Im Wassertank in die Freiheit

Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon pentium » 28. August 2022, 11:40

Tollkühne Flucht vor 60 Jahren: Im Wassertank in die Freiheit

Zwei jungen Plauenern gelang am 28. August 1962 eine ungewöhnliche Flucht aus der DDR: Sie versteckten sich im Tender einer Dampflok, die in den Westen fuhr. Bis zum Hals im Wasser stehend querten sie die Zonengrenze.

"Das war lebensgefährlich", sagt Peter Richter. "Wir hätten tot sein können wie manche der Flüchtlinge, die heute nach Deutschland wollen. Oder wir wären ins Zuchthaus gekommen, wenn man uns entdeckt hätte." Richter feiert seit etlichen Jahren seinen Fluchttag wie einen Geburtstag. In jungen Jahren habe er das nicht gemacht.

Das Husarenstück vor 60 Jahren beginnt am 28. August 1962, 23 Uhr, auf dem Oberen Bahnhof in Plauen: Der Pfiff zur Abfahrt ertönt und der Interzonenzug von Leipzig nach München setzt sich langsam in Bewegung. Da huschen zwei Gestalten über das Gleisbett und erklimmen über das Trittbrett des ersten Waggons die Puffer zum Tender und krallen sich an den beiden Leitern fest, die zum Wassertank nach oben führen: Der 20-jährige Peter Richter und sein 19-jähriger Freund Heinz Schmelzenbach hatten in Reichsbahn-Uniformen hinter dem Güterzug auf dem Nachbargleis gekauert. "Die Uniformen hat Heinz besorgt, der Lokführer-Lehrling war", sagt Richter. "Wir haben die Kontrollen von Zoll und Bahnpolizei abgewartet - und sind gestartet."

Nach ein paar Minuten Fahrt, im Syrauer Wald, klettern die Männer auf den Kohle-Tender. Richter: "Eher wäre dumm gewesen: Man hätte uns im Plauener Stadtgebiet sehen können." Der Zug dampft durch die Nacht: Mehltheuer, Schönberg, Rodau, Reuth, Grobau - und gleich ist der Grenzbahnhof Gutenfürst erreicht, also fix: Die Jungs klappen den Metalldeckel auf und klettern durch das Mannloch in den Wassertank. "Er war zwei Meter breit, zwei hoch und vier lang. Es gab zwei Zwischenwände, damit sich das Wasser nicht aufschaukeln kann. Wir tauchten in die dritte Kammer. Bis zum Hals standen wir im Wasser."

Gegen das Bibbern im 14 Grad kalten Wasser nehmen sie einen Schluck Boonekamp aus einem "Taschenwärmer". "Sorgen bereiteten uns die Zusatzstoffe im Wasser, die beigemischt waren - gegen Korrosion und Kalkablagerungen." Gegen 23.45 Uhr beginnt der Zug zu bremsen, das Wasser schwappt, sodass die Köpfe der Flüchtlinge unter Wasser geraten. Draußen tönt der Lautsprecher: "Gutenfürst - Grenzkontrollbahnhof der Deutschen Demokratischen Republik". Die Jungs hören Hundegebell und Stimmen der Grenzer. Eine Taschenlampe in einer Plastetüte spendet Licht. Leider ist Wasser hineingelaufen in die russische Soldatenuhr, die als unverwüstlich gilt. So zählen sie immer bis 60, um zu wissen, wie spät es ist.

https://www.freiepresse.de/vogtland/aue ... mp12388068
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
Anton Günther

Freundeskreis Schloss Hubertusburg e. V.
http://www.freundeskreis-hubertusburg.de
Benutzeravatar
pentium
 
Beiträge: 45571
Bilder: 133
Registriert: 9. Juli 2012, 16:12
Wohnort: Sachsen/Erzgebirge

Re: Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon Ari@D187 » 28. August 2022, 12:31

Eine interessante Fluchtgeschichte. Das Wissen aus der Lokführerausbildung und die weiteren damit verbundenen Möglichkeiten (z.B. Uniformen) wurden konsequent angewendet.

Ari
Alles wird gut!
Benutzeravatar
Ari@D187
Deutsche Marine
Deutsche Marine
 
Beiträge: 11347
Registriert: 26. April 2010, 19:58

Re: Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon zoll » 28. August 2022, 12:35

Tolle Geschichte, konnte sie leider wegen Vorgabe (Bezahlseite) nicht zu Ende lesen.
Benutzeravatar
zoll
 
Beiträge: 426
Registriert: 4. Februar 2021, 10:41

Re: Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon pentium » 28. August 2022, 13:20

zoll hat geschrieben:Tolle Geschichte, konnte sie leider wegen Vorgabe (Bezahlseite) nicht zu Ende lesen.


Der zweite Teil:

Die 45 Minuten planmäßiger Halt scheinen nicht vergehen zu wollen. "Als es endlich weitergeht, haben wir uns umarmt: Wir hatten es geschafft. Voller Freude sind wir zum Einstieg durchgetaucht und sahen den Grenzstreifen." Die beiden Tausendsassas genießen die letzten Minuten bis Hof wie einen Triumphmarsch: klatschnass - und bis zum Bauchnabel aus der Luke schauend. "Ein bayerischer Grenzpolizist auf dem Bahnsteig in Hof hat uns angeschaut, als kämen wir vom Mond", erinnert sich Richter. "Und der Lokführer hat Bauklötze gestaunt - erste recht, als mein Freund Heinz ihm zurief: ,Gerhard, mach's gut, wir bleiben hier.'"

Der Lokführer muss Meldung machen an die DDR-Behörden und wird - wie Richter schildert - bei seiner Rückkehr in die Mangel genommen. "Alle dachten, er sei in unsere Flucht eingeweiht gewesen - aber er wusste kein Sterbenswörtchen. Doch das nutzte ihm nix: Er durfte keine Interzonenzüge mehr fahren. Meine Flucht wurde bekannt, weil der Dorfpolizist meine Karte gelesen hat, die ich nach Jößnitz geschrieben habe: ,Hallo Mutter, ich bin gut in Hof angekommen.'"

Wie ging es weiter mit den Flüchtlingen? "Am Bahnhof mussten wir alles schildern, haben in der Bahnhofsmission geduscht, trockene Sachen bekommen und sind todmüde eingeschlafen." Die beiden Vogtländer gehen nach Hamburg, wo ein Bruder von Heinz lebt. Peter Richter verdient sich als Hilfsarbeiter Geld und studiert später an der Fachhochschule der Bundesbahn. Nach einer Zusatzausbildung zum Informatiker arbeitet er bis zur Pensionierung 2002 in der Systemprogrammierung des bayerischen Sparkassenverbandes. "Mein Wunschberuf", sagt der 80-Jährige, der mit seiner Frau bei München wohnt, im Landkreis Starnberg; die zwei Töchter haben dem Paar fünf Enkel geschenkt. Die beiden Freunde haben sich nach Richters Worten im Laufe der Jahre aus den Augen verloren. "Heinz ist 2009 gestorben."

Wann hat Richter das erste Mal wieder vogtländischen Boden betreten? "1973, nachdem Kanzler Brandt und DDR-Ministerpräsident Stoph vereinbart hatten, alle Fluchten vor 1970 straffrei zu stellen. Vor Gutenfürst hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich mit dem Zug von Hof nach Plauen fuhr ..." Richter hat ein Buch über seine Flucht geschrieben: "Im Loktender in die Freiheit".

Hat sich etwas mit der Flucht in der Nacht zum 29. August 1962 geändert? "Ja", sagt Richter: "Die Deckel der Einstiegsluken in den Wassertank wurden sofort nach Rückkehr der Dampflok im Bahnbetriebswerk Reichenbach mit Metallgittern verschlossen. Keiner sollte unsere Flucht wiederholen."

Das Buch "Im Loktender in die Freiheit" von Peter Richter kostet 10 Euro und kann unter folgender Mailadresse bestellt werden:

iprichter@web.de
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
Anton Günther

Freundeskreis Schloss Hubertusburg e. V.
http://www.freundeskreis-hubertusburg.de
Benutzeravatar
pentium
 
Beiträge: 45571
Bilder: 133
Registriert: 9. Juli 2012, 16:12
Wohnort: Sachsen/Erzgebirge

Re: Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon augenzeuge » 28. August 2022, 13:33

Das Glück ist oft mit den Mutigen.
Da wohnt er also auch noch in einer der schönsten Ecken des Landes.

AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84880
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Re: Im Wassertank in die Freiheit

Beitragvon zoll » 29. August 2022, 11:47

Pentium, danke auch für den zweiten Teil.
Nach der Meldung des Lokführers an die zuständige Stasi-Einheit wird deren Amtschimmel mächtig gewiehert haben und neue Direktiven erarbeitet haben um künftige Fluchten auf diesem Weg zu unterbinden. Das zuständige Bahnausbesserungswerk wird sicher neue Plansollübererfüllungen vorgegeben haben um die zusätzlichen Absperrgitter der Wassertanks zeitnah einbauen zu können.
Was für ein Aufwand in dem ganzen System getrieben wurde um diesen Staat am Leben zu halten, der letztlich völlig daneben gegangen ist.
Benutzeravatar
zoll
 
Beiträge: 426
Registriert: 4. Februar 2021, 10:41


Zurück zu Fluchtgeschichten

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste