"Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

"Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon Interessierter » 1. Juni 2020, 07:43

Quer durch den Harz verlief die innerdeutsche Grenze. Mehr als vier Jahrzehnte lang teilte sie die Region, trennte eng verwachsene Ortschaften voneinander und die Menschen vom Wahrzeichen ihrer Region: 1961 wurde der sagenumwobene Brocken, der höchste Berg Norddeutschlands, zum militärischen Sperrgebiet erklärt und war bis 1989 für West- und Ostdeutsche gleichermaßen unerreichbar. Zwei Bewohner erinnern sich an das Leben auf der westlichen Seite des Harzes in unmittelbarer Nähe zur Grenze.

Soldaten hinterm Gartenzaun

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Hohegeiß 1967: Einwohner beobachten DDR-Grenzsoldaten beim Setzen von Grenzsäulen.

Früher waren es Grenzsoldaten, heute sind es Wanderer, die hinter seinem Gartenzaun entlang marschieren. Friedemann Schwarz lebt seit 1960 in Hohegeiß im Oberharz, direkt hinter seinem Grundstück begann die DDR. Diese war, von seinem Garten aus gesehen, zunächst einmal eine Wiese mit ein paar Grenzsteinen. Ein Grenzzaun kam erst viel weiter dahinter. Anfangs patrouillierten die Soldaten ganz dicht an seinem Grundstück entlang, keine fünf Meter entfernt. Sie grüßten und wechselten mit ihm ein paar Worte. Doch ab 1961 marschierten sie grußlos und mit großem Abstand vorbei - jegliche "Kontaktaufnahme mit dem Klassenfeind" war ihnen von nun an strikt verboten.

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Der Blick aus dem Westharz zum Brocken - lange war der Berg für Westdeutsche unerreichbar.

Die deutsche Teilung hatte die Gegend stark verändert: Von den fünf Straßen, die von Hohegeiß in die Nachbarorte führten, wurden drei nach dem Krieg gesperrt. Die Nachbarorte lagen nun in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der DDR. 1972 erhielt Friedemann Schwarz zum ersten Mal ein Visum, um ins vier Kilometer entfernte Benneckenstein, das nun Teil der DDR war, zu reisen. 300 Kilometer musste er fahren, bis er dort ankam: Der nächste Grenzübergang bei Helmstedt-Marienborn lag weit entfernt. Wenn er heute auf einen Sprung zur Apotheke nach Benneckenstein fährt und nach einer Viertelstunde wieder daheim ist, freut er sich jeden Tag aufs Neue, dass die Grenze offen ist. Die Euphorie hat sich bei ihm bislang noch nicht gelegt. "Hätten wir uns doch alle was von dieser Begeisterung erhalten", sagt er und meint die Monate nach dem 9. November 1989, als jedes dritte Wort noch "Wahnsinn!" war.

Der Brocken, der unerreichbare Berg


Auch die Freude darüber, den Brocken nicht nur betrachten, sondern auch besteigen zu können, lässt nicht nach. Jahrzehntelang hatte Friedemann Schwarz den Berg immer vor Augen, jeden Tag schaute er, ob dieser klar zu sehen war oder sich hinter Wolken versteckte. Dass er ihn jemals besteigen würde, hat er nie geglaubt - bis zum 9. November 1989. Im Frühling 1990 wanderte er zum ersten Mal hinauf. In seinem Kopf schwirrten Bilder von Brockenromantik, von Urigkeit - doch vor Ort dominierten die schäbigen Baracken der Sowjetsoldaten und riesige Antennenkuppeln die Szenerie. "Schön war es eigentlich nicht", sagt Friedemann Schwarz. Ein besonderes Erlebnis bleibt es für ihn trotzdem.

"Da war für uns die Welt zu Ende"

Wenn Freunde aus anderen Teilen der Bundesrepublik zu Besuch kamen, wollten viele "Grenze gucken", auch wenn es nicht viel mehr zu sehen gab als ein paar Beobachtungstürme. Für die Freunde war das etwas Exotisches, Spannendes. Für Karl-Günther Fischer selbst, der nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt lebte, war es Alltag. "Die Grenze war ein Faktum. Da war für uns die Welt zu Ende", sagt er.

Direkt vor seiner Haustür liegt der Wurmberg, der zweithöchste Berg der Harzregion, der für ihn aber längst nicht so bedeutsam wie der Brocken ist. Umso erstaunter war er im November 1989, als Hunderte Ostdeutsche nach einem kilometerlangen Fußmarsch über den Grenzbach - die Bremke - nach Braunlage gelangten und viele vor allem eines wollten: endlich rauf auf den Wurmberg. "Wie, was wollt ihr denn da? Wollt ihr nicht erstmal was trinken oder euer Begrüßungsgeld abholen?", fragte er die Leute. Aber die ließen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Der Wurmberg sei eben ihr "Berg der Sehnsucht", sagten sie, den hätten sie immer vor Augen gehabt.

Relikte der Vergangenheit im Museum


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Klettenberg bei Nordhausen am Harz: Nur noch der Kolonnenweg erinnert an die ehemalige innerdeutsche Grenze.

"Ich weiß, dass es albern klingt", sagt Karl-Günther Fischer, "wenn ich heute über die Bremke von Elend nach Braunlage fahre, schießt es mir jedes Mal durch den Kopf: Gott sei dank bin ich wieder im Westen." Die Erinnerung an die eigene Flucht 1947 sitzt tief. Erinnerungen wie diese müssen seiner Ansicht nach bewahrt werden: Heute ist er Leiter des Heimat- und Skimuseums in Braunlage. Dort hat er auch ein selbst gebasteltes Grenzmodell und ein Stück Sperrzaun aus Streckmetall aufgestellt. "Du Blödmann, was baust du denn die Grenze wieder auf", haben einige Bewohner aus Braunlage gesagt. Karl-Günther Fischer findet es bedauerlich, dass von der Grenzanlage kaum noch etwas zu sehen ist. Die Spuren von damals sollten, sagt er, sichtbar bleiben.

https://www.ndr.de/geschichte/chronolog ... rz100.html
Interessierter
 

Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon Volker Zottmann » 1. Juni 2020, 10:14

Die folgende Woche nach der Grenzöffnung vom Wochenende habe ich nicht arbeiten können. Das war “meine” Woche!

Ich bin einige Male entlang der Grenze zwischen Tanne und Elend rumgekurft. Habe auch noch scharfe Hunde an der Laufleine entlang der Grenze in deren Laufkorridoren rennen sehen. Das war hochgradige Tierquälerei. Die Schäferhunde waren bedauernswerte gestörte Tiere. Am 13. und 14.11.89 liefen die noch.
Danach hatte auch dort der Grenzzaun sein Grauen verloren.
An der Einmündung zur heutigen B 27 ließ ich jeweils meinen “B1000” stehen. Nahm dann mein Fahrrad und radelte auf der jetzigen B 27, die damals noch die stillgelegte, schottrige und gesperrte F 27 war, die etwa 5 km bis Braunlage. Dabei wurde die Bremke überquert. Hier war der Zaun auch am Sonntag zerschnitten worden.

Nun “tummelten” sich hier einige verstörte höhere Grenzoffiziere. Der DDR-Zoll war bereits dabei, Schotterfundamente für 2 Holzbaracken zu planieren. Die glaubten damals wirklich, dass wohl ein reger Grenzverkehr entsteht, sonst aber alles beim Alten bleibt. Das waren, wie sich schnell zeigte, unsinnige, unnötige Arbeiten.
Statt der Zollbuden steht dort heute ein Mahnmal zur Grenzteilung.

Auf niedersächsischer Seite ging es intelligenter zu.
Hier lag sicher für diesen “Tag X” schon lange ein Arbeitspapier im Schreibtisch bereit. Es waren bereits zukunftsweisende, geplante und vorausschauende Arbeiten im Gange.
Ich sah Horden von Jugendlichen, die von der Grenze bis zum Ortseingang Braunlages beiderseits der Asphaltstraße in “Schützenkette” den Wald bis in etwa 50 m Tiefe säuberten. Hier wurde alles Totholz raus geräumt. War ja ab sofort kein Zonenrand mehr. Sollte also auch touristisch einladend und schön wirken, vom ersten Tag an. Ebenso begannen 2 Tage nach Öffnung ordentliche Brückenbauarbeiten über den Grenzbach, die Bremke, die etwas weiter talwärts in die Warme Bode fließt.

Ich aber habe mir in aller Ruhe und größter Freude jeden Winkel Braunlages angesehen. Jetzt wurde meine über Jahrzehnte gestaute Neugier gestillt! Hier traf ich auch den glückstaumelnden Hauptbuchhalter aus meinem ehemaligen Betrieb.
Überhaupt hat der Harz nie wieder gleichzeitig so viele glücklich strahlende Menschen gesehen, denn:

Ab sofort brauchte keiner mehr Bittstellen und oft genug erfolglos hoffen, nie wieder!
Das größte Straflager der Menschheitsgeschichte hatte plötzlich offene Türen …
Unsere Claudia und unser Carlo würden nun schon in ihrer frühen Jugend weltweit reisen können.
Für mich fast unbegreiflich in diesem Moment.
Auch heute noch bei jeder Grenzquerung bin ich unseres Glückes voll.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon zoll » 1. Juni 2020, 10:21

So wie es den Ostdeutschen ging, so fühlten auch die Westdeutschen die rund um diese zwei Berge wohnten. Jeder wollte erst einmal "seinen" Sehnsuchtsberg, den er Jahrzehnte nicht erreichen konnte besteigen.
Als Schulkind ging es für mich auch nur bis zum Wurmberg. Es gab dort im Winter Weitsprung von der hölzernen Sprungschanze mit dem Auslauf nach Osten, der direkt an der Grenze endete.
Es soll vorgekommen sein, dass Springer bis über den Grenzverlauf ausliefen. Den Wahrheitsgehalt kann ich aber nicht garantieren.
zoll
 

Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon Volker Zottmann » 1. Juni 2020, 10:25

Bei Südwestwind sind Springer bis Schierke geflogen! [grins]

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon augenzeuge » 1. Juni 2020, 10:30

zoll hat geschrieben:So wie es den Ostdeutschen ging, so fühlten auch die Westdeutschen die rund um diese zwei Berge wohnten. Jeder wollte erst einmal "seinen" Sehnsuchtsberg, den er Jahrzehnte nicht erreichen konnte besteigen.
Als Schulkind ging es für mich auch nur bis zum Wurmberg. Es gab dort im Winter Weitsprung von der hölzernen Sprungschanze mit dem Auslauf nach Osten, der direkt an der Grenze endete.
Es soll vorgekommen sein, dass Springer bis über den Grenzverlauf ausliefen. Den Wahrheitsgehalt kann ich aber nicht garantieren.


Ich war im Frühjahr 1990 dort. Es war die Zeit, wo ich mir die innerdeutsche Grenze genau ansah, wo man im Wald noch kontrolliert wurde. Aber auch später auf verlassene ,Wachtürme kletterte.
Es war spannend.

Mir sagte man damals, dass es eine Absperrung vor der DDR Grenze gab. Der Auslauf konnte nicht auf DDR Gebiet führen.
Nun weiß ich natürlich nicht, wann diese Sperre entstanden war. In den 50er Jahren aber ganz sicher.

AZ
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Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon Volker Zottmann » 1. Juni 2020, 10:35

Auslauf in den Osten ging nicht einen Zentimeter.
Zoll schrieb, jede Seite hatte ihren Sehnsuchtsberg. Ist nicht ganz richtig. Wir im Osten konnten keinen der beiden besteigen.

Gruß Volker
Zuletzt geändert von Volker Zottmann am 1. Juni 2020, 10:36, insgesamt 1-mal geändert.
Volker Zottmann
 

Re: "Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz

Beitragvon pentium » 1. Juni 2020, 10:35

Hier mal ein kleiner Link rüber zum, na ihr wisst schon:
https://www.forum-ddr-grenze.de/t569f57 ... sehen.html
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
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