Es gibt mehr Meinungsfreiheit als je zuvor – wir müssen schauen, dass das so bleibtDie Meinungsfreiheit ist vielleicht so frei wie nieKaum ein Riss, der durch die Gesellschaft geht, scheint so schwer zu schließen wie jener, der weite Teile der Bevölkerung grob zusammengefasst in zwei Gruppen einteilt. Zum einen sind das jene, die der Ansicht sind, dass es um die Meinungsfreiheit in unserer Demokratie gut bestellt ist und diese weiterhin gegen all ihre inneren wie äußeren Feinde verteidigt werden muss. Zum anderen handelt es sich dabei um jene, die die Meinungsfreiheit kurz vor ihrer Abschaffung sehen und beklagen, man dürfe immer weniger sagen. Denn, so der Tenor, sobald eine dem „Mainstream“ nicht genehme Meinung öffentlich geäußert wird, hagele es zu harsche Kritik. Das erzeuge ein Klima der Angst und Einschüchterung. Was ist dran an diesen Vorwürfen?
Was alles gesagt werden „darf“Tatsächlich ist es heutzutage in der westlichen Welt möglich, seine Meinung so frei zu äußern wie nie zuvor in der Geschichte. Das zeigt sich in vielen verschiedenen Bereichen. Mal sind diese hinzugewonnenen Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung ausschließlich positiv zu betrachten, mal gibt es berechtigte Einwände und in manchen Bereichen sind diese gänzlich fragwürdiger Natur.Vollumfänglich begrüßenswert sind etwa die in der Verfassung verankerten Rechte zur Meinungsfreiheit, die Freiheit vor staatlicher Zensur, die freie und unabhängige Presse, die nicht lediglich über aktuelle Begebenheiten berichtet, sondern unter anderem das Weltgeschehen kontextuell einordnet und bei Bedarf auch die eigene Regierung kritisiert oder in verschiedenen Formaten kritisch nachhakt. Auch die Möglichkeiten, die alle Bürger:innen haben, ihren persönlichen Unmut mitzuteilen, sind enorm. Niemand wird etwa in Deutschland, Frankreich, den USA, Kanada, Neuseeland und vielen weiteren Ländern festgenommen, weil er:sie sich auf einen öffentlichen Platz stellt und sich über die Regierungspolitik beschwert oder für die Gleichberechtigung von LGBTQIA+ demonstriert.
Du darfst beinahe alles reichweitenstark verbreitenNicht ganz so eindeutig einzuordnen sind die relativ neuen Werkzeuge, über die sozialen Netzwerke die eigene Meinung frei kundzutun. Einerseits lässt sich auch hier feststellen, dass Menschen beinahe alles mehr oder weniger reichweitenstark öffentlich verbreiten können. Auch sehr scharfe Kritik an als falsch perzipiertem Regierungshandeln oder aber klare Haltungen gegen antidemokratische Bestrebungen sind hier möglich geworden. Allerdings ist es – begünstigt durch die Anonymität im Netz – auch den Verschwörungsmystiker:innen, Extremist:innen, Antidemokrat:innen und weiteren Menschenfeinden jeglicher Couleur möglich geworden, ihre kruden Thesen reichweitenstark als wahr anzupreisen. Hier hat ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, wo sinnvolle Grenzen zu ziehen sind, gerade erst begonnen.
Doch auch in anderen Bereichen hat die Meinungsfreiheit eher zu- als abgenommen. Durch Pegida auf den Straßen und die AfD in den Parlamenten sind bestimmte Begriffe und Phrasen salonfähig geworden, die vor einigen Jahren noch als unsagbar galten. An Stammtischen und in einschlägigen Chaträumen werden dadurch sogar von Menschenverachtung geprägte Statements in einer Hassspirale des gegenseitigen Hochschaukelns ermöglicht. Fehlende Widerworte erzeugen hier den Eindruck, dass solche Standpunkte in einer Demokratie völlig legitim seien.Dieses in den eigenen Echokammern erzeugte Zerrbild der Realität trägt mancherorts enorm zur Radikalisierung bei. Und selbst an Universitäten kann das Lehrpersonal neben dem Stand der Wissenschaft auch überholte Lehren bis hin zu waschechte Verschwörungsmythen über eine „Homo-Lobby“ und „Chemtrails“ verbreiten und wird dafür bislang nur zögerlich zur Rechenschaft gezogen. Das ist die eindeutig fragwürdige Kehrseite des Zugewinns an Meinungsfreiheit.
Meinungsfreiheit bedeutet auch, zu lernen, mit Kritik umzugehenDie positiven Aspekte der neuen Möglichkeiten, seine Meinung frei zu äußern, haben dazu geführt, dass bislang vom öffentlichen Diskurs Ausgeschlossene endlich ihre Stimme erheben und die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft infrage stellen. Der (für manche ungewohnte) Widerspruch bei bestimmten Statements ist dabei jedoch keine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Ganz im Gegenteil: Diese wird dadurch gestärkt, dass die Grundfesten der Demokratie aufrechterhalten werden. Denn ohne Demokratie gibt es auch keine Meinungsfreiheit. Dazu gehören klare Regeln, auf die wir uns als Gesellschaft einigen. Und die Einhaltung dieser kann häufig nicht einfach als gegeben angenommen werden.
Viele der als Ideal formulierten Regeln – auch des anständigen Umgangs untereinander – müssen tagtäglich teilweise mühsam aufrechterhalten werden. Und einige Soll-Zustände dürfen keinesfalls als Ist-Zustände umgedeutet werden, sofern einem an einer tatsächlichen Annäherung gelegen ist. Dass jeder Mensch zumindest im Prinzip gleichberechtigt an der öffentlichen Debatte teilnehmen kann, ist ein solches Ideal, welches aber noch lange nicht erreicht ist. Noch immer lassen sich eine ganze Reihe von Gruppen benennen, deren Interessen – zwar vielleicht nicht immer bewusst, aber doch sehr nachhaltig – im Zweifelsfall stets hintangestellt werden. Diese mehr zu hören, ist ein Zugewinn an Meinungsfreiheit und eine Stärkung der Demokratie.
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