DER SPIEGEL ONLINE - 40/1958:
ZONENGRENZE / KONTAKTE - Gras darüber
"Im thüringschen (sowjetzonalen) Landkreis Heiligenstadt steht unfern der Zonengrenze
ein Grasbüschel. Mehrere Tage lang war es das Objekt eines gesamtdeutschen Gesprächs.
Heute (1958!) ist es - wenn es nicht inzwischen von einem Rindvieh gefressen wurde -
ein Mal für die traurigen dialektischen Künste, mit denen Ulbrichts Söldner jeden noch so
lächerlichen Kontakt zwischen Deutschen beiderseits der Zonengrenze unterbinden.
Die Geschichte des Heiligenstädter gesamtdeutschen Gesprächs begann, als
Vermessungsoberinspektor Henke vom Hessischen Landesvermessungsamt auf den Feldern
nahe dem bundesrepublikanischen Ort Witzenhausen über das Visier eines
Theodoliten nach einem trigonometrischen Punkt zu peilen versuchte, der auf
sowjetzonalem Gebiet liegt. Dabei erwies sich ein auf der Visierlinie jenseits der
Zonengrenze gewachsenes Grasbüschel als hinderlich.
Mit den strengen Gebräuchen der sowjetzonalen Behörden nicht vertraut, marschierte
Vermesser Henke an den Zonendraht, wünschte dem dort auf Wache stehenden
Volkspolizisten einen guten Morgen und bat ihn, das hinderliche Grün niederzutreten.
Der solchermaßen gesamtdeutsch Angesprochene vermutete offensichtlich mit dem
ihm eingebleuten Scharfsinn sofort einen Nato-Anschlag hinter dem Begehren.
Deklamierte er ohne zu Zögern und Stocken:
"Das kann nur durch unsere Regierungsstellen veranlaßt werden."
Der naive Vermesser Henke zog ab, und "Regierungsstellen" übernahmen die Fortführung
des gesamtdeutschen Grasbüschel-Gesprächs. Nach einem interzonalen Telephonat
begaben sich Polizeioberkommissar Dreiss und Polizeimeister Decker aus
Witzenhausen an die Grenze. Auf der anderen Seite - aber in gehöriger Entfernung
von der Grenze - erschien eine "Wartburg"-Limousine. Insassen: Ein Vopo-Oberleutnant
mit Gefolge.
Dann spielte sich folgendes ab: Der Limousine entstieg ein Unteroffizier, näherte sich
der Grenze und fragte die westdeutschen Beamten nach ihrem Begehr. Man wünsche,
das Grasbüschel niedergetreten zu sehen, war die Antwort. Der Korporal memorierte
das Gesagte und kehrte zur Limousine zurück.
Nach Ablauf einer Viertelstunde sahen die Westdeutschen den Unteroffizier ein
zweites Mal kommen. Sein Bescheid: Die Vopo-Kommandantur sehe sich außerstande,
aus eigener Machtvollkommenheit das Niedertreten des Grasbüschels zu veranlassen.
Dafür sei "zunächst einmal" der Rat des Kreises Heiligenstadt zuständig.
Der unermüdliche Vermesser Henke ließ auch diese Chance nicht aus. Binnen kurzem
war eine Telephonverbindung mit der Kreisverwaltung des sowjetzonalen
Heiligenstadt hergestellt. Zum drittenmal brachte der Vermesser seinen Wunsch nach
Beseitigung des Grasbüschels vor. Indes, auch das sozialistische Bewußtsein der
Kreisverwaltung war nicht ohne. Erfuhr Henke: "Den Antrag müssen Sie schon
schriftlich stellen. Außerdem sind verantwortliche Herren heute nicht im Hause."
...und hier kann man die tolle und spannende Story weiter verfolgen:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759246.html
W. T.