Sie war 18, als sie 1980 im Kugelhagel der Grenzer starb. Ein Kreuz am Reichstag erinnert an Marienetta Jirkowsky, nun soll auch ein Platz nach ihr benannt werden - doch ihre Familie will das mit allen Mitteln verhindern. Dürfen Angehörige das Gedenken an ein SED-Opfer bestimmen? Und was treibt sie?
Dieses Passfoto von Marienetta Jirkowsky entging der Beschlagnahme und Vernichtung durch die DDR-Staatssicherheit. Es wurde in den Westen geschmuggelt und gelangte in das Berliner Museum Checkpoint Charlie.
Von einem Mauergrundstück in einer Gartensiedlung aus überwanden Marienetta Jirkowsky und ihre beiden Begleiter mit Hilfe von drei Leitern zwei Mauerhindernisse und einen elektrischen Alarmzaun, bevor sie entdeckt und beschossen wurden. Dieses Foto machte die Staatssicherheit vom Ort des Geschehens in Frohnau.
Mittwoch, 24.03.2010
Das Knattern von MG-Salven schreckt am frühen Morgen des 22. November 1980 Anwohner von Hohen Neuendorf im Nordwesten Berlins aus dem Schlaf. Immer wieder peitschen Schüsse durch die Nacht, minutenlang. Dann wird es wieder ganz still, sehen können die Zeugen der gespenstischen Szene nichts. Die Uhr zeigt 3.45.
Es ist der Morgen, an dem Marienetta Jirkowsky stirbt. Die junge Frau wird beim Versuch, über die Mauer zu klettern, von DDR-Grenzern erschossen. Sie ist 18 Jahre alt. Zur Erinnerung setzt der Berliner Bürgerverein kurz nach Marienettas gewaltsamen Tod direkt an der Fluchtstelle ein Gedenkkreuz. Später kommt eine Erinnerungstafel am Spreeufer beim Reichstag hinzu. Und die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf beschließt zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall im November 2009, einen Platz nach Marienetta Jirkowsky zu benennen.
Doch das mit dem Erinnern und Gedenken kann eine verflixte Sache sein. Schon kurz nach dem Mauermord an der 18-Jährigen kam das Mahnmal am Tatort abhanden. Auf der Tafel am Reichstag, einem großen weißen Kreuz, ist Marienettas Name falsch geschrieben. Und auch um die Platzbenennung gibt es drei Jahrzehnte nach der Tat wieder mächtig Ärger. Doch der Reihe nach.
"Sie wusste doch, was sie tut"
Das große Holzkreuz, das kurz nach den Todesschüsen am Tatort in der Invalidensiedlung in Frohnau errichtet wurde, stahl schon kurz darauf ein Top-Spitzel der DDR-Staatssicherheit. Im Kofferraum eines ahnungslosen westdeutschen Diplomatensohnes schaffte IM "Brunnen" das sperrige Stück nach Ost-Berlin, um seinem Führungsoffizier zu imponieren. Parallel versuchte die Stasi mit großem Aufwand, möglichst alle Fotos und sonstigen Erinnerungen an das Opfer zu vernichten - unbedingt sollte verhindert werden, dass ein Bild Marienettas in den Westen gelangte.
Doch die Netzmaschen der staatlichen Erinnerungsjäger waren nicht eng genug - ein Passfoto der hübschen jungen Frau fand doch den Weg durch jene Mauer, die sie das Leben gekostet hatte. Es landete bei Rainer Hildebrandt, dem umtriebigen Chef des "Mauermuseums" am Checkpoint Charlie, wo es noch immer verwahrt wird. Bis heute gilt dieses Foto als einzige existierende Aufnahme der jungen Toten.
Spreenhagen ist ein verschlafenes Nest bei Fürstenwalde, südöstlich von Berlin. Hier Menschen zu finden, die sich an Marienetta erinnern und darüber sprechen wollen, ist fast unmöglich. Die Menschen sind misstrauisch und verschlossen, wollen nicht zitiert werden. Hier herrschte vor 1989 der Stasi-Offizier Adolf Storch, langjähriger Chef der MfS-Kreisdienststelle Fürstenwalde und Führungsoffizier des Kreuzdiebs.
Dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, findet hier auch heute fast niemand. Fluchtversuche seien ja strafbar gewesen, hört man, wenn man Einwohner auf Marienetta anspricht: "Sie wusste doch, was sie tat."
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