein Barackenlager für gescheiterte Flüchtlinge einweisen; sein echter West-Berliner Ausweis wurde eingezogen. Gut eine Woche lang verhörten ihn Stasi-Leute, dann musste Manfred unterschreiben, dass er freiwillig in die DDR zurückgekehrt sei. "Dort erfuhr ich auch, wie die Volkspolizei auf meine Spur gekommen war: Mein Ausweis war erst wenige Monate alt, und da haben sie eben überprüft, ob ich auf der Fahndungsliste stand. Mein Pech war, dass mein Name tatsächlich dort verzeichnet war."
Erst im Frühjahr 1962 fand Manfred Migdal die Kraft, erneut einen Fluchtversuch zu unternehmen - versteckt über der Toilette eines Interzonenzuges von Berlin nach Hamburg. Zusammen mit zwei Freunden wagte er es, auf dem Betriebsbahnhof Rummelsburg in das überraschend großzügige Gelass zu kriechen. Doch schon am Bahnhof Friedrichstraße endete diese erneute "Republikflucht". Ein Grenzer öffnete die Klappe, leuchte hinein und schrie sofort: "Grenzverletzer!" Migdal und seine Freunde wurden aus dem Zug gezerrt und noch auf dem Bahnsteig geschlagen, dann durch enge Gänge im Labyrinth des Bahnhofs geprügelt.
Schließlich kam er in das Gefängnis im Polizeipräsidium an der Keibelstraße, ein Ort, der ihn auch fast fünf Jahrzehnte später immer noch bedrückt. Anderthalb Jahre Haft waren die Strafe. Noch zweimal versuchte er zu flüchten, zweimal wurde er gestellt, insgesamt zu mehr als vier Jahren Haft verurteilt. 1971 schließlich kaufte die Bundesrepublik Migdal frei, drei Jahre später durften auch seine Frau und die vier gemeinsamen Kinder in den Westen übersiedeln. Eine lange Leidenszeit war vorüber. Doch ganz überwunden hat er ihre Folgen bis heute nicht. "Zehn Jahre meines Lebens hat mir die DDR gestohlen. Wie soll man das verarbeiten?"
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