von Nostalgiker » 6. April 2020, 22:29
Leugnung und Tabuisierung
Die Sowjetunion leugnete ihre Täterschaft jahrzehntelang und tabuisierte das Verbrechen. Mit allen Mitteln – von politischen Drohungen bis hin zur Verfolgung und Bestrafung einzelner Personen – versuchten alle sowjetischen Regierungen im Kalten Krieg, die Rede über Katyn zu verhindern. (........)
Quasi als Antwort auf die Goebbelsche Propagandakampagne, beabsichtigte die Sowjetunion, Katyn als nationalsozialistisches Verbrechen dem Kriegsgegner anzulasten. Diese Unternehmungen, unter anderem während des Nürnberger Militärtribunals, trugen allerdings dazu bei, dass die Massenerschießungen in West- und Osteuropa bekannt wurden. Obwohl niemand – von den Richtern in Nürnberg, über Winston Churchill, John F. Kennedy, der polnischen Bevölkerung bis hin zu allen sowjetischen Regierungschefs selbst – der sowjetischen Version wirklich glaubte, gelang es zumindest, die Frage der Täterschaft in der Schwebe zu halten. Schließlich war die Ungeheuerlichkeit des deutschen Vernichtungskrieges so groß, dass immer auch die Deutschen an dem Verbrechen schuld sein konnten. Außerdem hatte Goebbels Propagandamaschine die sowjetische Täterschaft behauptet, und wer wollte sich schon mit Goebbels gemein machen, selbst wenn dessen Version plausibel war?
[ .......]
Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg
Dass die Massenerschießungen von Katyn eine irritierende geschichtsrevisionistische Kraft besaßen, wusste bereits Michail Gorbatschow, der letzte Nachfolger Stalins und Generalsekretär der KPdSU. Inmitten der von ihm initiierten Glasnost-Politik – der schonungslosen Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltgeschichte – bekannte Gorbatschow die lange verleugnete NKWD-Täterschaft. Er tat dies nicht etwa, weil es ihm in diesem Fall um eine aufarbeitende Auseinandersetzung mit der kommunistischen Gewalt- und Terrorgeschichte ging. Vielmehr befürchtete er, dass die alte Strategie der Leugnung im gesellschaftlichen Klima der 1990er Jahre mehr Schaden anrichten würde als ein Schuldbekenntnis. Gorbatschow hoffte, durch das Ende des Täterstreits im Fall Katyn eine gefährliche Debatte um sowjetische Kriegsverbrechen „im Keim zu ersticken“. Sie bedrohte den letzten sowjetischen Integrationsmythos vom Großen Vaterländischen Krieg.
( .......)
Von der russischen Regierung werden die Massenerschießungen heute nicht mehr geleugnet. Die Staatsduma definierte Katyn im Jahr 2010 als Kriegsverbrechen, sprach den Opferfamilien ihr Mitgefühl aus, und der gleichnamige Film des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda wurde in russischen Kinos gezeigt. Allerdings war mit diesen Zugeständnissen nicht das Recht auf eine juristische Rehabilitation oder Entschädigung der Opferfamilien verbunden. Darüber hinaus relativieren politische Diskurse die Tat mit dem Hinweis auf den Polnisch-Russischen Krieg 1919/21, und tatsächlich haben einschlägige Autoren wie der Verschwörungstheoretiker Juri Muchin die NKWD-Täterschaft wieder infrage gestellt. ....... Das Interesse an einer breiten historischen Aufarbeitung, die Katyn beispielsweise in den Kontext der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit in den ersten Weltkriegsmonaten stellt, ist – ähnlich wie zur Zeit Gorbatschows – auch heute nicht vorhanden.
Für die Geschichtswissenschaft gerät mit dem Blick auf Katyn als Ereignis der deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte eine kontrovers diskutierte Forschungsfrage in den Fokus. Warum trafen Stalin und sein Politbüro die Entscheidung zur Erschießung in den ersten Märztagen des Jahres 1940 und nicht schon unmittelbar nach der Verhaftung? Warum wartete Berija?
„Liquidiert sie selbst“
Die polnischen Offiziere, im Unterschied zu den einfachen Soldaten, konnten nicht in Arbeitslager deportiert werden. Im Winter 1940 hatte das NKWD mehrmals probiert, die Polen über ein bilaterales Umsiedlungsabkommen in das deutsche Besatzungsgebiet zu überführen. Obwohl das im November 1939 ausgehandelte Abkommen auf „Volksdeutsche“, Ukrainer und Belarussen beschränkt war, war dies in der Vergangenheit mehrmals gelungen. Beide Regime hatten das Abkommen auf diese Art und Weise genutzt. Im Frühjahr 1940 allerdings scheiterten die erneuten Verhandlungen, vor allem weil Deutschland bereits weitaus mehr Menschen (circa 130.000) aufgenommen hatte als die Sowjetunion (circa 12.000). Mit dem Hinweis, dass der Umsiedlungsvertrag am 1. März 1940 auslief, lehnte das Dritte Reich die Übernahme weiterer Gefangenen ab.
Diese Begründung war rechtlich nicht zu beanstanden und gleichzeitig ein bequemer Vorwand. Im Frühjahr 1940 planten die Besatzungsbehörden im Generalgouvernement eine große Vernichtungs- und Säuberungsaktion gegen den polnischen Widerstand, die berüchtigte „AB-Aktion“. Vor diesem Hintergrund hatten sie schlichtweg kein Interesse, noch mehr potentielle „Widerständler“, die in der Begründungslogik dieser Aktion ebenfalls „zu säubern“ gewesen wären, zu übernehmen. „Liquidiert sie selbst“ war der Subtext, mit dem die Deutschen ablehnten.2
Die Gefangenen auszutauschen war keine Option mehr, ebenso wenig, sie als Angehörige der polnischen Militärelite in der Sowjetunion am Leben zu lassen. Wenige Tage nachdem der deutsch-sowjetische Umsiedlungsvertrag offiziell ausgelaufen war, schlug Berija die Massenerschießungen vor. Kurz nach der Entscheidung begann der geheime Abtransport aus den Sonderlagern an die drei Erschießungsorte. Es gehört zu der an tragischen Momenten reichen Katyngeschichte, dass viele der Opfer zuerst tatsächlich glaubten, die Züge würden sie zurück zu ihren Angehörigen in das deutsche Besatzungsgebiet bringen.
Täterstreit
Drei Jahre nach den Erschießungen organisierte Joseph Goebbels seine Propagandakampagne. Der Wind des Krieges hatte sich gedreht, der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion hatte aus den Verbündeten erbitterte Feinde gemacht. Das Propagandaministerium karrte Tausende – einfache Wehrmachtsoldaten, internationale Pressegruppen, namhafte Schriftsteller, renommierte Gerichtsmediziner und Delegationen des Polnischen Roten Kreuzes – an den Tatort, wo ihnen die „grausame Hinterlassenschaft des jüdischen Bolschewismus“ vorgeführt wurde.
Aber wieder drehte sich der Krieg, und im Herbst 1943 eroberte die Rote Armee das Gebiet von den Deutschen zurück. Danach inszenierten Stalins Propagandisten und das NKWD ihre Version eines nationalsozialistischen Verbrechens und ließen ebenfalls internationale Besucher die Massengräber besichtigen, darunter die Tochter des damaligen US-amerikanischen Botschafters in Moskau: Kathleen Harriman bestätigte die offizielle Darstellung der Sowjetunion.
Der „Täterstreit“ hatte begonnen. Er verdeckte für viele Jahre, dass Katyn als eines der schrecklichsten stalinistischen Kriegsverbrechen zur Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts gehört; eine Geschichte, die nach wie vor im Schatten der großen Weltkriegserzählungen liegt.
Quelle : Decoder.org (Bundesstiftung für Aufarbeitung)
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin
Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts zu verlieren hat. Janis Joplin
Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die immer bei anderen auf die Rechtschreibfehler hinweisen, eine Persönlichkeitsstörung haben und unzufrieden mit ihrem Leben sind. Netzfund