von OaZ » 14. August 2020, 22:08
Grenzertagebuch 17 B
Zum ersten Mal an der Grenze
Es ist nicht meine erste Komplettschicht, die ich hier beschreiben möchte, wohl aber ists mein wirklich erster (bewaffneter) Einsatz an der Staatsgrenze.
Ich werde als Posten einem Ltn. zugeteilt, der hier bereits das 2. Jahr als ZF tätig ist und im Herbst 1982 zum Oltn. befördert wird. Er ist verheiratet und hat einen 2jährigen Sohn.
Der Trabi bringt uns in den SiA 8 des GR-3. Wir passieren das Tor 39 (Straße Andenhausen - Tann) und fahren auf dem Kolonnenweg nach rechts bis zum Kohlbach. Dort steigen wir aus und der Ltn. beginnt, mich einzuweisen. Er erklärt mir, worauf ich achten soll, vergisst dabei nicht, mich auf die Gefahren des Kolonnenweges hinzuweisen. Diese Löcher in den Platten werde ich noch oft verfluchen.
Vor einem Tag fand die Einweisung im gesamten Bataillonsabschnitt statt, davon konnte ich mir allerdings nicht allzu viel merken. Es waren zu viele Infos, die da auf mich einstürmten.
Ich laufe vorschriftsmäßig vor meinem Postenführer, es geht auf dem Kolonnenweg entlang, es geht bergan. Linkerhand der 6er, rechts waldreiche Gegend, kleinere Wiesen, alles recht beschaulich und es könnte mir gefallen, auf ihnen spazieren zu gehen. Es sind tatsächlich Wiesen, auf ihnen steht hohes Gras. Sauerampfer, den ich bereits in Kindertagen recht gern gegessen habe, sehe ich auch und ich pflücke mir einige Stängel und kaue die Blätter.
Wir reden über die Grenzkompanie, er will wissen, woher ich komme, warum ich hier bin, was ich erwarte ... na ja ... Gespräche solcher Art eben.
Er fragt nach Ausbildungsoffizieren in Plauen, wir stellen fest, dass es einige gibt, durch deren Hände wir sozusagen beide "gegangen" sind. Legendär: Oberstleutnant Panke (in Stiefeln gestorben) und Oberstleutnant Wosiclo.
Inzwischen laufe ich nicht mehr vor ihm, er läuft neben mir und ich finde das ungewöhnlich. Er kennt mich nicht, läuft neben mir und ich fühle mich ziemlich vertraueneinflößend.
In ca. 60 min passieren wir den Tannblick, jenen Postenpunkt, den ich mir bereits am Einweisungstag merken konnte, da er die gleiche Nr. wie die Polizeirufnotfallnummer trägt. Die Bank steht immer noch und Roland meint, dass sie hier so gar nicht gut steht.
Das ist mir zwar auch klar, allerdings sagt er es aus einem anderen Grund, als ich es denke. Für mich ist durch sie ggf. die Rundumbeobachtung nicht gewährleistet, aus seiner Sicht stellt sie ein mögliches Hilfsmittel bei der Überwindung des Zaunes dar. Später wird er veranlassen, dass sie entfernt wird.
Wir verlassen den SiA 8 und laufen auf dem Kamm in Richtung Grenzkopf. Der Weg dorthin ist eher eintönig, rechts Wald, links Wald, dazwischen der Kolonnenweg und links von uns die Minensperre MS-66.
Mein erster Einsatz an der Grenze ist weitaus weniger spektakulär, als ich es gedacht hatte. Unser Befehl lautet, bis zum PoP 100, d.h. bis zur Straße Motzlar - Tann zu laufen.
Unterwegs treffen wir auf gerade mal 2 Grenzposten. Den ersten nehmen wir im Kohlbachbereich wahr. Ihn zu kontrollieren ist jedoch unmöglich, da wir uns ihm mit einem Trabi näherten.
Der 2. Posten handelt im Grenzkopfbereich, ihn sehen wir nicht. Ich finde es gut, denn nach meiner Meinung tarnt er sich gut.
Ltn. H. ist sich da nicht so sicher, er tippt darauf, dass der Posten sich im Wald aufhält bzw. am Grenzsignalzaun handelt. Wir sehen ihn jedenfalls nicht, werden darüber auch später so berichten.
Es ist inzwischen am frühen Nachmittag und wir brechen zum Rückweg auf. Ich erinnere mich noch gut an diesen verdammt steilen Berg, den wir nun, nachdem wir ihn nach unten gelaufen sind und unsere Schienbeine von der Stauchung weh tun, in die andere Richtung bezwingen müssen.
Es beginnt der Moment, dass ich diesen Berg zu hassen beginne. Ganz gewiss nicht mit Defiziten in der militärischen Körperertüchtigung ausgestattet (Note 2 auf dem Zeugnis), kraxle ich nach oben. Bereits nach wenigen Metern beginnen die Kniegelenke und die Oberschenkel zu schmerzen und wir haben noch mindestens 8 km vor uns. Roland ist im Gegensatz zu mir Raucher, dennoch ist er sehr belastbar und seine Lunge "pfeift" zwar, aber er läuft kontinuierlich schnell. Ich habe Mühe voranzukommen und werde von ihm angetrieben. Ich habe damit kein Problem, weiß ja, dass ich ihm als Posten unterstehe.
Es ist ein Freitag und er keucht hinter mir. Er muss seinen Zug schaffen, er will mit seiner Familie seine Eltern in Cottbus besuchen.
Ich bin dabei sein größtes Hindernis, weil ich ihm nicht schnell genug bin.
Ich laufe nicht langsam, laufe zügig, er macht mir dennoch Druck.
"Komm, Unterleutnant, mach Betrieb! Oder willst du mich nach Erfurt fahren?"
"Womit?"
"Mir egal, ich muss den Zug kriegen. Mach Ballett!"
Ich laufe schneller, ihm reichts immer noch nicht aus. Er rechnet mir vor, wie lange wir bei diesem Tempo noch brauchen. Ich staune über seine Fähigkeiten, wie er einschätzt, wann wir an welchem Punkt sein werden und wie lange er dann noch hat, um sich zu duschen, umzuziehen und nach Empfertshausen zu seiner Familie zu kommen.
In wenigen Monaten werde ich das auch so ausrechnen können, gegenwärtig beeindruckt es mich noch schwer.
Jetzt passiert etwas, was ich mir nie vorstellen konnte.
Roland läuft an mir vorbei und läuft vor mir. Er will das Tempo vorgeben und missachtet den Grundsatz, dass der Postenführer niemals vor seinem Posten laufen soll. Ich stutze.
Dies wird mir im Laufe meiner Dienstzeit nicht ein einziges Mal passieren. Immer werde ich derjenige sein, der seinen Posten jederzeit im Auge hat.
Roland ist streckenweise mehr als 100 Meter (!) vor mir. Er dreht sich nicht um und er würde es nicht bemerken, wenn ich plötzlich verschwinde. Ich bin sprachlos.
Tage später werde ich ihn darauf ansprechen. Er wird antworten, dass er sich auf sein Bauchgefühl verlassen kann.
Ich werde einerseits stolz sein, andererseits werde ich sein Handeln nicht verstehen können: Er läuft am allerersten Tag mit einem Neuen in einem Abschnitt, in dem sich weit und breit kein Posten aufhält und handelt so unvorsichtig. Noch lange Zeit werde ich darüber nachdenken ...
Roland schafft seinen Zug.
Es war mein erster und einziger Einsatz mit ihm.
Als Zugführerkollegen werde ich ihn schätzen lernen - trotz dieses für mich gravierenden Fehlers.