Nach allem was Matthias Mikolajek heute weiß, war er das zweite uneheliche Kind seiner leiblichen Mutter und wahrscheinlich war die Schmach darüber damals Mitte der 1950er-Jahre so groß, dass sie ihn unmittelbar nach der Geburt ins Heim gegeben hat. Über die Geburt, den tatsächlichen Geburtsort und ihre Beweggründe, den neugeborenen Sohn ins Kinderheim zu geben, hat sie nie gesprochen.
„Vielleicht waren es verdrängte Schuldgefühle, die Schmach – ich weiß nicht, warum“, sagt Matthias Mikolajek. Er habe sie bis zu ihrem Tod immer wieder gefragt, aber bekam nur Schweigen als Antwort. Was er von ihr erfuhr: „Sie sagte, dass sie nie einer Adoption zugestimmt hat.“ Und tatsächlich tragen die Unterlagen, die er von seinen Adoptiveltern bekommen hat, keine Unterschrift seiner leiblichen Mutter.
Von der Adoptivfamilie hat Matthias Mikolajek nur seinen Nachnamen behalten. Den Kontakt zur leiblichen Mutter hat er kurz vor deren Tod wieder verloren. Er vermutet, dies war damals auf Betreiben der argwöhnischen Stiefschwestern geschehen.
Die Geschichte von Matthias Mikolajek ist wohl keine politisch motivierte Zwangsadoption. Es gibt für diesen Begriff bislang auch keine Definition, nur eine Beschreibung. Das Thema Zwangsadoption ist ein dunkles Kapitel der ostdeutschen Vergangenheit. Belastbare Zahlen dazu gibt es nicht, aber es gibt die Geschichten von Betroffenen, die oft schwer traumatisiert sind.
Die 2014 gegründete Interessengemeinschaft „Gestohlene Kinder der DDR“ vertritt Betroffene von Zwangsadoptionen und hat 2018 mit einer Petition an den Deutschen Bundestag immerhin erreicht, dass Adoptionsakten bei Jugendämtern, Gerichten, Standesämtern oder Kliniken trotz Ablauf der Aufbewahrungsfrist nicht mehr vernichtet werden dürfen.
Wissenschaftlich untersucht worden ist das Thema bislang nur von einer 2018 veröffentlichten Vorstudie, die den Zeitraum von 1966 bis 1990 betrachtet hat und die hochgerechnet von mehreren hundert Betroffenen ausgeht. Unstrittig ist, dass die Drohung mit Kindesentzug von der Partei- und Staatsführung in der DDR als politisches Druckmittel eingesetzt wurde und dass zum Beispiel politisch unbequemen Eltern oder ertappten Republikflüchtlingen unter dem Vorwand asozialen Verhaltens ihre Kinder weggenommen wurden. Manche von ihnen suchen noch immer vergeblich nach ihren Eltern oder Eltern nach ihren Kindern.
Seit Juli 2022 gibt es ein Forschungsprojekt zu politisch motivierten Zwangsadoptionen in der DDR von 1949 bis 1990. Es ist Resultat eines Bundestagsbeschlusses vom Juni 2019, der auch die Einrichtung der Zentralen Vermittlungs- und Auskunftsstelle umfasste. Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt und wird mit einer Million Euro vom Bundesinnenministerium finanziert. Ziel ist, die tatsächliche Dimension der Zwangsadoptionen in der DDR zu erforschen, eine verbindliche Definition des Begriffs zu formulieren und zu zeigen, wie solche Verfahren abgelaufen sind. Beteiligt daran sind die Universitäten in Leipzig, Düsseldorf, Mainz und Frankfurt am Main unter Federführung des Deutschen Instituts für Heimerziehungsforschung.
Einem Ministeriumssprecher zufolge wurde das umfangreiche Forschungsprojekt erst kürzlich um sechs Monate verlängert. In einer ersten Stufe sind Zeitzeugen aufgerufen worden, über ein eigens eingerichtetes Onlineportal ihre Geschichten zu erzählen.
Matthias Mikolajek wohnt mit seiner Frau Veronika seit vielen Jahren in Treben bei Altenburg. Wie geht er heute mit seinem Schicksal um und mit den Fragen, die unbeantwortet geblieben sind? „Ich bin nicht verbittert“, sagt er. Er habe eine eigene Familie, ein eigenes Leben und er sei ein Familienmensch.
Aber die Fragen lassen ihn nicht los. Er schaut sich Dokumentationen über verlassene und vergessene Kinder an. Solche Geschichten krallen sich an ihm fest und er fragt sich jedes Mal wieder, wie man es nur aushält, sein Kind zurückzulassen oder zurücklassen zu müssen. Vielleicht stellt er sich selbst diese Frage, weil er von seiner Mutter keine Antwort bekommen hat. Ein Rätsel bleibt für ihn auch, warum er als Heimkind ausgerechnet in Grünberg landete.
Seine Mutter lebte damals in Regis-Breitingen. Geboren wurde er, das hat die Recherche der „Freien Presse“ ergeben, tatsächlich in Zwickau – in einer privaten Frauenarztpraxis an der Parkstraße, am 24. April 1955 um 2.15 Uhr. Regis-Breitingen, Zwickau, Grünberg – das ist zumindest eine merkwürdige Reise.
Ob die Geschichte von Matthias Mikolajek Bestandteil der vor zwei Jahren in der Grünberger Kinderheimruine gefundenen Akten und Dokumente ist, bleibt ungewiss. Die Unterlagen sind zwar inzwischen technisch konserviert, liegen aber auf sieben Regalmetern weiterhin unbearbeitet im mittelsächsischen Kreisarchiv, weil es dort keine personellen Kapazitäten für eine Sichtung und Aufarbeitung gibt. Auf Nachfrage heißt es aus der Landkreisverwaltung, dass wohl frühestens im kommenden Jahr mit einer fachlichen Erschließung begonnen werden könne.
„Sie sagte, dass sie nie einer Adoption zugestimmt hat.“
Matthias Mikolajek über seine leibliche Mutter
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