Die Tote bei Hötensleben

Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Volker Zottmann » 13. August 2017, 21:00

Der Wernigeröder Jürgen Wolke kämpft für die Aufklärung des Todes einer Franziskanernonne im Jahr 1951 bei Hötensleben.
Von Julia Bruns

Wernigerode/Hötensleben l Als er das erste Mal vom mysteriösen Tod der Franziskanerschwester Sigrada Witte hört, „durchzuckt“ es den Wernigeröder Jürgen Wolke. Er ist 2001 bei einem Schulfreund in Hötensleben, als er in dem Buch „Heringsbahn – Die innerdeutsche Grenze bei Hötensleben, Offleben und Schöningen“ von Achim Walther und Joachim Bittner einen Text über das Schicksal der Franziskaner-Schwester liest, die am 10. August 1951 nahe der Interzonengrenze bei Hötensleben und Schöningen tot aufgefunden wurde. „Ihre Geschichte hat mich seitdem nicht mehr losgelassen“, sagt Jürgen Wolke, der in Hötensleben aufgewachsen ist. Er beginnt zu recherchieren und sticht unbewusst in ein Wespennest.

Dank Jürgen Wolke erinnert seit 2007 ein gesegneter Gedenkort an das Schicksal der Ordensschwester. Ein drei Meter großes Holzkreuz und ein Stein mit Bronzeplakette stehen ganz in der Nähe der Stelle, an der die Schwester vermutlich vor dem Grenzübertritt ohne Interzonenschein erschossen wurde, zehn Kilometer südlich von Helmstedt und zwei Kilometer östlich von Schöningen am Ende des Mühlenwegs. Gut 8000 Euro Spenden hat der 66-Jährige gesammelt, um der getöteten Ordensschwester ein Denkmal zu setzen.

„Es geht mir nicht um eine Schuldfrage, sondern um Erinnerung“, betont Wolke, der bis zu seiner Rente als Küster in der Basilika Sankt Godehard in Hildesheim gearbeitet hat. „Das Kreuz steht für jene 26 Menschen, die im Umfeld der Grenze zwischen 1945 und 1952 umgekommen sind. Eigentlich müsste man für jeden dieser Toten ein Kreuz aufstellen“, sagt er. Doch nicht alle wollen sich wie er an jene Opfer der deutsch-deutschen Grenze erinnern. „Viele haben mit der Vergangenheit abgeschlossen.“ Bei einem Klassentreffen in seiner Heimat habe er seine Schulkameraden gebeten, ihn zu dem Gedenkort zu begleiten, den er geschaffen hat. Doch bis auf eine Schulfreundin weigern sich die einstigen Mitschüler. „Du hast uns etwas gegeben, das wir nicht haben wollten“, habe eine Mitschülerin zu ihm gesagt.

Sigrada Maria Witte arbeitete 20 Jahre in dem Kindergarten in Oschersleben, bevor sie unter mysteriösen Umständen beim Übertreten der Grenze ihr Leben ließ. Sie soll aufgrund ihrer frommen und liebevollen Art von den Kindern verehrt worden sein. Foto: Katholische Pfarrgemeinde Sankt Marien Oschersleben

Sigrada Maria Witte arbeitete 20 Jahre in dem Kindergarten in Oschersleben, bevor sie unter mysteriösen Umständen beim Übertreten der Grenze ihr Leben...

Sigrada wird vielleicht Märtyrerin

Dass er den Todesfall an der Grenze nach vielen Jahren zurück in das Bewusstsein der Menschen in Hötensleben und Oschersleben gerückt hat, gefällt nicht jedem. „Aber die Kirche diskutiert nun, ob Schwester Sigrada als Märtyrerin des 20. Jahrhunderts eingestuft wird“, berichtet er. „Und das ist sie defintiv.“

Rücklick: Es ist das Jahr 1951. Sigrada Witte arbeitet seit 27 Jahren als Kindergärtnerin, davon 20 Jahre im Kindergarten im damaligen Katholischen Waisen- und Erziehungshaus Oschersleben. Die katholische Ordensschwester plant, ihren Vater am 12. August zu seinem 80. Geburtstag zu besuchen. Er wohnt in ihrer Heimatstadt, in Meggen bei Olpe in Westfalen, auf der anderen Seite der damals noch offenen, grünen Grenze. Streckmetallzaun, Todesstreifen und Schießbefehl – davon ahnen die Bewohner von Offleben und Hötensleben noch nichts. Die beiden Orte liegen keine drei Kilometer auseinander – und dennoch werden hier Welten getrennt: West und Ost.

Sigrada hat schon fünf Wochen vor dem Geburtstag des Vaters bei der Kreispolizei in Oschersleben einen Interzonenpass beantragt, doch vergebens auf die Bewilligung des Papiers gewartet, das einen Monat gültig gewesen wäre. Ihre Oberin im Franziskanerkloster von der ewigen Anbetung zu Olpe – die strikt gegen das unerlaubte Übertreten der Grenze war – signalisiert ihr schließlich kurz vor dem Geburtstag des geliebten Vaters, dass sie es Sigrada nicht verbieten wolle, in den Westen zu gehen, um von dort aus weiter mit der Bahn in ihre Heimat zu reisen.
Polizei spricht von Herzinfarkt

Mit dem Zug fährt die 51-Jährige am 8. August um 13.20 Uhr von Oschersleben nach Hötensleben – offiziell, um eine befreundete Familie zu besuchen. Es ist ein wolkiger und angenehm kühler Sommertag. Im Kloster kommt drei Tage lang keine Nachricht von ihr an. Die Oberin ist nicht beunruhigt, schließlich hat sie selbst Sigrada geraten, kein Telegramm zu schicken. All das ist nachzulesen in der Chronik des Franziskanerhauses. Am 11. August um 8.30 Uhr klingelt schließlich das Telefon im Kloster. Die Kriminalpolizei Oschersleben bittet eine Schwester, die Tasche Sigradas abzuholen. Die Gläubige selbst habe man tot bei Hötensleben aufgefunden, erklärt der Polizist. Nach Angaben der Behörden erlitt sie einen Herzinfarkt.

Schwester Angelona und Schwester Faustina gehen zur Polizei. Dort heißt es, ein Schäfer mit Schäferhund habe den leblosen Körper tags zuvor um 18 Uhr entdeckt. Der russische Kommandant sowie ein Arzt seien informiert worden. In der Leichenhalle bestätigen ein Gerichtsarzt aus Magdeburg, ein Amtsrichter, ein Mitarbeiter der Kriminalpolizei und ein Hausarzt die Todesursache „Herzschlag“. Die Schwestern, der Kaplan und die Oberin dürfen Sigradas Leiche dennoch nicht noch einmal sehen.

Unter großer Anteilnahme wird Sigrada Witte beerdigt. Hunderte Trauergäste geben ihr das letzte Geleit, darunter viele ehemalige Kindergartenkinder und deren Familien. Von einem „tragischen Dunkel, das ihr Sterben umgibt“ spricht Kaplan Kluge in seiner Trauerrede, und deutet damit an, was viele an diesem Tag denken.
Witte von Mord überzeugt

„Herzschlag? Daran glaubte niemand“, sagt Jürgen Wolke. Er ist überzeugt, dass Sigrada ermordet wurde. „Ich habe mit Zeitzeugen gesprochen. Mehrere Kinder, die in der Nähe spielten, hörten eindeutig Schüsse“, berichtet er. Einer der Zeugen, Günther Drewes, ist mittlerweile selbst nicht mehr am Leben. Jürgen Wolke hat auf Video festgehalten, wie Drewes den Tag, an dem Sigrada starb, erlebte. Er habe mehrere Schüsse gehört und sei dann in Richtung der Geräusche gelaufen. Überall sei Blut gewesen, als er den leblosen Körper der Nonne erblickte. Auch an ihrer Schläfe habe die Frau in Ordenstracht geblutet. „So sieht niemand aus, der einen Herzinfarkt hatte“, sagt Drewes in dem Film. Russische Soldaten hätten ihn und seine Freunde weggescheucht.

Auch zwei Ferienkinder, der zehnjährige Siegfried und der elfjährige Julius, aus dem Waisenhaus in Oschersleben, wo Sigrada arbeitete, haben die Schwester erkannt. Sie habe auf der Abraum-Kippe des Braunkohletagebaus gelegen, berichteten die Kinder im Kloster. An ihrer Schläfe habe ein kleines blutverkrustetes Loch geklafft. Den Kindern wird eingeflößt, kein Wort zu sagen. Zu groß ist die Angst vor Repressalien.

Jürgen Wolke kennt diese Angst. Gemeinsam mit zwei Schulfreunden gehört er einer Gruppe an, die sich „die Aufrechten“ nennt. „Es war Krieg, auch wenn man keine Kämpfe gesehen hat“, beschreibt er jenes beklemmende Gefühl, mit dem er aufwuchs. „Ich bin schon immer gegen den Strom geschwommen“, sagt der gläubige Katholik. „Wir konnten in Hötensleben weder nach Norden, noch in den Westen. Wir haben den Wald immer vor Augen gehabt, durften aber nicht hinein.“ Grenzer seien Tag und Nacht durch den Ort gefahren.
Waisenjunge nahm Kreuz mit

Was genau am 9. oder 10. August geschehen ist, das weiß Jürgen Wolke bis heute, nach vielen Jahren Recherche nicht. Im Tageskurzbericht der Oscherslebener Volkspolizei vom 10. August heißt es: „Es handelt sich vermutlich um einen Mord.“ Dies erfährt Wolke im Zuge seiner Nachforschungen beim Landeshauptarchiv. „Die ganze Wahrheit kennt nur Moskau“, ist Jürgen Wolke überzeugt. Über befreundete Landtags- und Bundestagsabgeordnete hat er Anfragen stellen lassen. Bislang ohne Ergebnis. Seine Hoffnung? „Dass kein Opfer jemals vergessen wird“, sagt er. Deshalb lädt Jürgen Wolke am Sonntag, 13. August, zu einer ökumenischen Andacht an das Kreuz Sigrada ein. Der Beginn ist um 16 Uhr. Bei schlechtem Wetter findet der Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Josef und St. Augustinus in Hötensleben statt.

Einer der beiden Waisenjungen, die Sigradas Leichnam auf der Halde fanden, nahm damals das Kreuz an sich, das die Nonne um den Hals trug. Aus Angst habe er das Kreuz über Jahrzehnte geheim gehalten und Wolke gegeben, nachdem er von dessen Engagement erfuhr. Jürgen Wolke hält es wie ein rohes Ei in den Händen. „Ich werde es den Hinterbliebenen Sigradas zeigen und den Ordensschwestern überreichen“.


Diesen "Fund" machte ich heute bei Facebook

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Interessierter » 14. August 2017, 06:50

Ordensschwester Sigrada Witte

Bild
Bildquelle: Generalat der Franziskanerinnen

Bild
Schwester Sigrada Witte mit ihren Kindern 1943 in Oschersleben.
Quelle: Generalrat der Franziskanerinnen von der ewigen Anbetung e.V. Olpe


Vielleicht besteht ja die Möglichkeit, dass Hermann mit euch auch an dieser Gedenkstätte verweilt?
Interessierter
 

Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Volker Zottmann » 14. August 2017, 14:29

Ich denke Ja, Wilfried. Hötensleben ist ja klein. Das Kreuz werden wir finden. Die Zeit nehmen wir uns sicher.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Volker Zottmann » 24. Januar 2019, 11:10

Heute klingelte mein Telefon und am anderen Ende meldet sich Herr Jürgen Wolke. (siehe ersten Beitrag)

Dieser Artikel hier war mir schon wieder entfallen.
Ihn interssierte, wieso wir uns seiner Recherche annahmen. Leider waren hierzu keine weiterführenden Wortmeldungen eingegangen....
Nun, das weiß man mit der Eröffnung eines Threads nie, ob er ein Echo hervorruft.
Wir beiden haben uns jetzt (noch unverbindlich) verabredet, in Wernigerode zu treffen.
Herr Wolke erlebte die Grenze als Kind in Hötensleben genauso hautnah, wie ich meinerzeit in Tanne. Wir sind gleichen Jahrgangs. Da gibt es, die Grenze betreffend, sicher noch mehr Interessantes, sicher auch Parallelen, zu erfahren.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Interessierter » 24. Januar 2019, 12:06

Hallo Volker,
ich hoffe, dass es zu diesem Treffen kommt. Das wird sicher ein interessantes Gespräch mit Herrn Wolke über das du uns dann hoffentlich berichten darfst und kannst.

[hallo]
Interessierter
 

Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Bahndamm 68 » 24. Januar 2019, 14:16

Hallo Volker, wenn es zu einem Treffen von euch beiden eventuell auch in Hötensleben kommt, kurze Info bitte, ich bin dabei.
Gruß Hermann
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Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Nov65 » 24. Januar 2019, 15:40

Diese Grenze war einfach furchtbar. Barbarisch die tollwütigen Schützen, die nicht mal vor einer Ordensschwester halt machten.
Andreas
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Re: Die Tote bei Hötensleben

Beitragvon Volker Zottmann » 24. Januar 2019, 15:40

Bahndamm 68 hat geschrieben:Hallo Volker, wenn es zu einem Treffen von euch beiden eventuell auch in Hötensleben kommt, kurze Info bitte, ich bin dabei.
Gruß Hermann


Hallo Hermann,
Zuerst wohl in Wernigerode, da ich dort jeden Monat einmal bin.
Deine Flucht war ihm aber sofort ein Begriff. Das war heute eine kurze unverhoffte interessante Unterhaltung.

Gruß Volker

PS: Gestern Abend gab es schon einen Anruf eines Potsdamers, so in Herrmanns Alter. Der bedankte sich bei mir für die Niederschrift http://baupionier.zottmann.org/, weil er bis gestern überhaupt keine Kenntnisse davon hatte, dass es neben den Spatensoldaten noch Baupioniereinheiten gab, die ebenso respektlos ausgebeutet wurden.
Daran zeigt sich, wie wichtig alle Bekenntnise, egal welcher Art, von Zeitzeugen sind.
Volker Zottmann
 


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