Meine Grenze, deine Grenze
Kurz vor dem Tag der Deutschen Einheit traf BILD-Reporter Frank Selig einen Grenzhelfer (Ost) und einen Grenzpolizisten (West) dort, wo unser Land mehr als 40 Jahre geteilt war.
Darum half ich den DDR-Grenzern in der Sperrzone
Wolfgang Pätz ist 85 Jahre alt. Sein halbes Leben, sagt der ehemalige Biologielehrer, habe er in Angst verbracht. Pätz hat über 40 Jahre in der Sperrzone gewohnt. In jenem Fünf-Kilometer-Streifen, den man nur mit Passierschein betreten durfte. Grobau im sächsischen Vogtland, direkt am Saum des Eisernen Vorhangs. Stacheldraht vor der Nase, manchmal Schüsse in der Nacht.
1945 war seine Familie aus Plauen in das 120-Seelen-Dorf gezogen. „Wir waren ausgebombt, hatten hier Verwandtschaft.“ Ein Jahr später riegelte die Rote Armee Grobau ab. Der letzte Außenposten der Sowjetzone. Ein paar Hundert Meter weiter, in Bayern, saßen die Amerikaner. Unerreichbar für Wolfgang Pätz. „Für uns gab‘s ab da nur noch eine Himmelsrichtung: Osten.“
Und selbst in Grobau ging nichts ohne Papiere, Stempel und Sperrschilder. „Um hier zu leben, musste man sich wie ein Fuchs irgendwie durchschlängeln.“ Fotos aus der Zeit hat er fast keine. „Das war streng verboten.“
„Durchschlängeln“ bedeutete auch, dass man die DDR-Grenztruppen unterstützen musste, als sogenannter Grenzhelfer. Dazu gehörte auch, dass Pätz stets ein Kabel dabeihaben musste, an dem eine Art Telefonmuschel steckte. „Um Meldung zu machen, wenn man Grenzverletzer oder Republikflüchtige entdeckte.“
Überall im Ort gab es dafür Säulen, in die man dieses Mikro einfach einstöpseln konnte und sofort eine Direktverbindung zu den Grenzern hatte. „Wer das ablehnte, konnte jederzeit aus dem Dorf vertrieben werden“, sagt er. Oder gar in den Verdacht geraten, ein Fluchthelfer zu sein…
„Natürlich haben wir immer gehofft, niemals mit Republikflüchtigen in Kontakt zu kommen“, erzählt Pätz. Doch dann, er war gerade mit dem Hund draußen, liefen ihm tatsächlich zwei junge Männer in die Arme. „Ich fühlte mich nicht gut dabei, aber ich habe sie den Grenzern gemeldet“, sagt er. Später erfuhr er, dass ihn dies womöglich selbst gerettet hat. „Die beiden waren Stasi-Leute, die überprüfen wollten, ob ich Meldung machen würde…“
Aus dem Todesstreifen zogen wir den schwer Verletzten in den Westen
Wer es in den Westen geschafft hatte, landete zuerst bei Alfred Eiber (heute 80). Er war der Hüter des Eisernen Vorhangs auf der Westseite, als „Sachbearbeiter Grenze“ in Hof zuständig für 80 Kilometer deutsch-deutsches Elend zwischen Sachsen, Thüringen und Bayern. Seit 1955 beim Bundesgrenzschutz, später bei der bayerischen Grenzpolizei.
Auch er hat geschossen, und das fast täglich. „Allerdings mit der Kamera“, sagt Eiber. „Die Dokumentation des Aufbaus der Grenzanlagen war eine meiner Hauptaufgaben.“
Eibers Fotos zeigen, wie aus Stacheldrahtzäunen Mauern mit Sprengfallen und Selbstschussanlagen wurden, wie DDR-Grenzer oft den zehn Meter breiten Todesstreifen mit Unkrautvernichter besprühten, „damit dort kein Gras wachsen und man die Fußabdrücke der Republikflüchtigen besser sehen konnte.“
Alfred Eiber hat mit Dutzenden DDR-Flüchtlingen gesprochen. „Ich war sozusagen ihr erster Westkontakt“, erzählt er. Denn wer die Flucht in die Freiheit schaffte, wurde zu ihm geschafft. Fluchtgeschichten fürs Protokoll. Glückliche Menschen habe er getroffen, aber auch völlig verstörte, zitternde, zweifelnde – und schwerst verletzte.
Nie wird Alfred Eiber die Nacht des 26. August 1964 vergessen. „Ein ostdeutscher Lehrer, 45 Jahre alt, zerschnitt den Grenzzaun und lief mit seinem Sohn (12) und der Tochter (13) direkt durchs Minenfeld. Die Kinder kamen durch, doch der Vater trat ausgerechnet auf die letzte Mine. Die Explosion riss ihm das Bein ab. Noch auf dem Boden liegend zerschnitt er den letzten Stacheldrahtzaun, schickte seine Kinder weiter in den Westen.“
Ein Autofahrer habe die beiden dann aufgelesen und zur Grenzpolizei gebracht. „Dann fuhren unsere Leute mit einem Arzt zum Todesstreifen. Der Vater lag noch dort. Er hatte extra einen Ledergürtel dabeigehabt, mit dem er sich das Bein abgebunden hatte. Er rechnete wohl mit Verletzungen. Der Ledergürtel hat dem Mann schließlich das Leben gerettet. Wir zogen ihn die letzten Meter in den Westen. Obwohl wir dazu auf DDR-Gebiet mussten, griffen die DDR-Grenzer nicht ein.“
Bis heute weiß Eiber nicht, ob aus Gründen der Menschlichkeit. „Oder weil sie einfach hässliche Schlagzeilen vermeiden wollten…“
Als die Mauer fiel, ging Alfred Eiber in Rente. Doch die Grenze lässt ihn bis heute nicht los. Seine Fotos von damals hat er gerade in einem 315 Seiten dicken Buch veröffentlicht. Titel: „Hof, das Tor zur Freiheit“.
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