.........................................................................52.Jahrestag
Lang, lang ist es her. Heute vor 52 Jahren, so zwischen 3 und 3Uhr30, genau konnte ich es nie mehr sagen, weil die innerliche Anspannung zur damaligen Zeit zu groß war. Den Zeitpunkt habe ich in meiner Stasi-Akte gelesen. Meine Flucht am Bahndamm 1968 in Hötensleben.
Mit der täglichen Vergatterung in den Nachmittagsstunden begann der letzte Schritt meiner monatelangen Vorbereitung für die Stunde „X“. Ich wurde als Postenführer eingesetzt, mein Kamerad als „Rota….“, als Posten zum Postenpunkt Bahndamm. Eine Bahnstrecke, ausgehend von Oschersleben (wahrscheinlich) über Hötensleben nach Wolfsburg (wahrscheinlich). Sie wurde Anfang der 50-ziger Jahre eingestellt und gleichzeitig damit verbunden auch die Schienenanlagen demontiert, bis an die territoriale Grenze. Das war die Schöninger Aue.
Gleich zu Beginn meiner Dienstzeit in Hötensleben konnte ich bei meinem einzigen Ablaufen des K6-Streifens an einem Samstagnachmittag sehen, dass es nur ein kleiner Grenzbach aus Richtung Ohrsleben kommend war. Im Bereich des Bahndammes mussten wir in der Fluchtnacht, erkennen, dass es sich im dortigen Bereich, um einen Graben handelte. Im oberen Teil ca. 3-4m breit, ca. 2m tief, mit ca. 0,50m Wassertiefe, zusätzlich Morast. Die Grabengröße, war nicht bekannt. Was uns sehr entgegen kam, die alten Bahnschienen über die Schöninger Aue, sie konnten nicht demontiert werden, sie waren noch vorhanden. Bei den Demontagearbeiten der Gleisanlagen konnte man sich zwischen Ost und West nicht einigen, wer auf welcher Seite das andere Territorium hätte betreten dürfen. So der Tenor Achim Walther aus Hötensleben.
Personen, die den Metallgitterzaun nicht kennen, man konnte nur durchschauen, wenn man direkt davorstand. Schon die Blickrichtung im geringsten Winkel zum Zaun, war die Sichtweite gleich Null.
Mehrere Fakten ermöglichten eine schnelle Flucht, jedoch mit großer Anspannung. Geplant oder auch angedacht war die Flucht von mir zum Ende der Nachtschicht, weil dann die Aufmerksamkeit, wegen der Müdigkeit, am geringsten wäre.
1. Das Ablaufen vom K6-Streifen, mein Postenführer war der Hundestaffelführer der Kompanie. Als wir an den Bahndammbereich ankamen, es war die Grauzone zwischen dem Mienenfeld in südlicher Richtung und dem Ortsbereich von Hötensleben. Hier durften aus internationalen Bestimmungen keinen Minen verlegt werden. Dafür wurde der 3,20m hohe Metallgitterzaun montiert. Vor diesem Zaun war zusätzlich noch ein Hundelaufbereich mit ca.1,20 bis 1,50m Höhe und einer Tiefe von 1,5 bis 2m montiert. Dieser Hundelaufbereich hatte seinen Anfang ca. 50m vor dem Bahndamm.
2. Als Hundestaffelführer musste nun dieser Unteroffizier von seinen Hunden mir berichten. Zu meiner Entlastung nahm ich meine Kalaschnikow von der Schulter und steckte sie in einem Betonpfeiler. Das Streckmetallgitter war auf westlicher Seite vom Betonpfeiler montiert. Warum auch immer, im Betonpfeiler waren einige Löcher nicht mit Montageschrauben belegt. Ich konnte unbekümmert meine MP in solch ein Loch versuchsweise stecken. Das war im Oktober 67, die Flucht Juli 68. Noch heute einen Dank an die Erbauer dieses Zaunes. Noch heute ist in Hötensleben die Bauanordnung des Streckmetallgitter zu sehen. Später wurde es auf östlicher Seite montiert und somit waren die nicht belegten oder unbenutzten Löcher verdeckt.
3. Mein Posten, der „Rota….“, hatte mir bereits im Mai 68 nach seiner ca. 14-tägigen Dienstzeit in Hötensleben unter vier Augen mitgeteilt, wenn er die Möglichkeit bekommt, dann würde er flüchten. Ich wusste aber von ihm, dass er in der Grundausbildung in Dingelstedt sich zum Kandidaten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) verpflichtet hatte. Vorsicht war für mich geboten. Ich gab ihm die Empfehlung, dass er sich die Kameraden, 12 an der Zahl im Zimmer, genau anschauen sollte, zu wem er dies sagen kann. Er möge aber jetzt dieses Thema mit mir beenden, sonst müsste ich ihm melden. Schon recht lang hatte ich meine Fluchtstelle erkundet, doch nun im Hinterkopf hatte ich auch meinen Mann. Mein Kamerad wusste keine 10min vorher von der geplanten Flucht.
Heute vor 52 Jahren, ein Wendepunkt in meinem Leben, allgegenwärtig noch vieles in meinem Kopf. Situationen, die man nicht vergessen kann. Unvergessen bleibt die Situation, auch gerade jetzt im schreiben dieser Zeilen. Ich drückte ihm an seinem Stiefel nach oben. In Maßeinheiten, meine Körpergröße 1,80m, plus Armlänge ca. 0,80m. Mit dem anderen Fuß stand er auf der eingesteckten Kalaschnikow. Das letzte Stück auf dem Betonpfeiler sitzend, war ja bestens geübt in der Grundausbildung. Nicht abgesprochen war dabei, dass er mich hoch ziehen wollte oder sollte. In der Truppe wurde grundsätzlich in der „Wir-Form“ gesprochen. Die Gruppe war so stark und gut, wie die schwächste Person. Er reichte mir seine Hand herunter und wir schauten uns voller Anspannung kurzzeitig in die Augen. Ein denkwürdiger Moment in unserem Leben. Er zog mich hoch, bis ich auf meiner Kalaschnikow mit einem Bein stehen konnte. Erst jetzt sprang er vom Pfeiler gen Westen ab. Nun meine Prozedur bis hoch in die Sitzstellung, mit Blickrichtung gen Bahndamm, richtiger oder sicherer wäre ja zum Ortsbereich gewesen. Hätte aber in diesem Moment auch nicht weitergeholfen. Er hatte ja seine MP im Arm und meine steckte im Pfeiler. Ein Blick zurück, ob eventuell Gefahr bestehen konnte gab es nicht. Ein kurzes Aufatmen mit dem Gedanken heil die 3,20 Höhe herunter zuspringen, waren die letzten Gedanken auf DDR-Seite.
Es ist sehr schade, dass ich ihm nie wiedersehen konnte. Im Notaufnahmelager in Gießen haben sich unsere Wege getrennt. Mir ist nur bekannt, dass er 1974 wieder zurück in die DDR gegangen ist.
Noch ein kleiner Hinweis. Von der Zonentreuhandstelle in Helmstedt wurden wir eingekleidet, bekamen Zugkarten nach Gießen und jeder 10DM-West. Auf einem Umsteigebahnhof hatten wir Durst an den schönen warmen Samstagnachmittag und da kauften wir uns eine kleine Flasche Cola, die wir uns teilten, der Sparsamkeit wegen, vom Westgeld.
Am 12.Juli 1969 war ich zur gleichen Zeit und Stunde, diesmal nicht in Hötensleben, sondern auf Schöninger Seite und stand am Bahndamm morgens 3Uhr30. In Berlin Tempelhof nach Hannover mit dem Flugzeug geflogen für 49DM-West hin und zurück. Von Hannover mit der Bahn in Helmstedt ausgestiegen. Ein sehr komisches Gefühl, eine Station weiter, wäre ich wieder in der DDR. Von Helmstedt umgestiegen nach Schöningen. In der Bahnhofgaststätte bis 1Uhr00 gewartet. Über die Musikbox lief vielfach der Ohrwurm von Michael Holm „
Mendocino“. Dann ging es mit großem Herzklopfen die 2,5km lange Strecke in der Dunkelheit der Nacht per Fuß zum Bahndamm. Ich wollte die Flucht gedanklich noch einmal nachvollziehen. In den Taschen 2 Flaschen Bier und zwei Schachteln Zigaretten. Ich wollte sie gen Osten werfen, doch leider war kein Grenzer zu sehen. Erleichtert, warum auch immer habe ich mir frühmorgens in Schöningen dann noch ein Zimmer gesucht. In den Mittagsstunden bin ich nochmals zum Bahndamm gelaufen. Wieder ohne Erfolg mit den Grenzern.
Ob sie wohl Angst vor mir hatten, keine Ahnung. Dennoch erleichtert bin ich wieder zurück mit Bahn und Flugzeug und habe meine Eindrücke auf Papier festgehalten.
In meiner Stasi-Akte, die 2010 beantragt und in Papierform erhalten habe, steht geschrieben, dass mich fremde Geheimdienste an die Grenze geschickt haben zur Provokation. Hat die Stasi mit dem BND oder dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet, wegen dieser Provokation?
Deutschland und die Welt, wie haste Dir verändert?
Natürlich zum Positiven!!!
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