Wiedervereinigung in Kleintettau

Wiedervereinigung in Kleintettau

Beitragvon Werner Thal » 18. August 2016, 16:10

DIE ZEIT v. 28. November 1975:

>Leute wie die Wiegands gibt´s in ganz Deutschland nicht noch einmal. Sie gehören zum
Westen und wohnen in der DDR, und weil sie dreißig Jahre lang mit dumpfer Beharrlichkeit
an diesem Zustand festgehalten haben, wird ihr Stück Osten jetzt dem Westen zugeschlagen.
Die gemischte Grenzkommission, die derzeit einige Falten im Eisernen Vorhang glättet, hat
es beschlossen: In der rauhen Hügellandschaft an der Nahtstelle zwischen Thüringen und
Oberfranken, wird es in den nächsten Wochen eine Wiedervereinigung im Kleinstformat
geben.

Die das inszeniert haben, sind aber weder Politiker, noch Beamte oder Funktionäre, sondern
biedere Rentner, Bürger des für seine Flacons, Schnaps- und Biergläser bekannten
803-Seelendorf Kleintettau, mal SPD-, mal FDP-Wähler, praktizierende Mitglieder der evan-
gelisch-lutherischen Auferstehungsgemeinde. Nur eines unterscheidet Wilhelm und
Gertrud Wiegand von Millionen anderen ihres Schlages: Ihr schieferverkleidetes
Zwölf-Zimmer-Haus, Baujahr 1896, liegt hundert Meter östlich von einem Holzschild am
Rande der Hauptstraße. Darauf steht: "HALT, ZONENGRENZE".

An diesem Schild traf sich unlängst Karl Herold, Parlamentarischer Staatssekretär im
Innerdeutschen Ministerium, mit dem gesamtdeutschen Ehepaar, dem eine eindeutig
auf Bundesgebiet lebende Gartennachbarin in der hier schon üblichen thüringisch-
obersächsischen Mundart den hohen Besuch angekündigt hatte: "Machense mal zur
Grenze, da gommd eener aus Bonn." Das Schild darf, solange die Beschlüsse der
gemischten Kommission nicht unterzeichnet sind - und das wird voraussichtlich erst
im Januar (1976) geschehen -, von keiner westdeutschen Amtsperson passiert werden.
Der Postbote kann zu dem grauen Haus am Minenfeld keine Briefe bringen, der
Gemeindediener das Wasser nicht ablesen, und würde bei den Wiegands eingebrochen,
der Dorfgendarm dürfte am Tatort nicht ermitteln.

Doch auch für andere ist es nicht ganz ungefährlich, den aus einem bewohnten und zwei
leeren Häusern bestehenden, hundert Meter breiten und einen Kilometer langen
DDR-Wurmfortsatz von Kleintettau zu betreten. Manchmal riskieren West-Berliner
Touristen, die hier im Zonenrandgebiet für 23 Mark-(West) am Tag (Vollpension)
Billigurlaub machen, einen kessen Schritt über die Demarkationslinie. Da kommt es schon
vor, dass plötzlich aus einem der beiden leeren Häuser Angehörige der Volksarmee
auf sie zustürzen und sie zum Verhör in die thüringische Kreisstadt Saalfeld abführen.<

...und hier kann man weiterlesen:

http://www.zeit.de/1975/49/wiederverein ... ettansicht

http://www.grenzerinnerungen.de/bilder/ ... leintettau

W. T.
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Re: Wiedervereinigung in Kleintettau

Beitragvon augenzeuge » 18. August 2016, 16:55

Etwas kann ich ergänzen...

AZ
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Re: Wiedervereinigung in Kleintettau

Beitragvon Werner Thal » 18. August 2016, 18:31

Danke - AZ - für deine Ergänzung, denn die Zeitungsartikel kannte ich noch nicht!

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Re: Wiedervereinigung in Kleintettau

Beitragvon Volker Zottmann » 18. August 2016, 19:00

In dieses Leben kann man sich gar nicht reinversetzen. So abartig, wie dort über 30 Jahre der Grenzverlauf war.

Viel gegen das Vergessen hat der junge Pfarrer Florian Bortfeld aus Ostrhauderfehn im Emsland mit seiner Seite http://www.grenzerinnerungen.de getan. Ganz rührig, hat er im Gemeindekirchengrundstück für Interessierte ein Stück der verhassten DDR-Grenzanlagen aus Originalteilen errichtet. Mit ihm bin ich durch eine meiner e-Bay Verkaufsanzeigen in persönlichen herzlichen Kontakt gekommen.
Auf seiner Internetseite listet er auch alle geschleiften Gehöfte und Dörfer, die einem freien Schussfeld weichen mussten.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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