Die Lüge

Bücher, deren Inhalt sich mit der innerdeutschen Grenze bschäftigt

Die Lüge

Beitragvon Volker Zottmann » 20. Februar 2014, 14:14

Leseprobe
„Die Lüge“
06.02.2014 · Der Roman „Die Lüge“ von Uwe Kolbe erscheint am 20. Februar im Verlag S. Fischer. Das gebundene Buch mit 384 Seiten kostet 21,99 Euro.
Von UWE KOLBE

Vorabveröffentlichung Die Lüge von Uwe Kolbe
© S. FISCHER, BEARBEITUNG F.A.Z.


Ich fuhr zum Zentralplatz und ging zum Roten Rathaus. Sie hatten es mir genau beschrieben unter der Telefonnummer, die ich angerufen hatte. Jener Seiteneingang wäre es, der zu den Rathauspassagen hin. In der Durchfahrt gleich rechts sei eine Tür, dort bitte klingeln. Trotzdem war ich einmal um das Rote Rathaus herumgegangen mit meinen Vermutungen, hatte ein Schild gesucht, das auf die Abteilung Kultur verwiese. Ich fand nichts dergleichen. Das Gebäude trug an dieser Seite eine Kruste von Staub. Das Rot der Klinker sah aus, als würde es andauernd von vorbeifahrenden Baumaschinen bespritzt oder als hinge der graue Schlick einer Überschwemmung meterhoch daran. Nur oben der Keramikfries wäre gut sichtbar gewesen, die Szenen von Raub, Gericht und Pranger, aber so weit hinauf schaute ich nicht. Ich war froh, an der richtigen Stelle zu sein, als man mich bemerkte, der Smarte eine Seitentür aus schwerem Holz mit kleinem, vergittertem Fenster öffnete und mich ein paar Stufen heraufbat in ein Büro. Soweit in dem Zwielicht auszumachen, stand rechts ein Aktenschrank mit leeren Fächern. Links war ein Stuhl umgekehrt auf einen niedrigen Rollschrank geschoben, als sei die Putzfrau gerade durch. Unter dem vergitterten Fenster stand ein Schreibtisch, vor dessen Schmalseite ich einen Stuhl angeboten bekam. Dadurch, dass offenbar der Inhalt einer Aktentasche nebst Brotbüchse auf der Tischplatte ausgebreitet und ein urtümliches, schwarzes Telefon daraufgestellt worden war, dem ich ansah, dass seine Schnur ohne Anschluss unter dem Tisch endete, wirkte alles wie eine Fälschung. Sie wollten, dass ich es durchschaute. So konnten sie direkt sein: »Lehmann, Hauptmann des Ministeriums«, sagte der Silberhaarige, der lässig vor dem Schreibtisch saß, plötzlich eine Klappkarte an einer Uhrenkette aus der Hosentasche gezogen hatte und mir herzeigte. Der Smarte war stehen geblieben und zog ebenfalls eine kleine Klappkarte hervor. Ich kannte sie nur vom Hörensagen, die Dinger. Nun hatte ich gleich zwei gesehen. Ich hatte vorher nicht auf die Namen der Männer geachtet, echt oder nicht, weil ich nie auf Namen achtete und das Nachfragen scheute. Lehmann, wie ich meinte gehört zu haben, fuhr mit seiner Ansprache fort: »Wie Sie sich sicher schon gedacht haben, sind wir vom Ministerium. Tut uns leid, dass wir das nicht gleich sagen konnten. Wir wollten erst sichergehen, mit wem wir es zu tun haben.« Ich wartete ab. »Der Gegner«, hieß es weiter, »ist derzeit dabei, sich an junge Künstler wie Sie heranzumachen, um sie für seine Zwecke auszunutzen.« Ich schaute ihn aufmerksam an. Das abstrakte Wort »Gegner« brachte mich schon immer auf den Plan. Das wollte ich genauer hören, im Zweifelsfall meine Meinung sagen. »Wie wir von Ihnen wissen, sind Sie an bestimmten Orten aktiv, die wir für Brennpunkte halten, zumindest als interessierter Zuhörer und Zuschauer. Dazu gehört der sogenannte ›Potpourri‹ im Zentralhaus, dazu gehören die Jazzabende in der Alten Meierei. Wir brauchen Informationen über die Art und Weise, wie der Gegner vorgeht, wie er es anstellt, junge Künstler für seine Zwecke zu gewinnen. Wir möchten Sie bitten, uns dabei zu helfen, solche Informationen zu beschaffen. Sie sind ein kritischer Zeitgenosse, Sie haben bereits erste Meriten als Komponist erworben, Sie waren beim Komponistenseminar der Jugend, Sie sind kein unbeschriebenes Blatt.« Ich fragte, wie er sich das konkret vorstelle. »Sie sollen gar nichts anders tun als bisher. Sie gehen an diese Orte. Sie treffen Freunde. Sie halten nicht damit hinter dem Berg, was Sie machen. Sie wissen doch, wer die Veranstalter dort sind, wer da auftritt. Wir wollen nicht, dass Sie etwas anderes machen als das, was Sie bisher schon tun. Nur eben wollen wir, dass Sie es für uns tun, im Kontakt mit uns. Und vielleicht machen Sie es in Zukunft etwas gezielter, etwas offensiver, sagen, wer Sie sind, stellen Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Wir wollen Schaden von unserer Gesellschaft, insbesondere auch von Ihnen selbst und anderen jungen Menschen mit Zukunft schon im Vorfeld abwenden.« Ich warf ein, dass ich nur so oft da und da hinginge, wenn ich das Eintrittsgeld erübrigen könnte. »Das soll nicht Ihre Sorge sein. Wir ersetzen Ihnen die Auslagen.« Sie boten mir umgehend zwanzig Mark an. Das war knapp viermal der übliche Eintritt für Meier, wie die Meierei allgemein genannt wurde. Ich nahm das Geld und quittierte dafür. Nun wiederholte ich die Klage, die ich schon in der Bornholmer Hütte geführt hatte, dass meine Eltern sich kein Klavier hatten leisten können, dass ich dringend ein Klavier für meine Arbeit brauchte, aber das Geld nicht aufbringen könnte. »Wir werden dafür sorgen. Rufen Sie uns unter der Nummer, die Sie haben, kommenden Montagnachmittag um vier an.« »Ich brauche es nur geborgt, ich will es nicht von Ihnen geschenkt haben, nur zur Überbrückung.« »Ja, sicher, das verstehen wir«, sagte Hauptmann Lehmann. Wir verabschiedeten uns. Ich trat in das Tageslicht.
Alles war klar. Ich würde doppeltes Spiel spielen. Am nächsten Tag berichtete ich meinen Freunden in der Schule davon. Ich erzählte, was gelaufen war, was die von mir wollten und was meine Absicht dabei wäre. Georg aus der Parallelklasse warnte mich sofort: »Das kannst du nicht. Du bist verrückt. Die machen dich fertig. Jetzt, wo du es jemandem gesagt hast, geht es sowieso nicht mehr. Geheim muss geheim bleiben. So funktioniert das. Was nicht geheim ist, was nur irgendjemand Drittes weiß, taugt nicht für die. Sie werden Gerüchte über dich in die Welt setzen. Das hältst du nicht durch.« Das leuchtete mir ein. Ich hatte schon mit diesem Gespräch die Sache unterlaufen und entschärft. Damit konnte ich auch gleich vergessen, was ich mir als Absicht eingeredet hatte. Was ich den Freunden vorenthielt, war das mit dem Geld. Und was ich erst recht nicht gucken ließ, war die Sache mit dem Klavier. Von einem der grauen Wandapparate, die in der Stadt die Telefonzellen abzulösen begonnen hatten, rief ich tags darauf die Nummer an und verabredete ein weiteres Treffen. Sie sagten, in zwei Wochen. Vom Klavier sagte ich nichts mehr. Hauptmann Lehmann schon: »Das mit Ihrem Wunsch geht in Ordnung. Wir müssen nur noch den Termin koordinieren.« Ich sagte, er sollte erst nach dem nächsten Treffen liegen. Ich hätte zu tun mit den Vorbereitungen auf das Abitur.
Inzwischen wölbte sich Rebekkas heller Bauch fühlbar, unter dem ich, so oft sie bei mir war, fröhlich einkehrte. Wir hatten Verhandlungen mit ihren Eltern aufgenommen. Im fünften Monat, im März, zog sie zu mir, in unsere von Stund an gemeinsame Wohnung. Zum Glück musste sie in die Tippsenschule lernen gehen, sonst wäre ich kaum mehr regelmäßig in die Oberschule gegangen. Eine große Holzkiste hatte ich schwarz lackiert und daraus meinen Arbeitstisch gemacht. Ich saß auf dem Stuhl davor, und die Beine steckten in der Kiste. Am liebsten saß ich so die Nacht hindurch, schwang die Hände durch die Luft und schrieb das Sausen und die Stille auf.
Wie ich das Abitur bestand, sollte mich niemand fragen. Ich wusste es nicht einmal, während ich mitten in den Prüfungen stand. Es ging, was gehen musste. Der Frühling kam. Es wurde Sommer. Rebekka und mir ging es gut. Kann sein, dass Klassenkameraden, dass irgendwer eine Party feierte. Ich war nicht dabei. Weiß nicht. Wusste nicht. Darum ging’s nicht. Mittendrin ein Termin im Roten Rathaus. Dieselbe Fälschung von einem Büro, dieselben Herren. Nun, wo die Katze aus dem Sack war, fühlte ich mich ganz anders. Der Lack war ab. Die unsauberen Verhältnisse lagen offen zutage. Meine Hände waren feucht. Ich wollte das loswerden, wollte da nicht stehen, wollte da heraus. Hauptmann Lehmann war – wie nannte man das? – jovial: »Es gibt kein Problem. Wir haben das Klavier. Sie müssen nur übermorgen halb eins mittags ihren Schlüssel unter dem Fußabtreter liegenlassen und sich für eine Stunde in der Stadt herumtreiben, Sie und Ihre junge Frau.« – Ich registrierte, wie er von Rebekka sprach. »Ich muss Ihnen, bevor wir hier so weitermachen, etwas sagen«, hob ich an. »Ich kann das nicht.« »Was können Sie nicht?«, fragte Lehmann aus dem Halbdunkel des Raums. »Ich kann nicht irgendwo, zu Meier oder sonst wo, hingehen in Ihrem Auftrag. Ich kann nicht dort oder woanders hingehen, meine Leute treffen, bekannt werden mit anderen, die mich wirklich interessieren, mit Musikern, Schriftstellern, die ich verehre, deren Arbeit mich angeht, mich da anwanzen und sie aushorchen. Ich bringe das mit dem Vorsatz nicht. Ich kann nicht lügen.« »Na hören Sie mal. Was denken Sie denn von uns? Wir lügen doch nicht. Und Sie werden es partout auch nicht.« »Nein«, blieb ich klar: »Wissen Sie, es ist auch so, in meiner Familie gibt es psychische Krankheiten. Ich glaube, ich habe auch einen Hang zur Depression. Ich bin kein Kandidat für Sie. Tut mir leid. Hier, ich habe auch das Geld mitgebracht. Nehmen Sie es zurück.« Ich legte das Geld auf den Tisch. Keine Regung der beiden. Vom Klavier war nicht mehr die Rede. Lehmann meinte freundlich, das sei es dann für den Moment. Aber ich hätte ja ihre Nummer. Wenn ich es mir anders überlegte, könnte ich jederzeit anrufen, immer. Raus, nur raus. Um die Ecke der Rathauspassagen herum ging es mir langsam besser. Auf dem Stadtbahnhof unter dem Zentralplatz lief ich auf und ab und hätte fast einen Satz in die Luft gemacht, unterließ es aber aus Furcht, mir den Kopf zu stoßen.
Es war Sommer. Wir waren eingeladen, Rebekka, ihr Bauch und ich, ein Haus an der Oder zu benutzen, einen Fischerkaten, den Freunde renoviert hatten. Neuerdings besaßen wir einen Fotoapparat. Damit fotografierte ich mein hochschwangeres Mädchen von vorn und im Profil, den blonden Bauch über den offenen Jeans. Als es so weit war, fiel uns nichts Dümmeres ein, als uns in die nächste Klinik aufzumachen, ein Nullachtfünfzehnkrankenhaus. Es lag im Stadtbezirk Friedrichshain und hieß auch so. Ich durfte bei der Geburt nicht dabei sein, stellte mich aber auch nicht auf die Hinterbeine, um es durchzusetzen. Kurz nachher sah ich den Knaben mit dem zerknautschten Gesicht. Ich war stolz ohne Grund. Das Kind von Kindern, meines und doch nicht meins. Seine Mutter, eben von einem selbständig atmenden Wesen entbunden, schenkte der Welt als Zugabe ein erschöpftes, aber souveränes Lächeln. Sie war kein Kind mehr. Sie war einen Tag vorher volljährig geworden.



Ich verspreche mir von dem Buch mehr Einsichten in einem Familienkonflikt.
Bis jetzt weiß ich noch nicht, in wie weit Uwe Kolbe autobiographisch dort auch seinen Vater Ulrich Kolbe reflektiert.
Zusehen will ich, ob ich das neueste Buch elektronisch preiswerter bekomme. Lesen werde ich es allemal.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Lüge

Beitragvon Edelknabe » 20. Februar 2014, 18:16

Auch so ein idiotischer Textauszug,aber auch voll mit der Denke von Heute geschrieben:

"Als es so weit war, fiel uns nichts Dümmeres ein, als uns in die nächste Klinik aufzumachen, ein Nullachtfünfzehnkrankenhaus. Es lag im Stadtbezirk Friedrichshain und hieß auch so. Ich durfte bei der Geburt nicht dabei sein, stellte mich aber auch nicht auf die Hinterbeine, um es durchzusetzen. Kurz nachher sah ich den Knaben mit dem zerknautschten Gesicht. Ich war stolz ohne Grund."

Wer war denn zu DDR-Zeiten als junger Vater geneigt, unmittelbar bei der Geburt dabei zu sein? Das müsste mir mal Einer gut erklären, der damals unbedingt...mit dabei sein wollte? Kein Wunder das es die jungen Kerle von heute vor lauter falsch verstandenem Gequatsche der Umwelt in den Kreissaal drängt, um wahrscheinlich anschließend bei jedem Sex mit der jungen Mutter dran zu denken, was da alles unter heraus kam.

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Re: Die Lüge

Beitragvon Volker Zottmann » 20. Februar 2014, 19:47

Mit Sicherheit ist dies aber nicht der Grund gewesen, um das Buch zu schreiben…

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Lüge

Beitragvon Volker Zottmann » 23. Februar 2014, 22:17

Hier steht ein weiterer sehr interessanter Artikel zum neuen Buch.

http://www.tagesspiegel.de/dotzauer-gregor/6046746.html

Ich selbst werde mich an keinen Diskussionen beteiligen, denn immerhin sind mir die wichtigsten handelnden Personen persönlich bekannt. Ich kenne vorab bereits Zusammenhänge und erwarte dadurch natürlich spannendste neue Aufschlüsse.
Selbst die Idee, seine selbstreflektierenden Protagonisten im Musikermilieu anzusiedeln, ist so falsch nicht. Hat doch zumindest sein Vater eben neben Schriftstellern und Musikern auch viele Theaterschaffende an seinen Fäden "geführt"! (Auch da war wiederum ein Mitschüler meiner Quedlinburger Schule betroffen, der Freischaffende, heute in Leipzig lebende Jens Paul Wollenberg)
Es ist für mich höchst interessant nun wieder mal beobachten zu können, wer in meiner Verwandtschaft sich zu Uwe Kolbes Schaffen äußert, wie er gnadenlos seinen Vater-Sohn-Zwist austrägt und wer es weiterhin vorzieht, auch wohl aus Selbstschutz zu schweigen…
Der tatsächliche Handlungsort ist ebenso groß wie Halle und liegt auch nicht an der Mulde.
Meine Frau und auch ich, haben bei Ulrich Kolbes Besuchen in unseren "Gemäuern" vor nunmehr fast 30 Jahren mit unserer Einschätzung schon so falsch nicht gelegen…
Spannend bleibt es dennoch! [ich auch]

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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