Fortsetzung:
Schmidt-Häuer
Herr Stürmer hat zu Recht gesagt, wir dürften unsere westlichen Vorstellungen und Maßstäbe nicht
einfach auf Rußland übertragen. Genau das hat aber im Grunde seit dem 8. Dezember 1991 unser
Verhältnis zu Rußland bestimmt, wenngleich daran Herr Jelzin und Herr Kosyrew selber nicht ganz
unschuldig waren.
Herr Reiter sagte eben, er wisse nicht, was Rußland in Mitteleuropa wolle. Mein Eindruck ist, die
russische Führung wußte nach dem Zerfall der Sowjetunion zunächst überhaupt nicht, was denn
russische Außenpolitik sein sollte. Die Ablösung Gorbatschows und die Auflösung der Sowjetunion
waren pragmatische Machtpolitik ohne jeden Gedanken an eine künftige Außenpolitik. Erst allmählich
hat sich dann wieder eine stark russisch betonte Außenpolitik herausgebildet, nachdem im Vertrag
zwischen Rußland, der Ukraine und Weißrußland zunächst nur das Ende der Sowjetunion konstatiert
worden war.
Zur neo-patriotischen Entwicklung hat auch der Westen seinen Teil beigesteuert. Zunächst haben wir
Herrn Kosyrew sehr gelobt, weil er anscheinend alles das befürwortete, was wir auch im Westen gut
fanden. Seit er jedoch eine andere Politik verfolgt, warnen wieder alle vor ihm. Ein großer Teil der
westlichen Presse kommentiert nun wieder einseitig, Kosyrew sei ein nationalistischer Außenminister
im alten hegemonialen Sinne.
Ich halte das für eine ungerechte Beurteilung. Denn Demokraten und Reformer stehen in Rußland
unter dem Druck einer nationalistischen Entwicklung, die durch die inneren sozialen Nöte verstärkt
wird. Sie sind auf der verzweifelten Suche nach einer nationalen, neue Identität stiftenden Vision für
das zukünftige Rußland. Das gelingt nicht, ohne daß man an die Selbstdarstellung einer Großmacht
wieder anknüpft. Da kann man nicht einfach und bescheiden die Außenpolitik einer Mittelmacht
anbieten.
Wir haben im Westen auch versäumt, klar dazustellen, unter welchem Druck sich die russischen
Bevölkerungsteile im sogenannten nahen Ausland befinden. Sicher, ihr Schicksal wird heute in
Rußland von vielen Gruppierungen instrumentalisiert, die ihr eigenes Süppchen kochen wollen. Aber
im Westen macht man sich keine deutliche Vorstellung von dem, was dort geschieht. Nicht nur in
Tadschikistan, auch in Kasachstan und in Usbekistan sehen sich Hunderttausende von Russen einem
rassistischen Druck ausgesetzt. Zum Teil zahlt man ihnen das heim, was sie früher selbst gegenüber
den einheimischen und anderen Nationen praktiziert haben. Aber der jetzige Druck bedroht diese
russische Bevölkerung in ihrer Existenz. Die Folge ist ein wachsender Strom von Umsiedlern und
Flüchtlingen aus jenen Republiken nach Rußland. Wo aber soll Rußland mit diesen Menschen hin, für
die nicht irgendein westliches Land Wohnungen baut, wie Deutschland es für die abziehenden
russischen Soldaten tut?
Auch mit der Ukraine verhält es sich nicht so, daß nur der lange Arm der bösen Russen dieses Land
wieder heimholen will. Im Donbass in der Ukraine ist die Mehrheit der Bevölkerung russisch. Die
russischen Bergarbeiter erhalten dort nur die Hälfte des Lohnes, den sie jenseits der Grenze in
Rußland, etwa in Rostow am Don, verdienen können.
Höynck
Herr Stürmer hat zu Recht betont, daß Rußland legitime Interessen außerhalb seiner Grenzen hat,
diese Interessen aber nicht unbeschränkt wahrnehmen darf. Die beste Lösung wäre hier sicher eine
Internationalisierung der Maßnahmen, was aber im Rahmen der Vereinten Nationen zum Teil aus
strukturellen Gründen schwierig ist. Denn als friedenserhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen
werden Operationen, die Rußland in Staaten führt, die zur GUS gehören, nicht ohne weiteres
akzeptiert.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist in diesem Punkte sehr zurückhaltend; ebenso der
Sicherheitsrat. Wir diskutieren diese Frage auch im Rahmen der KSZE intensiv und sind einer Lösung
schon recht nahe gekommen, um von Fall zu Fall einen internationalen Rahmen bieten zu können.
Dazu würde dann auch gehören, daß sich andere Staaten, insbesondere Nicht-GUS-Staaten, mit
kleineren Kontingenten an einer solchen Operation beteiligen.
In diesem Zusammenhang ist jetzt für Georgien, und zwar in Abchasien, eine UN-Debatte angelaufen.
Die KSZE hat in Ossetien eine Mission stationiert, der auch Militärs angehören. Wir sind gerade dabei,
in guter Zusammenarbeit mit der in Ossetien dislozierten Peacekeeping-Truppe, die aus Russen,
Südosseten und Georgiern besteht, ein größeres KSZE-Kontingent beizuordnen, um hier einen
internationalen Rahmen herzustellen.
Ich halte jedenfalls die Internationalisierung, über die jeweils im konkreten Fall entschieden wird, für
die beste Möglichkeit, um solche Operationen in einer für alle Beteiligten akzeptablen Weise
durchzuführen.
Stürmer
...
Herr Kokoschin hat hier gesagt - und das klingt in meinen Ohren nicht eben beruhigend;-, Rußlands
Grenzen seien noch keineswegs festgelegt, und seine Interessen im östlichen Mitteleuropa und
Osteuropa noch nicht abschließend bestimmt. Dabei weiß heute sicher niemand in Rußland, worauf
es schließlich hinauslaufen wird. Das sind Prozesse, die sich entwickeln. Auch die Methoden der
neuen Raumordung - um einen älteren Begriff zu gebrauchen - sind nicht festgelegt.
...
Wir brauchen uns nur anzusehen, mit welcher geradezu schicksalhaften Dynamik die Entwicklung in
der Ukraine vorsich geht, und wie hilflos die benachbarten Staaten und Regierungen dieser
Entwicklung gegenüberstehen - nicht ahnungslos, aber hilflos und ratlos.
Was hier zusammenkommt: die gegenwärtige Unklarheit der amerikanischen Außenpolitik, die ihre
Rolle als Ordnungsmacht noch nicht gefunden hat, und die Unsicherheit darüber, wie Rußland mit
seinem früheren Imperium umgehen wird. Das alles erfüllt mich mit großer Sorge.
Ich ziehe daraus eine Reihe von Schlußfolgerungen. Zum einen müssen wir den Amerikanern immer
wieder klarmachen: Ihr habt Containment geleistet, so wie ihr die Entscheidung im Ersten und im
Zweiten Weltkrieg gebracht habt. Aber Weltordnung bleibt eine permanente Aufgabe, und die einzige
verbliebene Supermacht darf sich dieser Aufgabe nicht entziehen, wenn sie nicht am Ende einen sehr
hohen Preis bezahlen will, der auch ihre Interessen tangiert.
Zum anderen muß man den Osten, so wie es KSZE-Generalsekretär Höynck hier getan hat, immer
wieder zu Verhandlungen ermutigen. Jede kleine Chance ist zu wahren, und gleichzeitig ist ein
realistischer Blick für große Gefahren, die da lauern, notwendig. Wir sollten uns keinen Illusionen
hingeben: Nichts ist in diesen Prozessen zu Ende. Wir befinden uns noch mitten in einer
welthistorischen Krise, und niemand kann heute wagen, auch nur eine halbwegs vernünftige
Prognose darüber abzugeben, wie die Welt in fünf Jahren ungefähr aussehen wird. Denken Sie nur
fünf Jahre zurück und wie es seitdem mit unserer Prognosefähigkeit aussah.