Der Vorfall an der innerdeutschen Grenze 1979 bei Sorge im Spiegel der beteiligten Grenzsoldaten und des MfSNach Stasi-Akten aus BStU-Unterrichsmaterial für Schulen rekonstruiert von hpfMai 1996. Zwei ehemalige DDR-Grenzsoldaten stehen nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung vor dem Landgericht Magdeburg. Sie müssen sich wegen Tötung eines 15jährigen aus Halle-Neustadt am 8. Dezember 1979 verantworten, der bei einem Fluchtversuch durch einen Treffer in den Rücken niedergestreckt wurde. Er wollte mit einem gleichaltrigen Freund bei Sorge über die DDR-Grenze in den westlichen Teil des Harzes fliehen. - Um die 100 Kinder und minderjährige Jugendliche sollen nach inoffiziellen Schätzungen ehemaliger DDR-Bürgerrechtler an der Berliner Mauer und der Zonengrenze ums Leben gekommen sein.Die Flüchtenden hatten bereits beim Eindringen in den Schutzstreifen des Grenzbereiches am zweiten Grenzsignal- und Sperrzaun (GSSZ II) ein Alarmsignal ausgelöst, als sie Drähte verbogen, um hindurch kriechen zu können. Die Führungsstelle beorderte einen Grenzaufklärer zu der Stelle. In seiner späteren dienstlichen Stellungnahme erklärte der Oberfeldwebel handschriftlich: „Bei dieser Kontrolle stellte ich fest, daß an einem unteren Zaun die vier unteren Signaldrähte zusammen gerödelt waren… Auf Grund der erkennbaren Spuren (Schuhabdrücke – die Red.) schlußfolgerte ich, daß an dieser Stelle zwei Personen in der Bewegungsrichtung DDR > BRD in den Schutzstreifen eingedrungen waren.“ Sofort wurde ein Zug Grenzsoldaten von der in Sorge stationierten Grenzkompanie alarmiert.
Die beiden Grenzer, die 17 Jahre später wegen der Tötung eines der beiden Jugendlichen vor dem Landgericht Magdeburg standen, gehörten zu diesem Alarmzug, der zur Verhinderung der Flucht und dem Aufgreifen der beiden 15jährigen Schüler ins Grenzgebiet bei Sorge ausgerückt war. Und beide Flüchtlinge liefen damals plötzlich nur noch 70 Meter entfernt vom letzten mit Selbstschussanlagen SM 70 „gespickten“ Grenzzaun diesen beiden Grenzsoldaten „in die Quere“. In seiner pflichtgemäßen „Dienstlichen Äußerung“ schrieb der Postenführer der Streife über den Vorfall noch am gleichen Tag: „Zu dieser Zeit, es war meiner Meinung nach zirka 15.30 Uhr, herrschten keine sehr günstigen Witterungsbedingungen, es war leicht neblig und nieselte… Kurz nahmen wir in dem 50 Meter vor uns liegenden Waldabschnitt (der ins Hinterland führte – die Red.) verdächtige Geräusche wahr… Gegen 16 Uhr konnten wir in ca. 60 Meter Entfernung zwei männliche Personen feststellen, die sich parallel der Staatsgrenze und unserer Stellung entlang des Waldes in nördliche Richtung bewegten…“
Seit heute morgen waren Olaf und Olli unterwegs. Richtig erwartungsvoll mit Kribbeln im Bauch waren sie heute morgen in Halle in den Zug nach Nordhausen gestiegen, und von dort aus mit der Harz-Querbahn nach Beneckenstein gedampft. Es sollte auf eine große Reise gehen, auf ein Abenteuer, dass erst richtig beginnen sollte, wenn sie es heute abend in die andere Welt geschafft hatten… Ohne diese Scheiß Polytechnische Oberschule, ohne das Parolen nachquatschen in Staatsbürgerkunde, Parolen vom Sozialismus und der besseren Zukunft, und ihrer Verantwortung als Gestalter der kommunistischen Welt von Morgen. Ab heute abend ist Schluss mit Blauhemd, FDJ, Fahnenappell und russische Vokabeln pauken. Endlich frei sein und die Welt entdecken, Träume haben dürfen, die einem kein Lehrer und keiner von der Partei mehr als Flausen streitig machen würde… Und endlich richtige Musik ungestört hören können, und die heißesten Filme in ARD und ZDF ohne Nebel auf dem Bildschirm…
"... befahl ich gezieltes Feuer"Als sie beide vorhin unter diesem komischen Zaun unten durchkrochen, hatte Olli schon gehofft, dass sie es nun endlich geschafft hätten. Olaf , der schon einmal versucht hatte in den Westen abzuhauen, drängelte aber: „Los wir müssen noch weiter zum nächsten Zaun. Und etwas cooler, nicht so mit Schiss in den Hosen drauf los latschen.“ Olli war schon einige Male bei dem Schleichen durch diesen blöden Wald aufgeregt auf einen Ast getreten, dass es knackte. Hoffentlich waren sie beide hier allein und fanden eine Stelle, um endlich über diesen letzten Zaun zu kommen… Die Latscherei wollte kein Ende nehmen.
Und weiter gab der Gefreite handschriftlich zu Protokoll: „Als diese dann in ca. 30 Meter die Höhe unserer Stellung erreichten, forderte ich sie auf, stehenzubleiben und die Hände hochzuheben und lud gleichzeitig meine Schußwaffe durch."
Wie Blitz und Donner zugleich fuhr Olli der Schrei dröhnend in Mark und Glieder: „Stehenbleiben! Hände hoch oder wir schießen!“ Bloß weg! Automatisch rannte Olli los. Zurück Richtung Hinterland. Er drehte sich nicht um, lief halb gebückt keuchend wie ein Berserker um sein bißchen Leben. Zweige schlugen ihm ins Gesicht.
Über die nächsten Sekundenbruchteile vermerkte der Postenführer in seiner dienstlichen Stellungnahme: "Daraufhin versuchten die Personen in gebückter Haltung fluchtartig in das angrenzende Waldgebiet (ins Hinterland – die Red.) zu entkommen. Nach einem durch mich abgegebenen Warnschuss, die Personen waren zu diesem Zeitpunkt schon in das Waldgebiet eingedrungen, trennten sie sich wahrscheinlich… Da keine weitere Möglichkeit bestand die Personen zu stellen befahl ich gezieltes Feuer..."
Plötzlich hörte Olli es mehrmals dumpf hinter sich peitschen. Im gleichen Moment ein riesiger Schlag in den Rücken, das Gesicht der Mutter nochmals weinend vor Augen, ein brennender Schmerz… Er brach getroffen zusammen… Olaf, der in eine andere Richtung, aber auch zurück ins Hinterland wollte, blieb vor Schreck angewurzelt stehen, als der platzende Lärm der Feuerstöße seine Ohren marterte, streckte völlig hilflos die Arme in die Luft. Erwischt. Ich ergebe mich. Das wars...
"... infolgedessen die ihre Laufrichtung beibehaltende Person stürzte und die zweite Person stehenblieb. Wir verließen darauf unsere Stellung und stellten den Grenzverletzer…“ fuhr der Postenführer in seinem schriftlichen Bericht in trockenem Ton fort, den er nicht nur für seine vorgesetzten Offiziere in Kompanie, Bataillion, Regiment und Grenzkommando schreiben musste, sondern auch für die Stasi, dem hautsächlichen Untersuchungsorgan dieses beschissenen Vorkommnisses. Er fühlte sich elend in seiner Haut.
Leiche lag tagelang in der GarageEin zur gleichen Zeit damals in der Einheit dienender Soldaten schreibt dazu heute in einem Grenzforum im Internet: „Aber ich weis das er ( der erschossene 15jährige Flüchtling – die Red.) noch zwei Tage in unserer KFZ-Garage lag. Und als wir wieder zum Dienst an die Grenze mussten, haben sie ihn abgeholt. Die Leute von Hohegeiß (ein Ort auf der gegenüberliegenden Seite im Westharz – die Red.) höre ich heut noch rufen: Mörder!!!!!! Denn die haben die Schüsse ja als erste gehört. Und der Zoll und BGS sind danach noch ständig Streife gefahren und haben das Niemandsland noch abgeleuchtet. War bei dem Vorfall dabei und habe ihn nach Grenzöffnung mit öffentlich gemacht. Danke allen, die mir dabei geholfen haben, das Erlebte zu verarbeiten.“
Die beiden für den Tod des 15jährigen verantwortlichen Grenzsoldaten – beide waren jeweils mit einer Maschinenpistole Kalaschnikow und jeweils 60 Schuß Kaliber 7,62 mm ausgerüstet – haben auf den Geflüchteten insgesamt 51 Schüsse abgefeuert – der Postenführer 26 Patronen und sein Posten 25, also jeder fast ein gesamtes Magazin, welches 30 Patronen fasst. „Das Fehlen der Munition“, so heißt es in einem weiteren Dienstprotokoll zu dem Ereignis am 8. Dezember 1979, „kam durch die Anwendung beider Schußwaffen zur Verhinderung eines Grenzdurchbruchs zu stande.“
Die bei der Untersuchung des Vorgangs „versuchter ungesetzlicher Grenzübertritt 3,4 km südwestlich der Ortschaft Sorge“ federführende Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Magdeburg stellt in ihrem Bericht wortwörtlich in Kleinbuchstaben fest: „in übereinstimmung mit der untersuchungskommission des grenzkommandos nord und der hauptabteilung I (Gemeint ist die für die Grenztruppen und die anderen bewaffneten Organe der DDR zuständige Hauptabteilung des MfS – die Red.) wird eingeschaetzt, dasz die durch die grenztruppen der ddr eingeleiteten ,masznahmen zur verhinderung eines schweren grenzdurchbruchs und zur sicherung der staatsgrenze zweckmaeszig waren.“ Die beiden Soldaten hätten sich durch „hohe wachsamkeit, entschluszkraft und konsequenz“ ausgezeichnet. Die Handlungen der beiden Grenzposten gegenüber den beiden Grenzverletzern „erfolgte auf der grundlage dienstlicher weisungen und befehle, wie sie fuer grenzposten zur anwendung der schuszwaffe gueltig sind“.
"Operative Maßnahmen" des MfS gegen die Schützen Doch inoffiziell kommt die Stasi zu einem ganz anderen "Ergebnis", wie aus einem von einem Oberstleutnant der Abteilung IX der MfS-Bezirksverwaltung Halle verfassten und unterschriebenen Schriftstück hervorgeht: "Zu den unmittelbar am Ereignis beteiligten Angehörigen der Grenztruppen, Gefr.*** (der beteiligte Postenführer – die Red.) und Soldat*** (beteiligter Posten - die Red.) wurden seitens der Unterabteilung Abwehr gesonderte operative Maßnahmen (zum Beispiel Postkontrolle und Überwachung durch IMs – die Red.) eingeleitet, da festgestellt werden musste, daß sie der Schweigeverpflichtung zuwidergehandelt haben, indem sie Äußerungen gegenüber Angehörigen der Stabskompanie des Grenzregimentes (zu dem die Grenzkompanie Sorge gehörte – die Red.) über das Vorkommnis machten. Es wird eingeschätzt, dass trotz der unverzüglich erfolgten Belehrungen und Einflussnahme der Unterabteilung Abwehr etwa 100 Angehörige der Grenztruppen, vor allem der 7. Grenzkompanie (Sorge – die Red.) und der Nachbareinheit Teilkenntnisse erhalten haben. Wie von Hauptm. K. weiter angegeben wurde, sind auf Veranlassung und unter Kontrolle der Unterabteilung Abwehr alle das Vorkommnis betreffende schriftlichen Meldungen vernichtet und die Bandaufzeichnungen gelöscht worden."
Die beiden Grenzsoldaten haben dagegen schon gleich nach ihren tödlichen Schüssen an der Grenze auf den Schüler völlig anders reagiert, was aus den von der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) zu diesem Fall freigegebenen MfS-Akten nicht hervorgeht . Den Postenführer plagten sofort unter Schock Gewissensbisse. Sein Soldat warf sogar völlig erschüttert und weinend seine Maschinenpistole weg und schrie: „Warum sind die denn nicht stehen geblieben?“ 17 Jahre später bewertete im nun wiedervereinigten Deutschland das Landgericht Magdeburg den Fall neu. Der Postenführer, der damals den Schussbefehl gab, bekommt wegen Totschlags in einem minderschweren Fall 14 Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung, sein Soldat ein Jahr auf Bewährung. In der Urteilsbegründung wurde festgestellt, dass auf Grund fehlender Beweise und Unterlagen nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden könne, welcher der zwei Grenzer vor 16 Jahren den tödlichen Schuss auf den 15jährigen abgeben habe. Zwar sah der Postenführer vor Gericht einerseits ein, dass man „nicht einfach so einen Menschen abknallen könne“, aber ebenso vertrat er: „Ich habe nicht gewollt, daß die da durchkommen und ich dann bestraft werde.“
Kreisstaatsanwalt verdonnert engste Angehörige des Opfers zu strengstem StillschweigenNoch bis zum Ende der DDR 1989 schrieb das Ministerium für Staatssicherheit weiter das „Drehbuch“ für das Leben nach dem „Grenzzwischenfall“ bei Sorge. Die Stasi wachte penibel darüber, dass niemand außer Ollis Mutter und der Geschwister etwas über die wirkliche Ursache erfuhr, warum der 15jährige sterben musste. Die Mutter und die Geschwister wurden von der Kreisstaatsanwaltschaft Halle zum strengsten Stillschweigen verpflichtet, auch Olafs Eltern. Um die Kontrolle über „den Fall“ zu behalten, erarbeitete die für Untersuchungen politischer „Straftaten“ zuständige Abteilung IX der Stasi-Bezirksverwaltung Halle sogar einen „Maßnahmeplan“: Danach sollte für Ollis Mutter ein Betreuer zur Verfügung gestellt werden: „möglichst IM“, wie die Stasi Wert legte. Über den Todesfall durfte in keiner Zeitung eine Traueranzeige veröffentlicht werden. Und vor allem standt in dem Maßnahmeplan: „Schnellste Durchführung der Bestattung des Toten… Kreis der Trauernden so klein wie möglich halten, Ausschließung der Teilnahme von Mitschülern.“
Olaf, der von den Grenzern festgenommen und der Stasi überstellt wurde, musste acht Monate ins Gefängnis.
(Quelle: BStU /
http://www.bstu.bund.de/cln_012/nn_714160/DE/Bildung/Unterrichtsmaterialien/downloads/Quellen-2/Inhalt__Quellen2,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Inhalt_Quellen2.pdf)
hp
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