Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Interessierter » 24. Juni 2017, 10:21

Großburschla – Wie oft hat Reinhard Müller an jenen lauen Sommerabend vor 22 Jahren zurückgedacht. Wie oft darüber gegrübelt, was ihn zu der Tat verleitet hatte: War es Schicksal, war es zu viel Schnaps? Damals, in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1979 hatte Reinhard Müller tatsächlich zu viel getrunken. 19 Jahre alt war er, Lehrling im Automobilwerk Eisenach. Es war ein angenehmer Sommerabend in Großburschla, seinem Heimatdorf. Sein Kumpel Hartmann wollte in seinen Geburtstag hineinfeiern. Die Clique war da, man hockte im Garten und im Tanzsaal, trank Nordhäuser Doppelkorn, das Bier schmeckte nicht. Und dann war Müller irgendwann in der Schenke, traf dort seinen Lehrer für Staatsbürgerkunde. Es gab einen Streit, Müller weiß heute nicht mehr, worum es ging. Aber einige seiner Kumpel sagten, er sei wohl verrückt geworden, so zu reden. Hartmanns Geburtstagsfete zog sich hin. Gegen zwei Uhr nachts schlief Müller draußen auf einer Bank ein. Gegen vier Uhr wurde er wach. Er war allein. Tau lag auf den Wiesen, es war kühl geworden und nebelig. Reinhard Müller bekam Angst. Was hatte er mit seinem Lehrer geredet? Hatte er über die DDR hergezogen? Müller war immer noch halb betrunken, und was ihn dann in Marsch gesetzt hat, weiß er bis heute nicht.

Er torkelte los, über den Fußballplatz zum Pappelhain, von dort durchs Gras zum Werraufer. Niemand hörte ihn, niemand sah ihn. Er musste keine Grenzzäune übersteigen, die 40 Meter breite Werra führte direkt zur Grenze. In seinen Stasi-Akten las Müller Jahre später, der Uferbewuchs sei zu hoch gewesen. Die beiden Wachsoldaten im Bunker an der Werra hätten geschlafen. Außerdem sei der Hauptsuchscheinwerfer defekt gewesen. Müller ließ sich ins kalte Wasser gleiten, ließ sich treiben, stieß sich manchmal mit den Händen vom Kiesboden ab. 800 Meter und eine Stunde später war er in Alten¦burschla, Hessen, Bundesrepublik Deutschland, Freiheit. Er klingelte einen Bauern aus dem Bett, der ihn dann zur Tante Liene schickte, die auch in Altenburschla lebte.

Eine Blase nach Hessen

„Ich habe mich für ein neues Leben entschieden“, sagt Müller heute. Er steht am Werraufer, genau dort, wo er sich vor 22 Jahren davontreiben ließ. Nach seiner Flucht wurden hier zwei Brücken gebaut, mit Gittern bis auf den Flussboden. Man erkenne fast nichts mehr, sagt er. „Alles weg, sogar der Bunker.“ Die Eltern sollten bitter bezahlen für die Flucht ihres Sohnes. Großburschla, heute 1300 Einwohner, kleine Fachwerkhöfe, eine Fachwerkkirche und fünf Gasthäuser, lag zu DDR-Zeiten in der 500-Meter-Sperrzone. Der Ort 28 Kilometer nördlich von Eisenach war eine Blase der DDR, die sich ins Hessische stülpte. Ein Dorf im Ostblock, umgeben von hessischen Wäldern. Nach dem Krieg zuerst von Amerikanern besetzt, dann von den Sow¦jets. 1951 bauten sie eine Straße in die Blase hinein. Bis dahin war Großburschla nur über Straßen des Klassenfeindes erreichbar. Viele Bewohner verstanden: Ungefähr 600 machten sich auf und davon, Richtung Eschwege, Kassel, Göttingen. Die Bauern, Handwerker und Gärtner blieben zurück.

Am 13. August vor 40 Jahren Jahren zogen sie einen hohen Zaun zwischen Ost und West. Über Nacht ging das. Die Bauern merkten am nächsten Morgen, dass 100 Meter Ackerland und Weiden fehlten. Das war der neue Grenzstreifen. Die Soldaten bauten einen Stacheldrahtzaun mit zwei Meter hohen Pfeilern. Später kamen zwei weitere Zäune dazu. Eine Kompanie Grenzsoldaten wurde in den Zipfel verlegt. Fritz und Magda Müller wohnten damals schon in ihrem umgebauten Fachwerkhaus. Sohn Reinhard war gerade ein Jahr alt, Vater Fritz, Jahrgang 1929, arbeitete zunächst als Feldbrigadier in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), dann als Polsterer. Er war ausgezeichnet worden, war Aktivist und Bestarbeiter. Er hing an Groߦburschla, dem kleinen Dorf im Thüringer Hügelland, trotz aller Schikanen, trotz der Isolation in der Sperrzone. Außer Verwandten ersten Grades durfte kein DDR-Bürger in die Sperrzone reisen. Und auch Kinder und Eltern von Groߦburschlanern nur mit besonderen Passierscheinen, die Wochen vor dem Besuch beantragt werden mussten. Große Familienfeiern gab es nicht, keine Kirmes, keinen Karneval. Um 23 Uhr war Sperrstunde.

Fritz Müller, heute 71 Jahre alt, sitzt im Wohnzimmer und erzählt, was dann passierte, als sein Sohn geflohen war. Er hat seinen Nachbarn dazu gerufen, den früheren LPG-Vorsitzenden Heinrich Arnoldt, und seinen Schwager Erich Luhn. Sie sollen dabei sein und auch erzählen, was damals geschah, als der Reinhard abgehauen war. Lange ist es her und doch so nah, dass dem alten Mann immer wieder Tränen in die Augen schießen.

Was Vater Müller berichtete kann man hier lesen:
http://www.ksta.de/familie-mueller-oder ... n-14652518

Derartige menschenverachtenden Aktionen von SED, VP und MfS waren an der Tagesordnung in dieser Diktatur und sind nur ein Bruchteil von den tatsächlich geschehenen, widerlichen Maßnahmen, denn Akten über die wahrscheinlich noch schwerwiegenderen Vorgehensweisen, wurden vom MfS und noch länger von der VP vernichtet.
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon augenzeuge » 24. Juni 2017, 10:35

Fritz Müller wurde in der Polsterei festgenommen, nach Eisenach ins Gefängnis gebracht, während zehn Polizisten das Haus leerräumten. Die Familie sei „nicht mehr tragbar“ in Großburschla, hatte ein Polizist gesagt. Ihr jüngster Sohn Peter, damals sechzehn, war gerade auf Schulabschlussfahrt in Berlin, als die Polizei ihn abholte...... Ein Nachbar verkraftete es nicht und erhängte sich.



Unglaublich, dass so etwas noch 1982 stattfinden konnte. [mad]

Es ist wichtig, dass solche Ereignisse bewusst in Erinnerung bleiben. Vor allem dann, wenn manch ein Nostalgiker meint, Sippenhaft gab es nicht. Wie man sieht traf es sogar vom Staat ausgezeichnete Arbeiter...

Es ist für nicht Betroffene kaum nachvollziehbar, mit welchen Gefühlen diese Leute den 9.11.89 erlebt haben müssen.

AZ
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Ari@D187 » 24. Juni 2017, 11:54

Es gibt eine diesbezügliche Fernseh-Doku, in welcher der Fall beleuchtet wird und u.A. die Familie Müller zu Wort kommt:
"Es gab kein Niemandsland"

Einfach mal bei Youtube schauen.

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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon karnak » 24. Juni 2017, 13:24

[denken] Als Drogenhändler hat man sie hingestellt nach dem man sie ausgesiedelt hat? Und der Bischof hat erreicht, dass er zurückkehren konnte, woher weiß er denn das und so viel Einfluss soll ein Kirchenmann in der DDR gehabt haben, seit wann das denn? in jedem Fall durfte er doch wohl zurückkehren, wurde also faktisch rehabilitiert , oder verstehe ich da was falsch? Das System muss dann doch irgendwie ein Einsehen gehabt haben ob seiner völlig ungerechtfertigten und überzogenen Entscheidung, oder sehe ich auch das falsch?
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Kumpel » 24. Juni 2017, 14:05

Und was möchtest du mit diesem seltsamen Beitrag zum Ausdruck bringen?
Diese Zwangsaussiedlungenm gehörten jahrzehntelang zum "normalen" Prozedere der SED Diktatur um die Bevölkerung im Sperrgebiet einzuschüchtern und an der Kandare zu halten.
Aus purer Menschlichkeit oder dem Drang nach Gerechtigkeit wurde Familie Müller nach Jahren die Rückkehr nach Großburschla von den Genossen sicherlich nicht gestattet.
Ein Bischof in der DDR hatte bekanntermaßen vorzügliche Kontakte in den Westen und damit die Möglichkeit Infos über diese Nazimethoden der DDR an interessierte Stellen im Westen zu geben.
Daher rührte wohl auch der "Einfluss" des Kirchenmannes ansonsten hätte man sich doch einen feuchten Kehricht um dessen Meinung geschert.
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon karnak » 24. Juni 2017, 14:14

Ich möchte mit diesem" seltsamen Beitrag" etwas zu einem konkreten Fall und die"seltsamen Bewertungen " dazu etwas gerade und in Richtung erkennbarer Faktenlage rücken, nicht mehr und wie meistens. Den allgemein stattgefundenen Irrsinn solcher Aktionen zweifele ich hingegen in keiner Weise an, dass habe ich übrigens bei noch keinem solcher Themen getan. Das macht den Unterschied zu Eiferei und nüchterner Betrachtung solcher Fälle aus. Dabei auf der" richtigen Seite" zu stehen, dass ist mir schon wichtig. [grin]
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Kumpel » 24. Juni 2017, 14:22

karnak hat geschrieben:Ich möchte mit diesem" seltsamen Beitrag" etwas zu einem konkreten Fall und die"seltsamen Bewertungen " dazu etwas gerade und in Richtung erkennbarer Faktenlage rücken,


Dieses Ansinnen ist allerdings kaum zu erkennen wenn ich das einmal sehr zartfühlend ausdrücken darf und was gibt es denn an diesen Stasiaktionen gerade zu rücken?
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Edelknabe » 25. Juni 2017, 17:30

Der war gut, aus dem Link, dieses:

"Den Leuten dort sagte man, es kämen Asoziale und Drogenhändler."
textauszug ende

Karnak hatte es ja schon getextet. Also Asoziale geht ja in Ordnung aber ...... ne Leute "Drogenhändler" in der damaligen DDR, der war der absolute Hammer. Wer solchen Müll im Regionalwurstblatt Oldwest verzappt, den müsste man doch besser nochmal zur Geschichtsschulung schicken.

Rainer-Maria

Und einen guten Abend allen ins Forum
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Re: Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

Beitragvon Transitfahrer » 26. Juni 2017, 19:01

Ach Knabe. das Wurstblatt meinte eigentlich "Spirituosenverkäufer" ist gleich Drogenhändler ála DDR. [laugh]
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
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