Hundeführer Reinhard Dahms
In der Silvesternacht 1965/66 versuchte Reinhard Dahms seinen Postenführer zur gemeinsamen Flucht in die Bundesrepublik zu überreden. Als dieser die Fahnenflucht ablehnte, wollte Dahms sich allein auf den Weg durch die Grenzanlagen machen. Doch sein Postenführer verhinderte die Flucht mit der Schusswaffe.
geboren am 19. Mai 1944 in Finowfurt
erschossen am 1. Januar 1966
Ort des Zwischenfalls: Königsbrücke zwischen Bömenzien (Sachsen-Anhalt) und Kapern (Niedersachsen)
Am 31. Dezember 1965 um 20 Uhr traten Reinhard Dahms als Posten und der Stabsgefreite Harald J. als Postenführer zum Grenzdienst an. Reinhard Dahms führte seinen Diensthund mit sich. Erst am darauffolgenden Morgen um 4 Uhr sollte die Nachtschicht zu Ende gehen. Ihre Aufgabe bestand darin, den Bereich um die Königsbrücke an der gesperrten Straße zwischen Bömenzien und Kapern zu überwachen. Harald J. war unter dem Decknamen „Rolf Hertha” IM für das MfS. Sein Einsatzbefehl war die „Aufdeckung und Verhinderung von Fahnenfluchten”. Wattejacken und wattierte Hosen schützten die beiden Soldaten gegen Kälte. Doch in diesem Jahr war die Silvesternacht ohnehin mild. Um Mitternacht konnten sie den Lichtschein und das Krachen der Raketen wahrnehmen, die im niedersächsischen Kapern gezündet wurden.
Doch es bot sich ihnen kaum Gelegenheit, das Feuerwerk zu betrachten. Gegen Mitternacht fand eine Kontrolle durch mehrere Offiziere statt. Sie überbrachten auch förmliche Glückwünsche zum neuen Jahr und versorgten die Posten mit einem Glas Punsch. Kaum waren die Offiziere wieder fort, fuhr der Stabschef der 2. Grenzkompanie vor und führte ebenfalls eine Kontrolle durch. Sicherlich wollten sich die ranghohen Grenzer davon überzeugen, dass die Soldaten nicht im Dienst die Ankunft des neuen Jahres feierten. Erst nach 0.35 Uhr wagten es Reinhard Dahms und Harald J., zu den Nachbarposten hinüberzugehen und mit Weinbrand auf das Jahr 1966 anzustoßen.
Als sie auf dem Rückweg gegen 1.30 Uhr an der Königsbrücke ins Gespräch mit zwei westdeutschen Zollbeamten kamen, wirkten sie „zwar angetrunken, keineswegs aber betrunken”. Wie sich später einer der beiden Zollbeamten erinnerte, nahmen die DDR-Grenzer den Kontakt zu ihnen auf. Nachdem sie Neujahrsgrüße ausgetauscht hatten, äußerten die Grenzsoldaten, dass sie lieber Silvester feiern würden, als Grenzdienst zu schieben. Dann verabschiedeten sie sich: „Wir müssen wieder zurück, macht‘s gut.” Kaum hatten sich die Zollbeamten 300 Meter von der Königsbrücke entfernt, hörten sie aus Richtung Bömenzien mehrere Feuerstöße aus einer Maschinenpistole.
Ein Bericht des Staatssicherheitsdienstes, der auf den Aussagen von Harald J. beruht, enthält keinen Hinweis auf das für DDR-Grenzer streng verbotene Gespräch mit den Zollbeamten. Laut diesem Bericht habe Dahms bereits vorher, gegen 1 Uhr, nach dem Treffen mit den Nachbarposten, zu Harald J. gesagt, er wolle näher an die Grenzzäune auf der Königsbrücke herangehen, um die letzten Feuerwerksraketen im Westen besser sehen zu können. Reinhard Dahms sei dann so eilig in Richtung Grenzzaun gelaufen, dass Harald J. ihn auffordern musste, langsamer zu gehen. In diesem Augenblick soll Dahms gesagt haben: „Komm, wir hauen nach Westen ab. Du brauchst keine Angst zu haben, ich lasse Dich nicht im Strich und werde Dich drüben versorgen.”
Vermutlich war Postenführer Harald J. zunächst unschlüssig, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Später behauptete er gegenüber dem MfS, er sei zum Schein auf den Vorschlag eingegangen, „in der Absicht, die Fahnenflucht zu verhindern”. Dann muss alles sehr schnell gegangen sein: An der Königsbrücke habe er versucht, über das Grenzmeldenetz die Kompanie zu verständigen. Dahms habe ihm aber den Hörer aus der Hand gerissen und nochmals zur Fahnenflucht aufgefordert, dann sei Dahms allein auf die Grenzsperren zugelaufen. Er überwand einen Wassergraben und lief auf den letzten Grenzzaun zu. Harald J. begann zu schießen. Mit der auf Dauerfeuer gestellten Waffe feuerte das gesamte Magazin seiner Maschinenpistole auf Dahms ab, anschließend lud er sofort ein zweites Magazin nach und schoss es bis zu letzten Patrone leer. 24 der insgesamt 60 Geschosse trafen Reinhard Dahms, drei davon mit tödlicher Wirkung.
In der Bundesrepublik erregte der Zwischenfall öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen die Aussagen mehrerer geflohener DDR-Grenzsoldaten und eine Fotografie des Schützen der Presse übergab. Der Mittag titelte: „Dreißig Schuß auf einen Sterbenden. Geflüchtete Grenzsoldaten der Zone klären Mord auf”. Das von einer Bundeswehreinheit für „Psychologische Kriegsführung” (PSK) herausgegebene Propagandablatt Presserundschau für die bewaffneten Organe übernahm den Artikel aus dem Mittag und verbreitete mit Hilfe von Flugblattballons die Information über den Tod von Reinhard Dahms im Zonenrandgebiet der DDR. Harald J. unternahm 1979 selbst einen Fluchtversuch, für den er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Später stellte er einen Ausreiseantrag, dem die DDR-Behörden 1988 stattgaben. 1996 erklärte er bei seiner Vernehmung durch Ermittler der ZERV, er habe auf Reinhard Dahms geschossen, weil dieser bei der Flucht seine MPi durchgeladen und den Hund auf ihn gehetzt habe.
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