Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, anlässlich des XXXII. Internationalen Militärhistorikerkongresses am 21. August 2006 in Potsdam
Potsdam, 21.08.2006.
Es gilt das gesprochene Wort!
Teil 1 der Rede
Ich freue mich, Sie heute im Militärgeschichtlichen Forschungsamt begrüßen zu dürfen. Historiker aus über dreißig Ländern sind in dieser Woche zu Gast in Potsdam, um über das Thema "Nationalstaat, Nationalismus und Militär“ zu diskutieren.
Ihre Tagung ist Sinnbild dafür, dass Militärgeschichte längst keine national geprägte Generalstabswissenschaft mehr ist.
Sie zielt nicht auf Überlegenheit gegenüber anderen Nationen ab. Es geht ihr vielmehr um den internationalen Diskurs und die kritische Reflexion.
Ihre enge Zusammenarbeit verdeutlicht, dass moderne Militärgeschichte das überwunden hat, was Sie zum Thema Ihres Kongresses ausgewählt haben: nämlich die unheilvolle Verbindung von Staat und Militär mit dem Nationalismus.
Meine Damen und Herren!
Die Internationale Kommission für Militärgeschichte ist Teil des Internationalen Komitees der Historischen Wissenschaften und damit der UNESCO. Dies ist ein überzeugender Ausweis für die hohe Bedeutung Ihrer Organisation.
Besonders freue ich mich, dass mit Professor Pommerin ein deutscher Historiker in den Vorstand der Internationalen Kommission für Militärgeschichte gewählt wurde.
Nach 1985 findet Ihr jährlicher Kongress nun zum zweiten Mal in Deutschland statt. Ich vermute, dass damals kaum einer derjenigen, die in Stuttgart teilnahmen, daran geglaubt hätte, dass die Mauer fallen, Deutschland wiedervereinigt und ein Kongress der Internationalen Kommission für Militärgeschichte in Potsdam stattfinden würde.
Meine Damen und Herren!
Mit der Wiedervereinigung unseres Landes und dem Ende des Kalten Krieges hat eine neue Epoche in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik begonnen.
Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert hat sich gelöst von der eindimensionalen Betrachtung von Militärpotentialen, wie sie für die Zeit des Kalten Kriegs im vergangenen Jahrhundert charakteristisch war.
Sicherheit muss heute mehr denn je neben militärischen gleichermaßen politische, diplomatische, soziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Dimensionen umfassen. Der Einsatz von Militär ist keine von ausschließlich militärischen Erwägungen geleitete Handlung der Politik. Mehr denn je haben Soldaten eine unterstützende Rolle in einem breit angelegten sicherheitspolitischen Konzept.
Damit sinkt die Bedeutung des Militärs als Mittel staatlichen Handelns nicht, sondern ändert sie in Relation zu anderen Mitteln staatlichen Handelns.
In vielen Fällen schafft militärisches Handeln erst die Grundlage, auf der andere Akteure aufbauen können, um zu langfristigen und tragfähigen Konfliktlösungen zu gelangen.
Dies erfordert ein optimales Zusammenspiel und den effizienten Einsatz unterschiedlicher Akteure und Instrumente. Deshalb benötigen wir eine vernetzte Sicherheitspolitik – im nationalen wie im internationalen Bereich.
Deutschland engagiert sich dort, wo seine Sicherheitsinteressen betroffen sind. Diese definieren sich zunehmend europäisch. Deutschland und Europa haben ein vitales Interesse an stabilen Verhältnissen vor allem in den Nachbarregionen, aber auch darüber hinaus. Als Folge dieses Interesses ist die Bundeswehr heute eine Armee im Einsatz. Annähernd 8.000 Soldaten sind weltweit für Sicherheit und Stabilität außerhalb der Grenzen Deutschlands engagiert.
Die Bundeswehr stellt sich also den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit den im Rahmen der Transformation eingeleiteten Maßnahmen wird heute und zukünftig sichergestellt, dass sich die Streitkräfte kontinuierlich an sich ändernde Rahmenbedingungen anpassen. Oberstes Ziel bleibt dabei die Verbesserung der Einsatzfähigkeit.
Meine Damen und Herren!
Parallel zum Wandel im sicherheitspolitischen Umfeld haben sich auch einige Rahmenbedingungen für die militärgeschichtliche Forschung verändert. In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine wahre Renaissance der Militärgeschichte.
War das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam früher die einzige Institution, die sich mit diesen Fragen befasste, so gibt es heute einen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität in Potsdam, einen Arbeitskreis Militärgeschichte, einen Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen“ und eine Vielzahl militärhistorischer Dissertationen an deutschen Universitäten.
Die Universität Potsdam, das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr und das Militärgeschichtliche Forschungsamt werden im nächsten Jahr erstmals einen Master-Studiengang „Militärgeschichte und Militärsoziologie“ anbieten.
Heute besitzen viele Deutsche ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass Militärgeschichte wichtig ist für das politische Selbstverständnis unseres Landes. Sie haben erkannt, dass sie hilft, aktuelle Fragestellungen zu beantworten.
Deutschland wurde in seiner Geschichte mehr als andere Länder durch das Militär geprägt. Aufgrund seiner geostrategischen Mittellage in Europa war es immer wieder Schauplatz von Kriegen.
So führte etwa seine Zersplitterung nach dem Dreißigjährigen Krieg zu unzähligen bewaffneten Konflikten zwischen den deutschen Staaten.
Für den Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert spielte das Militär eine zentrale Rolle – nicht nur in der Erweiterung und Verteidigung des preußischen Staatsgebiets, sondern auch für die politische und soziale Entwicklung des Landes.
Preußen war ein Staat, in dem die Idee des Dienens für das Gemeinwohl geprägt und vorgelebt wurde. Noch heute werden Tugenden wie Pflichtbewusstsein, Treue, Leistungsbereitschaft, Bescheidenheit sowie Gottesfurcht bei gleichzeitiger Toleranz als preußische Tugenden bezeichnet.
Dass diese Tugenden im Nationalsozialismus pervertiert und für einen verbrecherischen Angriffskrieg genutzt wurden, darf die Tatsache nicht verdrängen, dass Preußen sein Militär meistens sehr zurückhaltend einsetzte. Nicht umsonst stand auf den preußischen Kanonen die Inschrift: „Ultima ratio regis“ – der Waffengang ist der letzte Ausweg.
Deutsche Geschichte zu verstehen, ohne das deutsche Militär zu berücksichtigen, ist daher nicht möglich. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt ist dieser Aufgabe verpflichtet.
Es ist eine unabhängige Forschungseinrichtung, die in vollem Umfang die Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistet. Auf diese Weise hat es sich nicht nur in den deutschen Streitkräften, sondern auch in der Wissenschaftslandschaft einen beachtlichen Namen geschaffen.
Der Wissenschaftsrat, der im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Forschungseinrichtungen des Bundes evaluierte, hat bestätigt, dass das Militärgeschichtliche Forschungsamt einen unverzichtbaren Beitrag zur allgemeinen Geschichtswissenschaft leistet, der so von keinem anderen Institut erbracht wird.
Darüber hinaus hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt den Auftrag, mit der Wissenschaft im Gespräch zu bleiben, neue Erkenntnisse für die Streitkräfte zu nutzen und zugleich spezifisch militärischen Sachverstand in die Geschichtswissenschaft einzubringen. Militärgeschichte darf jedoch nicht auf Kriegsgeschichte beschränkt werden. Wenn ich vorhin gesagt habe, kaum ein anderes Land sei so wie Deutschland von seinem Militär geprägt gewesen, so bedarf auch dies der historischen Erklärung.
Es müssen deshalb Fragen nach dem Zusammenhang von Militär und Gesellschaft beantwortet werden, nach der Verbindung von Militär und Technik, von Militär und Wirtschaft. Eine moderne Militärgeschichte muss sich daher als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichtswissenschaft verstehen.
Die Militärgeschichte hat damit auf Fragestellungen reagiert, wie sie sich insbesondere durch die Veränderungen im sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Umfeld entwickelt haben. Militärgeschichte als integraler Bestandteil einer allgemeinen Geschichtswissenschaft greift damit einen Gedanken auf, auf dem auch das Konzept der Vernetzten Sicherheitspolitik beruht.
Inhaltlich sehe ich einen Schwerpunkt der militärgeschichtlichen Forschungsarbeit bei der Aufarbeitung der Geschichte der Bundeswehr sowie der westdeutschen Sicherheitspolitik. Der Beitrag der Bundeswehr zur Friedenssicherung im Kalten Krieg verdient es, künftig noch stärker in den Blick genommen zu werden.
Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch die Militärgeschichte der DDR. Kein Staat in der deutschen Geschichte ist so durchgehend militarisiert gewesen wie die DDR; das "System der sozialistischen Landesverteidigung“ war allgegenwärtig.
Hier geht es nicht nur um jene, die von der Staatssicherheit verfolgt, eingesperrt oder psychisch zermürbt wurden. Hier geht es um die strukturelle Gewalt im Alltag, um Spielzeugpanzer im Kindergarten, um Wehrunterricht an den Schulen, um die alltägliche Militarisierung der Gesellschaft durch Luftschutz und Zivilverteidigung, um die Belastungen der Volkswirtschaft durch übersteigerte Rüstungsaufwendungen und ein Grenzsystem, das mit unglaublichem Aufwand, personell, materiell und finanziell, die Bürger daran hinderte, das eigene Land zu verlassen.
Von der Militärgeschichtsschreibung über die DDR erwarten wir auch einen Beitrag zu der Frage, welche Rolle der ostdeutsche Teilstaat im Rahmen des Ostblocks gespielt hat, oder auf die Frage, ob ihn sein übersteigertes Bedürfnis nach Sicherheit vor den eigenen Bürgern letztlich ruiniert hat.
Die Fragen müssen nach den Standards geschichtswissenschaftlicher Forschung bearbeitet werden. Ich freue mich, dass der Wissenschaftsrat gerade diese Aufgabe als besonders wichtig für das Militärgeschichtliche Forschungsamt herausgestellt hat.
Ende 1. Teil
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