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vielleicht für den Einen oder Anderen interessant!!!!
VG Affi
Newsletter:
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
zu Beginn des Jahres 2011 kann das Bürgerkomitee Leipzig e.V. zunächst
einmal zufrieden zurück blicken: Zwei Jubiläumsjahre mit einem
Besucherrekord, zahlreiche Veranstaltungen und nicht zuletzt das große
Ausstellungsprojekt „Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“
leistete einen wichtigen Anteil an der Aufarbeitung der kommunistischen
Diktatur in der DDR und erinnert eindrucksvoll an deren friedliche
Überwindung. Von dem Erfolg der letzten Jahre wird die Gedenkstätte auch
in ihrer kontinuierlichen Arbeit profitieren und sieht 2011 neuen
Projekten entgegen: Mit dem 15-jährigen Jubiläum des Museums im
Stasi-Bunker im September feiert die Gedenkstätte eine gelungene Art der
Aufarbeitung. Der 50. Jahrestag des Mauerbaus hingegen stellt ein
leidvolles Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte dar.
Nur noch für kurze Zeit ist außerdem die Sonderausstellung „Leipzig auf dem
Weg zur Friedlichen Revolution“ zu sehen. Für alle, die noch an einer
Führung interessiert sind, besteht am 14. Januar 2011, um 16.30 Uhr, die
Möglichkeit, an einem öffentlichen Rundgang teilzunehmen. Weitere
Informationen erhalten Sie in der Rubrik „Wir laden ein“.
Wir wünschen Ihnen ein gesundes neues Jahr 2011 und nun viel Vergnügen beim
Lesen des Newsletters..
Ihr Bürgerkomitee Leipzig
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INHALT
Wir laden ein
Aus der Arbeit der Gedenkstätte
Rückblick
Aus dem Gästebuch
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WIR LADEN EIN
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14. JANUAR, 16.30 UHR ÖFFENTLICHE FÜHRUNG DURCH DIE SONDERAUSSTELLUNG
„LEIPZIG AUF DEM WEG ZUR FRIEDLICHEN REVOLUTION“
Die einmalige Schau zum Doppeljubiläum von Friedlicher Revolution und
Deutscher Einheit ist nur noch für kurze Zeit im Museum in der „Runden
Ecke“ zu besichtigen. Mit originalen Flugblättern, Demofotos, Filmen,
Plakaten und Dokumenten zeichnet die Ausstellung die Entwicklung der
Leipziger Oppositionsgruppen nach und orientiert sich an den konkreten
Aktionen des politischen Widerstandes in Leipzig im Jahr 1989: Die
Montagsdemonstrationen zur Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse, die
Kommunalwahlen vom 7. Mai, das Straßenmusikfestival am 10. Juni, die
entscheidende Montagsdemonstration am 9. Oktober und nicht zuletzt die
Besetzung der Leipziger Stasi-Zentrale am 4. Dezember 1989 seien hier nur
als einige Schlaglichter genannt. Die Gründung des Neuen Forums, das
Entstehen der Runden Tische und die ersten freien Wahlen im März und Mai
1990 waren wegweisend für die Demokratisierung des Landes.
Eingebettet sind die Ereignisse in Leipzig zudem in den Kontext eines
friedlichen Umbruchs in Ost-Mitteleuropa und stehen exemplarisch für die
Entwicklungen in ganz Deutschland. Damit präsentiert das Bürgerkomitee
Leipzig e. V., das direkt aus der Friedlichen Revolution hervorging und
heute das Museum in der „Runden Ecke“ betreibt, eine der wichtigsten
Epochen der jüngeren deutschen Geschichte und lädt zu spannenden neuen
Entdeckungen ein.
Treffpunkt: Museum in der „Runden Ecke“, ehemaliger Stasi-Kinosaal
Geöffnet ist die Schau täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr. Der Eintritt in die
Sonderausstellung ist frei.
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RÜCKBLICK
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4. DEZEMBER 2010 21.JAHRESTAG DER BESETZUNG DER STASI-BESIZKRVERWALTUNG
LEIPZIG PODIUMSDISKUSSION „TÄTER HABEN EIN GESICHT“
„Die sich des Vergangen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es selbst
noch einmal zu erleben.“ So zitierte der Jurist Prof. Dr. Johannes
Weberling den indischen Philosophen Santayana und appellierte in seinem
Impulsreferat zur Rechtslage der Namensnennung von Stasi-Mitarbeitern an
das Publikum „die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf die Dunkelmänner der
Vergangenheit und ihre Taten zu richten“. Kompliziert sei in diesen Fällen
die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und der allgemeinen
Meinungsfreiheit, wie sie eine freiheitliche Demokratie verlangt. Aus dem
Blick der Arbeitsgruppe Aufarbeitung und Recht, die sich besonders für
Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit einsetzt, habe sich die Lage
in den letzten Jahren zu dieser Problematik gebessert, dass mittlerweile
viele Gerichte die Nennung der Namen von Stasi-Mitarbeiter per
Gerichtsurteil bestätigen.
Das Argument, dass das Persönlichkeitsrecht überwiegt, weil das
Öffentlichkeitsinteresse 20 Jahre nach dem Mauerfall gering sei, verkenne
den Schutzbereich der Meinungsfreiheit grundlegend. Johannes Weberling
informierte über die rechtliche Grundlage der Namensnennung, die
Meinungsfreiheit und die Selbstbestimmung des Einzelnen. Das öffentliche
Interesse an der Namensnennung der Täter sei ein zusätzlicher Grund. Die
Wissenschaftsfreiheit überwiege gegenüber dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht der Stasi-Mitarbeiter. Ebenso regelt das
Stasiunterlagengesetz die Zulässigkeit der Namensnennung von
Stasi-Mitarbeitern, wenn es der Wahrheit entspreche und der Täter keinen
schützenden Belang geltend macht.
Michael Beleites, Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen,
der in diesem Amt zum letzten Mal in der „Runden Ecke“ war, bedankte sich
in seinem Grußwort für die umfangreiche Arbeit zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur, die die verschiedenen Einrichtungen und Personen in Sachsen
leisten. Die Namensnennung von Stasi-Mitarbeitern sei selbstverständlich
und erforderlich. Zur Aufarbeitung gehöre auch eine gute Vernetzung der
Behörden sowie der Einrichtungen, um die Strukturen des MfS gänzlich zu
erfassen. Wichtig sei bei allem jedoch das Mitgefühl mit den Opfern.
Christhard Läpple, ZDF-Redakteur und Moderator führte über die
Täterfaszination der Medien in die aktuelle Debatte zur Namensnennung der
Stasi-Mitarbeiter und damit auch in die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit
ein. „Was bringt das jetzt 20 Jahre danach noch mal über diesen Punkt zu
diskutieren?“, fragte Läpple in die Runde der Podiumsgäste. Geladen waren
Uwe Müller, Redakteur der Tageszeitung „Die Welt“, Tobias Hollitzer,
Leiter der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, Dr. Joachim Heinrich,
Autor der Internetseite
www.stasi-in-erfurt.de, sowie der Rechtsanwalt
Prof. Dr. Johannes Weberling, der eingangs das Impulsreferat gestaltete.
Leider konnte der Abteilungsleiter Auskunft der BStU Herr Joachim Förster
krankheitsbedingt nicht an der Diskussion teilnehmen.
Dr. Joachim Heinrich leitete Ende der 1980er Jahre eine Umweltgruppe und
geriet so ins Visier der Stasi. Um die Gruppe auseinander zu bringen
streute das MfS mit Hilfe des IM „Schubert“ das Gerücht, Heinrich sei ein
IM. Nach seiner Akteneinsicht lüftete sich der Ursprung dieses Gerüchts
und IM „Schubert“ wurde enttarnt. Um seine Vergangenheit aufzuarbeiten
gestaltete der Naturwissenschaftler Heinrich vor wenigen Jahren die
Internetseite
www.stasi-in-erfurt-de. Dort veröffentlichte er den
Klarnamen des IM, der als vermeintlicher Bürgerrechtler bei der Besetzung
der Erfurter Stasibezirksverwaltung in Erscheinung trat und auf einem
bekannten Foto veröffentlicht ist. „Die Meteorologen kennen zwei Begriffe
von Temperatur, nämlich die Temperatur, die sie vom Thermometer ablesen
und eine gefühlte Temperatur und diese Temperaturen sind nicht immer
identisch. So ähnlich sei das bei vielen, die sich mit Recht und gefühltem
Recht auseinandersetzten.“ Der Konflikt zwischen dem enttarnten IM und
Heinrich kam vor das Landesgericht. Das Recht auf eine unverfälschte
Tatsachendarstellung überwog gegenüber dem Persönlichkeitsrecht und so
gewann Dr. Heinrich den ersten Prozess. Der IM „Schubert“ ging in
Berufung. Die Kosten trägt Heinrich bisher allein.
Uwe Müller berichtete, dass dies kein Einzellfall sei. In den letzten vier
Jahr habe es neun presserelevante Fälle gegeben, in denen die benannten
Stasi-Mitarbeiter vor Gericht zogen. Auch würden Medien von Anwälten der
ehemaligen Stasi-Mitarbeiter eingeschüchtert werden. Drohungen mit
Gegendarstellungen und Schadensersatz bereits vor der Veröffentlichungen
und Gerichtsverfahren nach der Berichterstattung seien nicht selten. Diese
Verfahren seien sehr zeit- und kostenaufwendig und einige Artikel würden
so über zwei Jahre „eingefroren“. Dies würden sich zunehmend nur noch
große Redaktionen leisten. Viele schrecken inzwischen vor der
Veröffentlichung solcher Themen zurück.
„Im Bereich der wissenschaftlichen Aufarbeitung: Tobias Hollitzer, warum
ist es so wichtig den Namen eines Oberleutnants zu kennen?“ fuhr Läpple
fort. Von Anfang an sei klar gewesen, dass hauptamtliche Mitarbeiter mit
ihrem Namen genannt werden, betonte Hollitzer, so etwa die Leiter der
Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen, die auch in der
Dauerausstellung „Stasi - Macht und Banalität“ von Beginn an präsentiert
werden. Auch sei die Nennung besonders wichtig, um Geschichte zu
rekonstruieren und die Geschehnisse nachvollziehbar zu machen. Die Frage,
ob noch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich alle ehemaligen
Stasi-Mitarbeiter, egal ob oben oder unten in der Hierarchie, beim Namen
genannt werden müssten, bejahte Hollitzer: „Jedoch sollte das
Auswahlkriterium der Darstellungswürdigkeit immer Priorität haben“, gab er
weiter zu bedenken. Joachim Heinrich betonte, dass „die Namensnennung zur
historischen Aufarbeitung“ besonders wichtig sei. Johannes Weberling zog
die Konsequenz aus der fehlgeschlagenen NS-Aufarbeitung in Westdeutschland
und plädierte für eine Rekonstruktion der Geschichte durch Täter und
Opfer. So müsse man offen über Ereignisse reden können.
„Sagen sie mal wie Sie, als Jurist und Historiker, das
Stasiunterlagengesetz empfinden. Ist es ein Revolutionsgesetz? Etwas
Besonderes um das uns viele Länder beneiden?“ fragte Läpple Professor
Weberling. Das Besondere an diesem Gesetz sei der Entstehungsprozess durch
die Friedliche Revolution. Außerdem sei es etwas einmaliges und neues, was
es in ähnlicher Form in keinem anderen Land gibt. Weberling merkte an,
dass durch dieses Gesetz die Aufarbeitung schnellst möglich realisiert
werden konnte. Die ursprüngliche Intention der westdeutschen Regierung und
der ostdeutschen Verhandlungspartner, die Stasi-Unterlagen im Bundesarchiv
einzulagern und erst Jahrzehnte später zu analysieren und einzusehen,
konnte so verhindert werden.
„Wenn wir sagen, das ist ein Revolutionsgesetz, dann ist es ein
Ausnahmegesetz in der Geschichte seit 1945. Dann ist es ja auch
nachvollziehbar, dass es in der Rechtswelt in den letzten 20 Jahren
Widerstände dazu gibt“, so der Moderator Läpple. Ja, es sei etwas
besonderes, dass man aktiv mit der Geschichte umgehen und aus den Fehlern
der Vergangenheit lernen könne, fügte Weberling hinzu. Joachim Heinrich
berichtete von einer Veränderung im Umgang mit dem Stasiunterlagengesetz
und der Nennung der Namen von Stasi-Mitarbeitern. Er beschrieb, dass
Gerichte mittlerweile das allgemeine Persönlichkeitsrecht unter die
Meinungsfreiheit ordnen und so einige Prozesse für die Namensnennung
gewonnen werden konnten. Gleichzeitig habe sich aber auch die
Berichterstattung verändert, Artikel würden angeprangert und Zeitungen zu
einer Gegendarstellung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern verpflichtet
werden. Auch habe Müller die Zurückhaltung von Nachrichtenagenturen
bemerkt, die erst später in die Berichterstattung eingestiegen seien um so
ein mögliches Prozessrisiko zu minimieren.
Nicht nur der journalistische Bereich sei von der Veränderung betroffen.
Auch Institutionen wie die BStU seien möglichen gerichtlichen
Auseinandersetzungen ausgewichen und ließen so kleine Einrichtung wie die
Gedenkstätte „Der Rote Ochse“ in Halle, die sich um die Aufarbeitung der
dortigen Haftanstalt bemüht und sich aktiv für eine Namensnennung
einsetzten „im Regen stehen“, berichtete Hollitzer. Bereits vor Jahren
habe die BStU die Organisationsstruktur der verschiedenen
Bezirksverwaltungen mit Nennung der Namen der jeweiligen Leiter und ihrer
Biographien erarbeitet. Das Organigramm der Bezirksverwaltung Gera war
genau zwei Tage auf der Internetseite online. Dann wurde es aufgrund von
Beschwerden ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Offiziere wieder vom Netz
genommen. Bis heute habe sich die BStU gegen eine Veröffentlichung
entschieden.
Problematisch sei momentan, dass durch die früheren Entscheidungen von
Gerichten die Namensnennung der Täter keine Rolle in der Öffentlichkeit
gespielt habe und die Gesellschaft jetzt vor jeder Namensnennung
zurückschrecke, berichtete Uwe Müller. Die gefühlte Rechtssituation sei
mit der Lage vor etwa zehn Jahren kompatibel. Heute sei aber wieder
wesentlich mehr möglich.
Im Anschluss begann eine Debatte mit dem Publikum. So wurde eine Auflistung
der Namen aller Stasi-Mitarbeiter gefordert. Auch wurde mit den
Podiumsgästen über die Aufarbeitung des MfS und deren Taten diskutiert. „
Was verstehen Sie unter Tätern?“, so fragte ein junger Mann die
Podiumsrunde zum Schluss. „Täter kommt von tun“, so Hollitzer, alle für
das Funktionieren der Diktatur Verantwortlichen seien Funktionäre und
damit Täter. Grundsätzlich seien auch Stasi-Mitarbeiter Täter, man müsse
jedoch auch unterscheiden zwischen relevanten und unrelevanten Bereichen.
„Wikileaks ist in aller Munde. Was darf man, was darf man nicht. Hätten Sie
1990 schon das Internet gehabt, was hätten Sie gemacht?“ fragte Läpple
letztmals in die Runde. Uwe Müller berichtete, dass das tschechische Model
die Akten in das Internet zu stellen, für ihn keine Variante gewesen sei,
obwohl es Vorteile gäbe. „Bei der Darstellung eines Sachverhaltes auf
regionaler Ebene“, erklärte Heinrich sei das Internet hilfreich gewesen.
Für Tobias Hollitzer war klar, dass, sie damals nicht das Internet zur
Veröffentlichung von Akten genutzt hätten, selbst wenn sie die Möglichkeit
gehabt hätten. Heute sähe er es etwas anders. Die Liste aller 1989 aktiven
hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter steht seit Jahren im Internet. Geschadet
habe es nicht, aber dabei geholfen viele Skandale aufzuklären, nicht
zuletzt die hohe Anzahl von Stasi-Offizieren bei der BStU. Der Jurist
Johannes Weberling äußerte sich gegen den Vorschlag, man hätte 1990 schon
alle Namen veröffentlichen sollen, da die Arbeitsweise des MfS noch völlig
unerforscht war. Auch heute gebe es da noch viel zu tun.
6. DEZEMBER 2010, 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL
„WIR SIND DAS VOLK“ – MONTAGSGESPRÄCH IN DER „RUNDEN ECKE“ MIT MARTIN
JEHNICHEN
„In der Tat sehe ich oft mehr als ich höre, ich kriege mehr mit wie
derjenige agiert, wie als was er sagt“, fasste der Fotograf Martin
Jehnichen, der letzte Gast der Veranstaltungsreihe „Wir sind das Volk!“ –
Montagsgespräche in der „Runden Ecke“, seine Eigenheiten zusammen. Als
letzten Gast der Montagsgespräche begrüßten die Moderatoren Tobias
Hollitzer und Reinhard Bohse den Fotografen Martin Jehnichen, der in
Westdeutschland aufwuchs, die DDR bei Besuchen kennenlernte, als
Gaststudent nach Leipzig kam und durch seine Fotos zu einem wichtigen
Chronisten des Herbstes ´89 wurde.
Martin Jehnichen wurde 1962 in Karlsruhe geboren. Seine Kindheit und Jugend
verbrachte er in einem Dorf bei Tübingen. Alles sei ihm zunächst fremd
erschienen, vor allem der schwäbische Dialekt, an den er sich jedoch
schnell gewöhnt habe. Sein Vater stamme aus Freiberg, von wo er 1955
geflohen war. Er erzählte den Kindern, dass man ihn dort zu sehr gegängelt
habe. Jehnichen besuchte das Uhland-Gymnasium in Tübingen, wo er erstmals
für die Schülerzeitung fotografierte. Seine Fotoreihen sollten schon
damals Geschichten erzählen, so beschrieb eines seiner ersten Motive die
Weiternutzung des Pferdemists.
Seine Großeltern väterlicherseits wohnten in der DDR. Bis 1968 konnten sie
sich nicht besuchen. Schließlich öffnete sich der Weg von West nach Ost,
die Familie reiste regelmäßig in die DDR. Es sei immer etwas Seltsames
gewesen, die DDR. Die Reisen seien gründlich vorbereitet worden. Besonders
der Grenzübergang sei ihm in Erinnerung geblieben. Seinen Vater habe er
sonst nie wieder „so klein“ erlebt. Gefährlich und beklemmend sei es die
ganze Zeit über gewesen. Eines gab es jedoch, was Martin Jehnichen damals
zu seinen Lieblingsmotiven zählte und es in Westdeutschland nicht mehr
gab, die Dampflokomotive. Während der Besuche bei den Großeltern
verbrachte Jehnichen seine Zeit damit, auf Bahnhöfen herumzulaufen und
Fotos zu machen.
Nach seinem Abitur 1981 begann Jehnichen ein zweijähriges Volontariat beim
Tübinger Tageblatt. Hier habe er zumeist Verkehrsunfälle und Einweihungen
durch den Bürgermeister fotografiert. Seinen Zivildienst leistete er in
einer Augenklinik in Tübingen ab. In der dortigen Fotografieabteilung habe
er über das Fotografieren viel mehr gelernt als beim Tageblatt. Zu dieser
Zeit war Jehnichen in der kirchlichen Friedensbewegung aktiv, die von der
Anti-Atom-Bewegung schnell abgelöst worden sei. Er beschrieb eine
allgemeine Aufbruchsstimmung, so habe es in seiner Stufe mehr Zivildienst-
als Wehrdienstleistende gegeben. Der grüne Parka mit den vielen Aufnähern
und die zerrissenen Jeans seien damals ein absolutes Muss gewesen. Für ihn
war die DDR allerdings damals schon keine besser Alternative zur
Bundesrepublik, auf beiden Seiten sollte abgerüstet werden.
Nach seinem Zivildienst begann Jehnichen an der Universität Bielefeld
Fotodesign zu studieren. Besonders faszinierte ihn die Engagierte
Fotografie, hier könne man Stellung beziehen und ins Weltgeschehen
eingreifen. Demonstrationen, Wohnprojekte und Aussiedler haben ihn und
seine Kamera zu dieser Zeit stark angezogen. Sein politisches Engagement
habe sich in seinen Fotos von Veranstaltungen und Aktionen ausgedrückt,
obwohl er immer eine Distanz zum Geschehen hielt.
Mit einer Gruppe von Fotografen organisierte Jehnichen eine Ausstellung
über Missstände in der Bundesrepublik. Sie hatten schon früh die Idee
gehabt, die Ausstellung auch in der DDR zu zeigen. Die Möglichkeit bot
sich in Erfurt und so zeigten sie die Schau. Naiv sei ihr Blick gewesen,
den DDR-Bürgern Missstände in der Bundesrepublik zeigen zu wollen. Die
Gästebucheinträge haben ihnen dann gezeigt, dass sie durch ihre
Ausstellung die Propaganda der SED-Regierung unterstützten.
Im 5. Semester bot sich Martin Jehnichen die Möglichkeit ein Gastsemester
in der DDR zu verbringen. Er hätte auch nach Großbritannien oder
Frankreich gehen können, doch hatte er den familiären Bezug zur DDR. Auch
habe er damals das Gefühl gehabt das Land sei in Bewegung. Auf Nachfrage
von Reinhard Bohse berichtete Jehnichen, dass sich die Menschen schon im
Frühjahr 1988 unzufrieden mit der Freiheitslage und dem DDR-System
zeigten. In Leipzig sei er in der Dimitroffstraße bei einer seltsamen
Familie untergekommen. Er hatte schon damals den Verdacht, dass diese
Menschen nur seinetwegen eine Familie spielten und sie von der DDR
arrangiert worden waren. Diese Vermutung konnte er aber nie belegen,
weshalb er den Namen der Familie für sich behielt. Die neue Umgebung
zeigte ihm eine Welt wie durch eine „Retro -Brille“, vor den Häusern Lagen
Briketts und es gab noch Wäscherollen. Seine ersten Fotos zeigen die alten
Tatrabahnen und eine winterliche, verwunschene Welt.
An der Hochschule sei penibel darauf geachtet worden ihm alles zu zeigen,
nichts sollte den Anschein erwecken, dass etwas vertuscht würde. Die
Atmosphäre sei leicht und unangespannt gewesen, vieles sei mit einem
Augenzwinkern besehen worden.
Zu Weihnachten 1988 arbeitet Jehnichen an einem außergewöhnlichen Projekt.
Neugierig sei er auf die weihnachtlichen Wohnzimmer der identischen
Wohnungen der Plattenbauten gewesen, so klingelte er bei verschiedenen
Familien und fotografierte die unterschiedlichen Inneneinrichtungen.
Individualität in Gleichförmigkeit habe diese Bilderreihe gezeigt, da es
nur drei Stellen in diesen gleichen Wohnzimmern gegeben habe, wo der
Tannenbaum hätte stehen können. Nach wenigen Aufnahmen sei die
Volkspolizei angerückt und habe ihn zur Rede gestellt. Er sei verdächtigt
worden eine Umfrage zu machen und wurde des Platzes verwiesen. In
Westdeutschland wäre eine solche Reaktion unmöglich gewesen.
Anfang 1989 endete sein Auslandssemester in der DDR. Doch sollte es nicht
sein letzter Besuch im Osten gewesen sein. Schon zum Kirchentag im Sommer
habe er ein Visum bekommen und sei zurück nach Leipzig gefahren. Die
Stimmung sei interessant und revolutionär gewesen. Auf der
Abschlussveranstaltung habe er Fotos von den zusammenströmenden Menschen
mach können, die schließlich mit Demokratie-Transparenten Richtung
Innenstadt liefen. An diesem Tag habe er auch beobachtet, wie Menschen in
eine scheinbar harmlose Straßenbahn gezogen wurden und mit ihr
abtransportiert wurden.
„Was haben Sie von den Entwicklungen in Leipzig in der Bundesrepublik
mitbekommen?“ fragte Tobias Hollitzer. Es habe fast täglich Meldungen im
Fernsehen und im Radio über die Entwicklungen in der DDR gegeben. Alles
habe sich auf einen ungewissen Scheitelpunkt zugespitzt. Jehnichen wollte
dabei sein und reiste zum 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR wieder
nach Leipzig. Plötzlich sei er mittendrin gewesen in einer unorganisierten
Menschenmasse auf dem Nikolaikirchhof und habe als Fotograf an der
richtigen Stelle gestanden. Dann kam die Volkspolizei, die mit dem Satz
„Keine Gewalt“ begann, die Demonstranten einzusammeln. Dass dieser
Demonstrantenruf so schnell von der Volkspolizei kopiert und missbraucht
wurde, entsetzte ihn schon damals. Jehnichen habe genau von diesen Szenen
Bilder machen können: Das Rennen über den Platz, Verletzte, Menschen die
Verletzten geholfen haben. Um seine Film zu wechseln, versteckte er sich
schließlich in einer Ecke, wo er geschnappt wurde. „Ham sie mal Feuer?“,
so sei Jehnichen dort von drei zivilgekleideten Männern angesprochen
worden, die ihn daraufhin verprügelten. Er wurde von einem Lada abgeholt
ohne Ausweis und Fotoapparate. Stundenlang habe er dann in einem Raum
irgendwo in Leipzig gewartet, später wurde er in ein Sammellager gebracht
wo er wieder von den anderen getrennt worden sei. „Er bin als Tourist da
und zufällig dabei gewesen“ habe er bei den Verhören beteuert. Es folgte
seine Ausweisung aus der DDR, sogar die Kameras wurden im zurückgegeben.
Zu bedauern sei letztlich der Verlust der Filme, die in den Kameras waren,
außer einem, der im Gehäuse steckte, das die Stasi nicht aufbekommen
hatte.
Den 9. Oktober habe er in Westdeutschland verfolgt. Die Tagesthemen haben
dann endlich die ersten Bilder vom friedlichen Verlauf der
Montagsdemonstration in Leipzig gezeigt. Den Mauerfall erlebte Jehnichen
in Bielefeld mit einem DDR-Bürger der über Ungarn ausgereist war. Nachts
gegen 1 Uhr habe die Spiegelredaktion ihn erstmals angerufen und ihn für
die Dokumentation der Grenzöffnung im Harz engagiert, so dass er diese
Zeit dort erlebte. Wann er den Ausruf „Wir sind das Volk“ das erste Mal
gehört habe fragten die Moderatoren. Er erinnere sich an ein Schild, wo
drauf stand „Ich bin Volker“, das er schon im Januar 1990 gesehen habe.
Daraus schlussfolgerte Martin Jehnichen, dass er „Wir sind das Volk“
erstmalig im November oder Dezember 1989 gehört haben musste.
Ab Dezember lebte Martin Jehnichen wieder in Leipzig. Die Stadt habe sich
total verändert. Zum Teil sei es zu aggressiven Zusammenstößen zwischen
Bündnis- und Kohlwählern gekommen. Er gründete mit einigen anderen
Fotografen zu nächst die Agentur Lichtblick, später wurde er Teil der
Agentur transit. Sie haben für alle gearbeitet, die sie damals – technisch
noch sehr rudimentär ausgestattet - erreicht haben. Vor allem seien es
westliche Zeitungen gewesen, die sich für ihre Arbeit interessierten.
Rückblickend sieht Jehnichen die Wiedervereinigung Deutschlands als Chance
Gutes aus beiden Ländern zu übernehmen. Auch er habe seine Stasi-Akten
einsehen wollen, doch wurde über ihn nichts gefunden. „Vielleicht war ich
tatsächlich zu uninteressant“ kommentierte Jehnichen. Noch heute hätten
West-Freunde große Vorbehalte gegenüber Leipzig, doch Martin Jehnichen
genieße die Lebensqualität und den Platz für Kultur und Ideen in Leipzig.
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AUS DEM GÄSTEBUCH
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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der
„Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und
kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere
kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und
wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.
Dauerausstellung
Wie können Menschen diesen kranken Staat zurück wünschen? Die müssen selber
krank sein... und blind, dumm und taub! Danke für dieses Museum „wider das
Vergessen“
P.S. Sind von der Stadt Leipzig sehr begeistert (5 Besucherinnen aus
München)
Die Klasse 9a aus der Lorenz-Kellner-Schule Heiligenstadt möchten sich für
den Erhalt der Informationen zur Staatssicherheit bedanken (Schulklasse am
22.12.2010)
Ich bin beeindruckt und wütend mit welchen Methoden Angst gemacht wurde.
Wie naiv war ich damals, als wir uns von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde
besuchten und wie naiv denken immer noch so viele um mich herum über das
Leben in der DDR. (Besucherin am 27.12.2010)
Vielen Dank für Ihre wichtige Arbeit gegen das Vergessen. (Besucher am
30.12.2010)
Warum wir die DDR von vielen „Ossis“ schöngeredet? Es war doch schlimm, was
hier passiert ist und sollte ebenso wenig vergessen werden wie das
Naziregime! (Besucher am 02.01.2011)
Sonderausstellung
Gute Idee diese sehr aufschlussreiche Ausstellung in diesen Räumlichkeiten
zu zeigen
(Besucher aus Münster am 01.12.2010)
Demokratie, Freiheit und Einheit, so soll es bleiben - dafür gibt er diese
Ausstellung
Unfassbare Zuständen mutig entgegen treten – hoffen wir alle er hat sich
gelohnt und sie bleiben uns erhalten die Demokratie, Freiheit und Einheit
(Besucher vom Niederrhein 2010)
Danke und Respekt an all Diejenigen, die sich für die Freiheit eingesetzt
haben
Danke auch an die Verantwortlichen, die Ausstellungen wie diese
durchführen.
In Respekt vor dem Vergangenen und Mahnung für das kommende (Besucher am
30.12.2010)
Gänsehaut! Danke für diese Ausstellung! Die DDR war ein entsetzlicher
Unrechtsstaat. WARUM diese ständige Ostalgie? Ohne Aufarbeitung der
Vergangenheit ist die Zukunft nicht möglich. (Besucherin am 04.01.2011)