Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon zonenhasser » 5. Dezember 2019, 23:45

Sie war 18, als sie 1980 im Kugelhagel der Grenzer starb. Ein Kreuz am Reichstag erinnert an Marienetta Jirkowsky, nun soll auch ein Platz nach ihr benannt werden - doch ihre Familie will das mit allen Mitteln verhindern. Dürfen Angehörige das Gedenken an ein SED-Opfer bestimmen? Und was treibt sie?

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Dieses Passfoto von Marienetta Jirkowsky entging der Beschlagnahme und Vernichtung durch die DDR-Staatssicherheit. Es wurde in den Westen geschmuggelt und gelangte in das Berliner Museum Checkpoint Charlie.

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Von einem Mauergrundstück in einer Gartensiedlung aus überwanden Marienetta Jirkowsky und ihre beiden Begleiter mit Hilfe von drei Leitern zwei Mauerhindernisse und einen elektrischen Alarmzaun, bevor sie entdeckt und beschossen wurden. Dieses Foto machte die Staatssicherheit vom Ort des Geschehens in Frohnau.

Mittwoch, 24.03.2010

Das Knattern von MG-Salven schreckt am frühen Morgen des 22. November 1980 Anwohner von Hohen Neuendorf im Nordwesten Berlins aus dem Schlaf. Immer wieder peitschen Schüsse durch die Nacht, minutenlang. Dann wird es wieder ganz still, sehen können die Zeugen der gespenstischen Szene nichts. Die Uhr zeigt 3.45.

Es ist der Morgen, an dem Marienetta Jirkowsky stirbt. Die junge Frau wird beim Versuch, über die Mauer zu klettern, von DDR-Grenzern erschossen. Sie ist 18 Jahre alt. Zur Erinnerung setzt der Berliner Bürgerverein kurz nach Marienettas gewaltsamen Tod direkt an der Fluchtstelle ein Gedenkkreuz. Später kommt eine Erinnerungstafel am Spreeufer beim Reichstag hinzu. Und die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf beschließt zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall im November 2009, einen Platz nach Marienetta Jirkowsky zu benennen.

Doch das mit dem Erinnern und Gedenken kann eine verflixte Sache sein. Schon kurz nach dem Mauermord an der 18-Jährigen kam das Mahnmal am Tatort abhanden. Auf der Tafel am Reichstag, einem großen weißen Kreuz, ist Marienettas Name falsch geschrieben. Und auch um die Platzbenennung gibt es drei Jahrzehnte nach der Tat wieder mächtig Ärger. Doch der Reihe nach.

"Sie wusste doch, was sie tut"

Das große Holzkreuz, das kurz nach den Todesschüsen am Tatort in der Invalidensiedlung in Frohnau errichtet wurde, stahl schon kurz darauf ein Top-Spitzel der DDR-Staatssicherheit. Im Kofferraum eines ahnungslosen westdeutschen Diplomatensohnes schaffte IM "Brunnen" das sperrige Stück nach Ost-Berlin, um seinem Führungsoffizier zu imponieren. Parallel versuchte die Stasi mit großem Aufwand, möglichst alle Fotos und sonstigen Erinnerungen an das Opfer zu vernichten - unbedingt sollte verhindert werden, dass ein Bild Marienettas in den Westen gelangte.

Doch die Netzmaschen der staatlichen Erinnerungsjäger waren nicht eng genug - ein Passfoto der hübschen jungen Frau fand doch den Weg durch jene Mauer, die sie das Leben gekostet hatte. Es landete bei Rainer Hildebrandt, dem umtriebigen Chef des "Mauermuseums" am Checkpoint Charlie, wo es noch immer verwahrt wird. Bis heute gilt dieses Foto als einzige existierende Aufnahme der jungen Toten.

Spreenhagen ist ein verschlafenes Nest bei Fürstenwalde, südöstlich von Berlin. Hier Menschen zu finden, die sich an Marienetta erinnern und darüber sprechen wollen, ist fast unmöglich. Die Menschen sind misstrauisch und verschlossen, wollen nicht zitiert werden. Hier herrschte vor 1989 der Stasi-Offizier Adolf Storch, langjähriger Chef der MfS-Kreisdienststelle Fürstenwalde und Führungsoffizier des Kreuzdiebs.

Dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, findet hier auch heute fast niemand. Fluchtversuche seien ja strafbar gewesen, hört man, wenn man Einwohner auf Marienetta anspricht: "Sie wusste doch, was sie tat."
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Hier geht es weiter: https://www.spiegel.de/geschichte/berli ... 48776.html
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Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon zonenhasser » 5. Dezember 2019, 23:55

Marienettas verschollene Bilder

In Hohen-Neuendorf bei Berlin wird am Jahrestag des Mauerbaus ein Platz nach Marienetta Jirkowsky benannt. Angehörige und Politiker stritten lange über den symbolischen Akt zu Ehren der jungen Frau. Die Staatssicherheit hatte alle Erinnerungen an sie tilgen wollen - doch nun sind verschollen geglaubte Fotos aufgetaucht.

Von Stefan Appelius

Freitag, 13.08.2010

Bärbel Kultus wollte nicht, dass man sich an ihre Nichte erinnert. Angeblich hätten es auch die verstorbenen Eltern des jungen Mädchens nicht gewollt. Diese Geschichte sei ihre Privatsache und gehe niemanden etwas an, schimpfte die alte Dame. Andere hätten es viel eher verdient, dass ein Platz nach ihnen benannt werde.

Das junge Mädchen wurde vor dreißig Jahren in Hohen-Neuendorf erschossen - beim Versuch, aus der DDR zu flüchten. Marienetta Jirkowsky, 18 Jahre alt, träumte von einem gemeinsamen Leben mit ihrem Freund in Freiheit. Nach ihrem Tod sammelte die Staatssicherheit alle Bilder ein, die es von Jirkowsky gab. Nichts sollte an das Mädchen erinnern.

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Tatort an der Mauer: An diesem Abschnitt der Berliner Mauer in Frohnau wurde Marienettas Fluchtversuch entdeckt und das Mädchen unter Feuer genommen. Einer der beteiligten Soldaten aus dem "Grenzregiment 38" wurde 1995 in Neuruppin wegen "Totschlags in einem minderschweren Fall" zu einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Der besagte Soldat hatte von dem hier abgebildeten Wachturm aus geschossen. Die Aufnahme entstand am 28. Januar 1981.

In Hohen-Neuendorf wird an diesem 13. August der Marienetta-Jirkowsky-Platz eingeweiht. Weil Politiker in dem kleinen Städtchen nach reiflicher Überlegung beschlossen, sich nicht zu beugen, obwohl sich ein Chor der Entrüstung über die Pläne erhoben hatte. Und obwohl die Lokalzeitung, ein Heimatforscher und die Linkspartei auf den Barrikaden standen. Und die Tante.

Einen Platz nach ihrer Nichte zu benennen, hatte die 71-jährige Bärbel Kultus aus Fürstenwalde im Frühjahr einem Reporter der "SUPERillu" erklärt, sei überflüssig und "geschmacklos". Es sei doch "kein Verdienst", an der Mauer erschossen worden zu sein. Der Stadtverwaltung in Hohen-Neuendorf schrieb sie, es sei "unverschämt und anmaßend", über die Geschichte zu recherchieren. Trotzdem habe man ihren Wunsch ignoriert, klagte Kultus in einem Interview: "So ist das eben bei Politikern, die sich profilieren wollen."

Sie spricht aus Erfahrung, denn auch das frühere SED-Mitglied Bärbel Kultus war einmal Kommunalpolitikerin. Davon erzählte Tante Bärbel den Journalisten allerdings nichts. Kein Wort auch davon, dass sie selbst seit 1970 beim Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS) registriert war. "GMS Bärbel", die schon frühzeitig für die "sehr gute Durchführung einer operativ wichtigen Maßnahme" von ihrem Führungsoffizier beschenkt wurde, vertrat genau jene DDR, von der ihre Nichte am Ende die Nase gründlich voll hatte: "Sie ist ständig bestrebt die Beschlüsse von Partei u. Regierung durchzusetzen", lobte Bärbels Führungsoffizier.

Als sich Marienetta Anfang 1980 verliebte, herrschte zwischen ihren Eltern und Tante Bärbel Funkstille: Familienkrach. Erst als das junge Mädchen schon tot war, rührte sich die linientreue Tante wieder. Sie meldete sich im Büro von Feldwebel Dargel, dem verantwortlichen Mitarbeiter des MfS in ihrem Betrieb, und teilte pflichtgemäß mit, ihre Nichte sei bei einer "Grenzverletzung" tödlich verletzt worden. Trauer oder Bestürzung um den Verlust des jungen Mädchens waren aus der Meldung nicht zu ersehen. Eher die Sorge, selbst durch den leidigen Vorfall in ein schlechtes Licht zu geraten und sich deshalb vorsichtshalber zu distanzieren.
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weiter hier: https://www.spiegel.de/geschichte/mauer ... 46582.html
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Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon HPA » 5. Dezember 2019, 23:58

Den nach ihr benannten Platz in Hohen Neundorf gibt es nun. Gegen alle Widerstände.

Und wenn die alten NVA und Stasi Zausel in Strausberg das Zeitliche gesegnet haben, wird es dort sicherlich auch eine Michael-Gartenschlägerstraße geben.

Das besagte Straße immer noch nach dem Mauerschützen Peter Göring benannt ist, ist schlichtweg ein nicht hinzunehmender Skandal!
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Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon Interessierter » 6. Dezember 2019, 07:47

Unter Verschluss gehaltene Militär- und Justizakten der DDR belegen, dass Göring trotz eines ausdrücklichen Befehls seines Postenführers seinen Wachturm verlassen hatte, um in eine günstige Schussposition zu kommen, und dann zweifach gegen gültige Schusswaffengebrauchsbestimmungen verstieß, indem er seine Waffe gegen ein Kind einsetzte und in westliche Richtung schoss.


Ausgerechnet nach diesem Typ ist immer noch eine Straße benannt? Das darf einfach nicht wahr sein... [denken]
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Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon Olaf Sch. » 6. Dezember 2019, 08:30

Es ist schon zu merkwürdig, bevor ich las, dass Tante B. Bei der Stasi war, vermutete ich dies schon seit ihrem Einwand. Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen.
Olaf Sch.
 

Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon Stummel » 6. Dezember 2019, 08:34

Als Jugendliche sind wir manchmal bei Hitzelrode Nachts an die Zonengrenze gefahren, besonders im Sommer. Manchmal hatten wir einen leichten im Tee. Die Waldwege hinter Hitzelrode führten direkt bis zur Schneise wo der Zaun war. Wir haben dann die Vopos beobachtet. War immer ein gewisser Kick, und wenn Mädels dabei waren riskierten wir auch mal die große Klappe und plärrten irgend etwas hinüber. Wir waren ja im Wald für sie unsichtbar, wie wir dachten! [grins]

Es war Gespenstisch, besonders wenn sie auch noch Leuchtkugeln schossen! Die heutige Jugend kann sich das gar nicht mehr vorstellen! Nur der BGS hat uns manchmal den Spaß verdorben und nach Hause gescheucht!
Stummel
 

Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon HPA » 6. Dezember 2019, 09:40

Ausgerechnet nach diesem Typ ist immer noch eine Straße benannt? Das darf einfach nicht wahr sein...


Ja ,nach diesem Typ, welcher ein Kind zum Krüppel schoss, ist immer noch eine Straße in Strausberg benannt.
HPA
 

Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon pentium » 6. Dezember 2019, 09:49

Passend zum Thema siehe auch:

Maueropfer Marienettas verschollene Bilder

Beitrag von Interessierter » 28. Juli 2012, 10:57
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
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Re: Die zwei Tode der Marienetta Jirkowsky

Beitragvon augenzeuge » 6. Dezember 2019, 10:54

HPA hat geschrieben:Den nach ihr benannten Platz in Hohen Neundorf gibt es nun. Gegen alle Widerstände.



Sehr gut! [super]
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