Im Sommer 1989 flohen rund 50.000 DDR-Bürger über Ungarn in die BRD. Mittendrin: Unser Autor Airen, damals sieben Jahre alt. In einem "Fluchtalbum" dokumentierten seine Eltern ihren Weg in die Freiheit.
"Mama, Papa, da ist ein Loch im Zaun nach Westen!" Mit großen Augen zeigte ich auf den Bildschirm unseres Schwarz-Weiß-Fernsehers. Ein Waldstück war dort zu sehen und eine Menschentraube, die ein Tor aufdrückte und in die Freiheit rannte. Es war der 19. August 1989, die Bilder zeigten das "Paneuropäische Picknick", bei dem mehr als 600 DDR-Bürger über die österreichisch-ungarische Grenze in den Westen "rübermachten". Merkwürdig nur, dass meine Eltern der Neuigkeit keine Beachtung schenkten. "Das interessiert uns nicht", lautete ihre knappe Antwort.
Was ich nicht ahnte: Dass sie längst selbst den Entschluss gefasst hatten, über Ungarn zu fliehen. Und dass unsere Neubauwohnung von der Stasi verwanzt war.
Es waren die Sommerferien 1989, ich hatte gerade die erste Klasse der Polytechnischen Oberschule "Ernst Thälmann" im mittelsächsischen Mittweida abgeschlossen. Zum wöchentlichen Fahnenappell band ich mir wie alle anderen das blaue Tuch der Jungpioniere um den Hals. In diesem Sommer herrschte eine merkwürdige Stimmung im Haus. Beinahe täglich verabschiedeten sich die Eltern auf ausgedehnte Spaziergänge durch das Neubaugebiet. Und jedes Mal, wenn sie die Wohnung verließen, klemmten sie eine Kinokarte in den Türfalz. Als wir eines Tages nach Hause kamen und die Karte auf dem Boden lag, wechselten sie vielsagende Blicke.
Bei den Spaziergängen planten sie unsere Flucht aus der DDR. Das Ziel hieß Ungarn: Seit Wochen nutzte ein stetig anschwellender Flüchtlingsstrom das liebste Ferienparadies der Ostdeutschen als Tor zum Westen. Schon im Mai hatten ungarische Grenzer begonnen, den Stacheldraht an der Grenzlinie zu Österreich abzubauen. Man munkelte, dass auch der Schießbefehl ausgesetzt war.
Allein oder in Gruppen schlugen sich die Menschen über die grüne Grenze. Im Westfernsehen war zu sehen, wie über 100 Menschen in der BRD-Botschaft in Budapest ausharrten. Meine Eltern wollten die Chance ergreifen, bevor Staatschef Erich Honecker auch den Weg nach Ungarn versperren würde.
Heimlich Ungarisch gepaukt
Mit dabei war ein befreundetes Ehepaar, das einen russischen Lada-PKW besaß. Zum Schein hatten meine Eltern eine Ferienwohnung am Donauknie angemietet und eine Rückfahrkarte nach Dresden gekauft. Nach einer OP im Juni ließ mein Vater sich länger krankschreiben - in der gewonnenen Zeit paukte er Ungarisch.
Meine letzte Erinnerung an die DDR ist - so klischeehaft das klingen mag - das Bild der leeren Regale in einer Kaufhalle. Ich weiß noch, dass wir ein Brot kaufen wollten. An diesem Nachmittag gab es kein einziges mehr.
Mit dem interessanten Bericht und Fotos geht es hier weiter:
https://www.spiegel.de/geschichte/ddr-f ... 88339.html