Tollkühne Flucht vor 60 Jahren: Im Wassertank in die Freiheit
Zwei jungen Plauenern gelang am 28. August 1962 eine ungewöhnliche Flucht aus der DDR: Sie versteckten sich im Tender einer Dampflok, die in den Westen fuhr. Bis zum Hals im Wasser stehend querten sie die Zonengrenze.
"Das war lebensgefährlich", sagt Peter Richter. "Wir hätten tot sein können wie manche der Flüchtlinge, die heute nach Deutschland wollen. Oder wir wären ins Zuchthaus gekommen, wenn man uns entdeckt hätte." Richter feiert seit etlichen Jahren seinen Fluchttag wie einen Geburtstag. In jungen Jahren habe er das nicht gemacht.
Das Husarenstück vor 60 Jahren beginnt am 28. August 1962, 23 Uhr, auf dem Oberen Bahnhof in Plauen: Der Pfiff zur Abfahrt ertönt und der Interzonenzug von Leipzig nach München setzt sich langsam in Bewegung. Da huschen zwei Gestalten über das Gleisbett und erklimmen über das Trittbrett des ersten Waggons die Puffer zum Tender und krallen sich an den beiden Leitern fest, die zum Wassertank nach oben führen: Der 20-jährige Peter Richter und sein 19-jähriger Freund Heinz Schmelzenbach hatten in Reichsbahn-Uniformen hinter dem Güterzug auf dem Nachbargleis gekauert. "Die Uniformen hat Heinz besorgt, der Lokführer-Lehrling war", sagt Richter. "Wir haben die Kontrollen von Zoll und Bahnpolizei abgewartet - und sind gestartet."
Nach ein paar Minuten Fahrt, im Syrauer Wald, klettern die Männer auf den Kohle-Tender. Richter: "Eher wäre dumm gewesen: Man hätte uns im Plauener Stadtgebiet sehen können." Der Zug dampft durch die Nacht: Mehltheuer, Schönberg, Rodau, Reuth, Grobau - und gleich ist der Grenzbahnhof Gutenfürst erreicht, also fix: Die Jungs klappen den Metalldeckel auf und klettern durch das Mannloch in den Wassertank. "Er war zwei Meter breit, zwei hoch und vier lang. Es gab zwei Zwischenwände, damit sich das Wasser nicht aufschaukeln kann. Wir tauchten in die dritte Kammer. Bis zum Hals standen wir im Wasser."
Gegen das Bibbern im 14 Grad kalten Wasser nehmen sie einen Schluck Boonekamp aus einem "Taschenwärmer". "Sorgen bereiteten uns die Zusatzstoffe im Wasser, die beigemischt waren - gegen Korrosion und Kalkablagerungen." Gegen 23.45 Uhr beginnt der Zug zu bremsen, das Wasser schwappt, sodass die Köpfe der Flüchtlinge unter Wasser geraten. Draußen tönt der Lautsprecher: "Gutenfürst - Grenzkontrollbahnhof der Deutschen Demokratischen Republik". Die Jungs hören Hundegebell und Stimmen der Grenzer. Eine Taschenlampe in einer Plastetüte spendet Licht. Leider ist Wasser hineingelaufen in die russische Soldatenuhr, die als unverwüstlich gilt. So zählen sie immer bis 60, um zu wissen, wie spät es ist.
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