Gefangenenchor mit Deutschlandlied
Am 4. Juli 1954 strahlte das Fernsehen in der DDR wie die meisten Sender Europas das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen Ungarn und der Bundesrepublik aus. Eine Stunde vor Spielbeginn erfuhr der ostdeutsche Radioreporter Wolfgang Hempel, dass seine Radioübertragung zugleich der Fernsehkommentar sein würde. Hempel war Fußballfan und Fußballfachmann. Bis heute wird er als überaus fachkundig und sachlich geschätzt. Im Gegensatz zu seinem westdeutschen Kollegen Herbert Zimmermann blieb Hempel auch dann noch ruhig, als die Deutschen in Führung gingen. Hempel kommentierte: "Schäfer flankt, Schäfer flankt, da ist Rahn, da, Rahn schießt, nein dribbelt, schießt – Tooor, Tor." Seine Stimme war heiser, durchaus aufgeregt. Was aber dann folgte, war im Radiozeitalter alles andere als typisch und normal. Wolfgang Hempel schwieg nach dem letzten Wort genau 40 Sekunden lang, für eine Radioübertragung eine schier unendlich lange Zeit.
Was sollte er auch tun? Er selbst war, wie viele Zeitgenossen, Anhänger des ungarischen Wunderteams. Mit Ideologie hatte diese Begeisterung nichts zu tun. Zugleich waren ihm von den Funktionären Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg in die Schweiz gegeben worden: "Eure richtigen Freunde", erinnerte sich Hempel 2003, "sind die Ungarn." Die bundesdeutsche Mannschaft sollte wie jede andere nüchtern und sachlich kommentiert werden. Diesem Auftrag kam Hempel nach – bis zur 84. Minute, als er offenbar nicht mehr genau wusste, was er nun tun solle. Freute er sich zu stark, hätten ihm die Ideologiewächter vorwerfen können, Stimmung für den Klassenfeind zu machen. Würde er die drohende Niederlage für das "befreundete" Ungarn beklagen, stieße er bei seinen Zuhörern auf Ablehnung – in der DDR drückte fast jeder Fußballfan der Mannschaft aus der Bundesrepublik die Daumen. Die deutsche Teilung war bei solchen und anderen Sportveranstaltungen – außer bei den Olympischen Spielen von 1956 bis einschließlich 1964 – an den unterschiedlichen deutschen Mannschaften sichtbar. Die ostdeutschen Zuschauer fieberten aber dennoch gesamtdeutsch und drückten bundesdeutschen Sportlern die Daumen, nicht selten stärker als den ostzonalen. Wolfgang Hempel entschied sich spontan für das Schweigen – ein in der Radiogeschichte nicht alltäglicher Vorgang.
Ein Jahr zuvor, am 17. Juni 1953, hatten Hunderttausende Ostdeutsche in über 700 Städten und Gemeinden für Freiheit und Einheit demonstriert. An vielen Orten war damals das Deutschlandlied, zumeist die 3. Strophe, gesungen worden. Es war zu einem der Symbole der gescheiterten Revolution von 1953 geworden. Nun, 1954, mussten die Machthaber solche Massenkundgebungen nicht fürchten. Sie hatten die Lektion des Aufstands zumindest sicherheitspolitisch verstanden und gelernt. Und dennoch: Verhindern konnten sie es nicht, dass in vielen Orten, zumeist in Gastwirtschaften, nach dem Sieg der Deutschen die vor dem Radio versammelten Männer spontan aufstanden und das Deutschlandlied intonierten. Als ein Gefangenenchor besonderer Güte ging der Gesang Tausender Häftlinge, darunter viele aus politischen Gründen Verurteilte, im Zuchthaus Brandenburg in die Geschichte ein. Die Häftlinge durften über den Lagerfunk die Reportage von Hempel verfolgen. Nach dem letzten Pfiff des Schiedsrichters begann jemand mit dem Deutschlandlied, das fast alle Häftlinge schnell mitsangen. Ein singulärer Vorgang in der Geschichte der DDR-Gefängnisse.
Den interessanten und längeren Beitrag findet man hier:
http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... -60/06016/
Auch nach dem mit Panzern unterdrücktem Volksaufstand zeigte sich, was die Deutschen in der SED - Diktatur wirklich bewegte. Nämlich in Freiheit in einem wiedervereinigten Deutschland zu leben.