Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Auf dem sattgrünen Rasen, unweit vom Eingang zum neuen Teil des Friedhofs Baumschulenweg an der Kiefholzstraße, spielte sich ein bislang weitgehend unbekanntes Kapitel der Geschichte der Berliner Mauer ab.
Seit Freitagnachmittag ( 2016 ) erinnert eine schlichte Stele daran. Sie erinnert an Dutzende Mauertote, die an der DDR-Grenze erschossen wurden, auf der Flucht ertranken oder auf andere Weise bei Fluchtversuchen ums Leben kamen. Auf dieser sattgrünen Wiese in Baumschulenweg wurde über Jahre heimlich ihre Asche verstreut oder in Urnen anonym beigesetzt.
Das Schicksal dieser Maueropfer, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn bei der Einweihung der Stele, dürfe nicht vergessen werden. Ebenso wenig die Rolle, die das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) dabei gespielt habe: „Die Stasi führte auch über die Toten der Mauer Regie“, so Jahn. Dutzende Menschen, die ihren Traum vom besseren Leben im Westen mit dem Leben bezahlten, verschwanden. Ihr Tod an der Grenze wurde verheimlicht, ihre Familien wurden getäuscht und belogen.
Ausgeklügelte Verschleierungstaktik
Die Stasi-Unterlagenbehörde hat solche Schicksale erforscht. Ausgewertet wurde dafür eine Sonderakte des MfS, die etwa 30 Fälle bis Mitte der 70er-Jahre umfasst. Akribisch sind darin Totenscheine und Fotos von Obduktionen aufgelistet, aber auch persönliche Gegenstände der Opfer: Uhren, Kugelschreiber, Zigaretten aus dem Westen und aus dem Osten, Geld aus dem Westen und aus dem Osten, Streichhölzer, Pfeifenstopfer, Brieftaschen, persönliche Papiere, Pässe, Fotos, Gebisse, Schnupftücher, Brillen. Jahn: „Den Familien wurden Lügen aufgetischt, für sie wurden aus Tagen der Ungewissheit Jahre der Leere.“ Täuschen und Vertuschen habe aber nur funktioniert, weil viele dabei mitgemacht hätten: Gerichtsmediziner, Staatsanwälte, Bestatter, Polizisten – und vor allem Verantwortliche des alten Krematoriums Baumschulenweg.
Das Krematorium, das Mitte der 90er-Jahre abgerissen und durch einen Neubau ersetzt wurde, war die letzte Station in dem ausgeklügelten Verschleierungsprozess. Für den hatte das MfS detaillierte Anweisungen erteilt, die unter dem Titel „Bearbeitung von Leichenvorgängen, soweit es sich um Vorkommnisse an der Staatsgrenze zu Westberlin handelt“ aktenkundig sind. Vom Ausstellen der Totenscheine bis zum Verbrennen der Leichen, von der Manipulation der Beweismittel bis zur Fälschung von Sterbeurkunden reichte die Palette. Bei Gesprächen mit Behörden und Familien der Opfer gaben sich die Stasi-Mitarbeiter als Volkspolizisten aus, im Krematorium selbst standen Vertrauensleute bereit.
Kein Schlussstrich bei der Aufarbeitung
Viele Verantwortliche für diese Praktiken seien nach dem Mauerfall einfach abgetaucht, sagte Jahn. „Das Schweigekartell wirkt bis heute.“ Noch immer könne das Verschwinden von sechs Menschen nicht aufgeklärt werden. Es gehe nicht nur darum, die Erinnerung an die Mauertoten zu bewahren. Es müssten zugleich die perfiden Praktiken des DDR-Systems deutlich gemacht werden, das seinen Schießbefehl an der Mauer, der offiziell verleugnet wurde, nur verschleiert habe. Jahn: „Wir sind es der jungen Generation auch schuldig zu erklären, warum in der Diktatur so viele Menschen mitgemacht oder duldsam geschwiegen haben.“
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