Die Ärzteschaft, der "Menschenhandel" und die SED
Nicht ohne Grund bezeichnen viele Historiker den 13. August 1961 als die "heimliche" oder "endgültige" Gründung der DDR, da der Mauerbau die anhaltende Fluchtbewegung aus der DDR weitgehend stoppte und den "Aderlass" von Fachkräften, zum Beispiel Medizinern, unterband. Aber es etablierten sich neue Wege für das von der DDR-Regierung sanktionierte "illegale Verlassen der Republik". Insbesondere neu entstehenden "Fluchthelferorganisationen", im Jargon des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS) der DDR "Menschenhändlerbanden" genannt, wuchs in den sechziger und siebziger Jahren eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. In den Anfangsjahren nach 1961 noch ideell geprägt, fand im Laufe der Zeit eine Professionalisierung und Kommerzialisierung statt, aber auch eine gezielte Unterwanderung durch die Stasi. Sie ließ nach eigenem Ermessen Fluchtfälle auffliegen, manchmal aber auch gelingen, damit kein Verdacht auf ihre Informanten in solchen Kreisen fiel.
Durch den einsetzenden Prestigeverlust im Westen der oft auch im kriminellen Milieu arbeitenden Organisationen und durch die beginnende Spezialisierung des MfS zur Aufklärung und Abwehr solcher "Fluchthilfen" ab spätestens 1972, verlangten die Organisationen vermehrt Geld von den zu "schleusenden" Kandidaten. Lagen die Preise anfänglich noch bei 3.000 DM pro Person, so stiegen diese bis Mitte der siebziger Jahre auf 15.000, vereinzelt sogar auf 30.000 DM pro Flüchtling. Dass sich gerade die Ärzteschaft in den siebziger Jahren zu einer der Hauptkunden dieser "Fluchthelferorganisationen" entwickelte, ist ein bisher kaum erforschter Umstand, der damals allerdings schnell ins Visier des MfS geriet.
Die Zahlen
Es darf davon ausgegangen werden, dass von der Gesamtzahl geglückter Fluchten von Ärzten mindestens zwei Drittel mit Hilfe dieser Organisationen erfolgten. Anhand der MfS Akten und der darauffolgenden historischen Auswertung konnte ermittelt werden, dass im Jahr 1978 beispielsweise 58 Ärzte "illegal" die DDR verließen, wobei sich der überwiegende Teil von 41 Personen der Unterstützung von "Fluchthelferorganisationen" bediente.
[quote]Im Vergleich zur Gesamtanzahl der "geschleusten" Personen machten Ärzte einen Anteil zwischen 15 und 20, im Jahr 1978 sogar 35 Prozent aus, weshalb sie als eine Hauptkundschaft der Schleuser bezeichnet werden können. Das größte Problem für die DDR bestand darin, dass das Alter der flüchtigen Ärzte zumeist zwischen 31 und 35 Jahren lag. Dies bedeutete, dass Mediziner oft direkt nach der Beendigung ihrer Facharztausbildung versuchten, nach Westdeutschland zu fliehen. Der aus dieser Situation heraus entstandene "materielle" Schaden rechnete sich laut SED-internen Analysen auf eine Million Mark pro Arzt, was einen großen Verlust für die DDR darstellte, die sich ohnehin in einer finanziell- und wirtschaftlich angeschlagenen Lage befand. Doch statt die Ursachen genauer zu erforschen und eine Lösungssuche konstruktiv anzugehen, spezialisierte sich das MfS im Laufe der siebziger Jahr zunehmend auf die "Abwehr und Aufklärung" der "Ausschleusungen" aus den Rängen der "medizinischen Intelligenz".
AZ