Schüsse bei Helmstedt

Schüsse bei Helmstedt

Beitragvon Werner Thal » 22. September 2016, 09:57

DER SPIEGEL 22 / 1956 - Schüsse bei Helmstedt

Der Morgen graute. An jener Stelle, an der die Zonengrenze den Braunkohlentagebau
Wulfersdorf der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke (BKB) zu Helmstedt in einen
östlichen und einen westlichen Teil zerschneidet, sah ein Beamter des bundesrepubli-
kanischen Zollgrenzdienstes, wie eine Anzahl Männer von Osten her ganz offen auf die
Zonengrenze losmarschierte und Anstalten machte, diese Linie zu überschreiten.

Der Zollbeamte riß aufgeregt seinen Karabiner von der Schulter, entsicherte und legte
an. Sekunden später peitschten scharfe Schüsse über die Köpfe der Männer aus dem
Osten.

Das Echo der Schüsse - niemand wurde getroffen - war zwischen den Kohlenhalden
kaum verhallt, als der Zollbeamte Befehl erhielt, in solchen Fällen künftig nichts mehr
zu unternehmen. Aus dem Befehl ging hervor, daß die Zonengrenze an dieser Stelle
keine Zonengrenze im alten Sinne sei.

Seit diesem Tage - Ende letzten Monats - kommen an jener Stelle jeden Morgen Arbeiter
aus der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik völlig unbehelligt in die
Bundesrepublik. Zugleich passieren bundesrepublikanische Arbeiter kaum fünf
Kilometer weiter südlich im Tagebau Victoria den Stacheldraht in Richtung Osten, und
kein Volkspolizist der sowjetzonalen "Deutschen Grenzpolizei" kümmert sich darum.

Damit, so scheint es, ist ein erster Schritt getan, um an dieser Stelle dem Eisernen
Vorhang den Charakter eines unüberquerbaren Todesstreifens zwischen der östlichen
und der westlichen Welt zu nehmen und die Zonengrenze wieder zu einem zu machen,
was sie ursprünglich war: zu einer von alliierten Befehlshabern gezogenen Demarkations-
linie zwischen ihren Besatzungsbereichen in Deutschland.

Im Jahre 1947 waren die vier Besatzungsmächte übereingekommen, daß alle Maßnahmen
zu unterbinden seien, die den Abbau der reichhaltigen Kohlenflöze des Helmstedter
Gebietes sowie die Rentabilität der Gesamtanlagen der Braunschweigischen Kohlen-
Bergwerke beeinträchtigen könnten. Dazu war es nötig, der Zonengrenze nicht mehr als
administrative Bedeutung beizumessen. Die Linie lief nämlich - etwa entlang der Grenze
zwischen dem ehemaligen Land Braunschweig und der Provinz Sachsen - mitten durch
die Tagebaue hindurch.

Die Grenze wurde jedoch auch in diesem Gebiet eine wider alle wirtschaftliche Vernunft
unübersteigbare Barriere, als sich Anfang Mai 1952 abzeichnete, daß es der Bundesregierung
in Bonn und den drei Westmächten mit der Unterzeichnung des damals noch General-
vertrag genannten Deutschlandvertrages ernst war. Schon am (Dienstag) 6. Mai 1952
verwehrten Volkspolizisten im Tagebau Wulfersdorf, der von der Demarkationslinie genau
wie der Tagebau Victoria durchschnitten wird, achthundert westdeutschen Arbeitern den
Übertritt in die Sowjetzone.

Das war aber erst der Anfang. Am 25. Mai erhielt die Betriebsführung der Braunschweigischen
Kohlen-Bergwerke in ihrem Helmstedter Bürohaus eine Mitteilung der sowjetzonalen
Volkspolizei, daß der Arbeitergrenzverkehr zwischen Ost und West eingestellt werde.
Um 7.30 Uhr am nächsten Tage, drei Stunden bevor im Bonner Bundesratssaal die
Außenminister Eden, Schuman, Acheson und der Kanzler Adenauer den Generalvertrag
unterzeichneten, besetzten Volkspolizisten die ostwärts der Zonengrenze gelegenen
Betriebe der BKB - nämlich Teile des Tagebaus Victoria, das Kraftwerk Harbke und die
Brikettfabrik Fürst Bismarck in Völpke - und vertrieben die Westarbeiter.

Punkt 10 Uhr desselben Tages wurde die Zonengrenze auch im Tagebau Wulfersdorf
abgeriegelt, unbeschadet der Tatsache, daß östlich noch westliche Bagger standen,
an denen bis heute (Mai 1956) schwarzrotgoldene Fähnchen der Deutschen Demokrati-
schen Republik flattern. Zur gleichen Stunde wurde auch der Werkstelephonverkehr
zwischen beiden Deutschlands unterbrochen, und im Kraftwerk Harbke, wohin die
Verbindung noch funktionierte, sagte ein Vopo-Offizier barsch: "Legen Sie auf, es hat
keinen Zweck." Die Sowjetzonen-Teilstücke der BKB wurden zu einem
"Volkseigenen Betrieb" gemacht.

Den Braunschweigischen Kohlen-Bergwerken gelang es in verhältnismäßig kurzer Zeit,
ihre auf westlicher Seite gelegenen Betriebe von östlicher Unterstützung unabhängig
zu machen. Die Sowjetzone hat jedoch seitdem mit den Teilbetrieben in ihrer Hand
keine rechte Freude gehabt.

Bis zur Schließung der Zonengrenze an dieser Stelle hatte das Kraftwerk Harbke, das
auf sowjetzonalem Gebiet liegt, monatlich 83 Millionen Kilowattstunden nach Ost
und West geliefert und täglich 5000 Tonnen Kohle und 17 000 Kubikmeter Wasser aus
dem Westen bezogen. Diese Bezugsquelle war plötzlich versiegt. Noch heute (Mai ´56)
muß Harbke etwa ein Drittel seines Kohlenbedarfs von weither heranschaffen, einen
großen Teil aus Nachterstedt in der Staßfurter Gegend.

Vier Jahre dauerte der wirtschaftliche Unsinn. Dann trafen sich unter strengster Geheim-
haltung Vertreter der Braunschweiger Kohlen-Bergwerke und der "Volkseigenen
Braunkohlengruben Harbke". In einem Büroraum der rot angemalten Baracken, die am
Ortseingang des westlichen Offleben stehen, wurde heimlich ein Vertrag unterschrieben.
Dieser Vertrag sieht die Nutzung von etwas mehr als 36 Hektar Grubengelände ostwärts
der Zonengrenze im Tagebau Wulfersdorf durch die "Vokseigenen Betriebe" vor.

und hier geht es weiter:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43062363.html

W. T.
Wer einen Rechtschreibfehler findet, darf ihn behalten.
Russian Military out of Ukraine
русские идут домой
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Werner Thal
 
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