Guten Morgen zusammen und wieder ohne große Einleitung.
Textauszug aus dem Buch „ Namen für Rossoschka“, Schicksale aus Stalingrad, so das des Albrecht Appelt (Überlebender)
Und niemand weinte!
Die ersten Tage in Gefangenschaft
Wer die Angriffs- und Häuserkämpfe, die Durchbruchsversuche zur Wolga, wer die Kesselfront bis zum 10.Januar 1943, danach die Verzweiflungskämpfe gegen die Rote Armee und die misslungenen Ausbruchsversuche überlebt hatte, der fiel nun bis auf wenige Ausnahmen dem Tod mühelos in die Hände. Von den über 100000 in Gefangenschaft geratenen Soldaten der 6. Armee sollten nur fünf, allerhöchstens sechs Prozent überleben, vereinfacht und noch gut vorstellbar: Von 20 Mann starben 19, nur einer überlebte. Sie starben auf irrsinnigen Märschen, weil die Rote Armee gerade für die später Gefangenen keine Unterkünfte mehr fand; sie starben an Hungerfolgen, völliger Entkräftung, an schweren Erfrierungen und Verwundungen. Ohne Widerstandskraft machten sich Seuchen breit, allen voran das Fleckfieber.
Während ich am 29. Januar noch eine gute Grützesuppe empfing, war es am nächsten Tag nur noch ein Süppchen, denn immer wieder strömten Gefangene in das Sammellager Krasnoarmejsk. Die erste Nacht hatte ich noch in einem festen Haus mit ganzen Fensterscheiben zugebracht, ein wahres Gottesgeschenk! Am nächsten Morgen hieß es: „Alle Leutnante heraus!“ Man steckte uns in einen Rohbau ohne Fenster und Türen. Nun verbringe mal nur eine einzige lange Winternacht stehend in dieser Zugluft bei mindestens 30 Grad Kälte! Als am nächsten Tag im Strom neuer Gefangener ein mir Bekannter ankam, winkte ich ihn zu mir. Er schlotterte vor Kälte, weil sein linker Arm von sieben Geschossen einer Maschinenpistole durchlöchert war und er daher seine Uniformjacke und seinen Anorak nur lose über der Schulter hängen hatte. „Du wirst auch in diesen Bau müssen, das ist Dein Tod“, sagte ich zu ihm. Es kam zum Glück anders, denn man steckte uns in eine der benachbarten Baracken. Dort organisierte ich für Stempel einen Pritschenplatz, auf dem er sich für die nächste Zeit etwas erholen konnte. Ich wollte wenigstens in seiner Nähe bleiben und fand direkt über einen Gang im Dachstuhl einen äußerst engen aber zumindest ungestörten Verschlag. In diesem Unterschlupf unter der Decke – einer Art hölzernem Schwalbennest- konnte ich zwar nur liegen, sparte dadurch jedoch meine Kräfte für den nun folgenden Hungermonat.
Im Untergeschoss lagen zahlreiche Gefangene mit schweren Erfrierungen. Leider hatte man unseren Ärzten sämtliche Medikamente, Sanitätsmaterialien und Operationsbestecke abgenommen. Vor allem wären Amputationen notwendig gewesen, die auch von deutschen Ärzten hätten durchgeführt werden können. So aber faulten die erfrorenen Glieder dahin, bis es zu spät war.
Jeden Morgen wurden die Toten der Nacht aus den Unterkünften von eingeteilten Männern nicht heraus getragen, sondern herausgeschleift. Ein Mann einen Toten. Ich sehe es heute noch: Mit den Händen an den nackten Füßen ziehen sie den Toten wie einen Schlitten hinter sich her über den hart getrampelten Schnee des Hofes zu einer Sammelstelle. Und niemand weinte! Als die noch „Gesunden“ Anfang März in entfernte „normale“ Gefangenenlager transportiert wurden, fuhr der Tod mit ihnen weiter.
Rainer-Maria