Nur ein Meter fehlte bis zur Freiheit

Nur ein Meter fehlte bis zur Freiheit

Beitragvon Interessierter » 3. Mai 2019, 12:25

Die Flucht mit einem Bus scheitert am 12. Mai 1963 im Kugelhagel

Friedlich wirkt der Grenzübergang Invalidenstraße am 12. Mai 1963. Trügerisch friedlich. Scheinbar nichts kann die sonntägliche Mittagsruhe stören – bis um genau 12.59 Uhr erst ein Rumpeln, dann ein scharfes Kreischen und unmittelbar darauf Dutzende Schüsse die Stille zerreißen.

Aus der Scharnhorststraße rast ein schwerer Reisebus heran, wird aus der scharfen Rechtskurve getragen und setzt gegen einen Baum auf der Invalidenstraße, stößt zurück, umrundet den Slalom aus Betonsperren und beschleunigt, ständig beschossen, auf den schmalen Durchlass der massiven Betonsperrmauer, der nur von einem Schlagbaum verschlossen ist. Doch Sekundenbruchteile, bevor der Bus diese letzte Sperre überwindet, kommt er ins Schlingern und kracht gegen die nördliche Seite der Sperre. Den acht Menschen im Bus, die auf diese riskante Weise ins freie West-Berlin gelangen wollten, wird schlagartig klar: Ihre Flucht ist gescheitert. Die drei im Fahrerhaus, Gerd K., Gerhard B. und Manfred Massenthe, sind durch die insgesamt 138 Schüsse der DDR-Grenzer schwer verletzt.

"Im Grunde bin ich schuld, dass wir nicht rechtzeitig vor dem Mauerbau geflüchtet sind", sagt Manfred Massenthe mehr als vier Jahrzehnte später. Noch eine Woche vor dem 13. August 1961 hatte sein Vater ihn und seine Mutter gefragt, ob man nicht doch in den Westen gehen sollte. Doch Manfred, gerade 17 Jahre, wollte nicht: "Ich hatte damals gerade eine ganz schicke Freundin. Außerdem dachte ich, dass ich meine Lehre beenden sollte." Weder seine Eltern noch er hätten gedacht, dass die SED eine mörderische Grenze durch Berlin ziehen würde.

Doch genau das geschah heute vor 46 Jahren: Der 13. August 1961 war keine zwei Stunden alt, als in Ost-Berlin Schützenpanzer in Stellung gingen, als rund um West-Berlin, vor allem entlang der innerstädtischen Sektorengrenze, Volkspolizei und "Betriebskampfgruppen" aufmarschierten.

"Bald nach dem Mauerbau wurde mir klar, dass ich raus muss aus der DDR", erinnert sich Massenthe, der heute in Prenzlauer Berg ein Fachgeschäft für Bilderrahmungen betreibt: Sein Freiheitstrieb war übermächtig. Immer wieder kundschaftete er die Grenzanlagen aus, um einen halbwegs aussichtsreichen Fluchtweg zu finden – vor allem im Norden Berlins. Doch richtig konkret wurde es erst, als er sich mit seinem Brigadier (Vorarbeiter) im Ost-Berliner BVG-Busdepot Treptow einig wurde: Gerd K., etwas älter als Massenthe, wollte ebenfalls der SED-Diktatur entrinnen.

Gemeinsam planten die beiden, sich im April 1963 aus der Kantine des BVG-Geländes abzuseilen und dann einen Flutgraben nach West-Berlin zu überwinden. Schon waren mehrere Freunde in die Lackiererei eingeschmuggelt, wo sie sich bis zur Flucht verstecken sollten. Doch während K. ein Draufgänger war, achtete Massenthe auf die möglichen Risiken – und sagte den Fluchtversuch im letzten Moment ab. Die Wachen auf dem Betriebsgelände waren mehr als verdoppelt worden. "Die hätten uns im Flutgraben mühelos abgeknallt", erzählt er schaudernd.

Also musste ein neuer Plan her. Bei der BVG gab es schwere Reisebusse mit starken Motoren, die man für einen Durchbruch nutzen konnte. Vier Wochen brauchten K., sein Bekannter B. und Massenthe, um diesen neuen Plan vorzubereiten. Aus zwölf Millimeter starken Blechen schweißten sie Panzerplatten. Mehrere sollten im Gang des Busses zwischen den Sitzreihen wie ein Spitzdach gegeneinander gestellt werden und so den Mitflüchtlingen Schutz gegen Kugeln bieten. Andere Platten sollten hinter der Frontscheibe hochgeklappt werden. Sogar an das Risiko für westliche Besucher dachten die Anführer des Fluchtplans: Sie baten einen westdeutschen Vertrauensmann, den Grenzverkehr am 12. Mai gegen Mittag durch die West-Berliner Polizei stoppen zu lassen. Alles schien bestens vorbereitet.

Der Plan ging zunächst auf: Der schwere Bus durchbrach die massive Kette auf der Scharnhorststraße und schaffte es durch den Slalom. K. lenkte, Massenthe drückte mit beiden Beinen die Stahlplatten gegen die Frontscheibe. Doch es waren viel mehr DDR-Grenzer vor Ort als erwartet. Unmittelbar vor dem Durchbruch trafen plötzlich zwei Kugeln Manfred Massenthe, eine in die Hand und eine in den Bauch, wahrscheinlich durch das Dach des Busses. So verletzt, konnte er die Stahlplatten nicht mehr halten, und für Sekunden war Gerd K. ungeschützt. Drei Kugeln trafen den Fahrer in die Lunge – lebensgefährlich, aber noch kein Grund, aufzugeben. Doch dann zerschmetterte ein weiteres Geschoss seinen Oberarm¬knochen. K. konnte das große Lenkrad nicht mehr halten, der Bus geriet ins Schlingern und knallte hart gegen die Betonsperre, die letzte Barriere. Ein einziger Meter fehlte den drei jungen Männern im Fahrerraum und den fünf Passagieren unter der kugelsicheren Konstruktion zwischen den Sitzen auf ihrem Weg in die Freiheit. Alle wurden festgenommen.

Massenthe musste, trotz seiner schweren Verletzung, mehrere hundert Meter zu Fuß und mit einer Kalaschnikow im Rücken zurückgehen, bevor er ins Spezialkrankenhaus der Volkspolizei eingeliefert wurde. Zehn Monate später wurde er als "Rädelsführer" des Fluchtplans verurteilt, zu neun Jahren Gefängnis. Gerd K. als Fahrer bekam sogar zehn Jahre. Beide hätten den "Dritten Weltkrieg auslösen können", behauptete der "Volksrichter" Hans Genrich – der Allzweckvorwurf gegen jeden, der die mörderische Grenze zu überwinden versuchte. Von einem "Triumph der Unmenschlichkeit" schrieb die Morgenpost, von einem "organisierten Anschlag" fabulierte dagegen das "Neue Deutschland".

Manfred Massenthe wurde nach knapp zwei Jahren von der Bundesrepublik aus der Haft freigekauft, blieb aber in der DDR, weil er seine Eltern nicht im Stich lassen wollte. 44 Jahre nach der gescheiterten Flucht hat er jetzt seine Stasi-Unterlagen gesehen. Und, zum Jahrestag des Mauerbaus, hat Massenthe zum ersten Mal die Geschichte seiner gescheiterten Flucht erzählt.

http://www.chronik-der-mauer.de/180130/ ... kugelhagel
Interessierter
 

Re: Nur ein Meter fehlte bis zur Freiheit

Beitragvon augenzeuge » 3. Mai 2019, 13:42

Beide hätten den "Dritten Weltkrieg auslösen können", behauptete der "Volksrichter" Hans Genrich


[flash] Marginal übertrieben.

Bild

http://www.chronik-der-mauer.de/fluchte ... 2-mai-1963

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Re: Nur ein Meter fehlte bis zur Freiheit

Beitragvon Sperrbrecher » 3. Mai 2019, 13:44

Eigentlich habe ich es nie verstanden, dass so viele DDR-Abtrünnige
solche brachiale Wege gewählt haben, um die DDR zu verlassen?

Mit dem Mauerbau 1961 war uns auch klar, dass wir der DDR den
Rücken kehren werden, aber einen solchen gefahrvollen Weg,
ausgerechnet an der Schnittstelle der Systeme, wollten wir dann
doch nicht wählen.

Deshalb haben wir uns nach einer längeren Planungsphase, dann
doch für eine umständlichere Variante entschieden. Die zwar
aufwendiger, aber zumindest nach unserer Einschätzung, etwas
weniger gefährlich und erfolgversprechender für uns war.

Der positive Ausgang der Flucht, zusammen mit meinem jüngeren
Bruder, hat uns jedenfalls bestätigt, dass unsere präzise Planung
weitab von der scharf bewachten deutsch-deutschen Grenze, nicht
so ganz falsch war.
In der DDR wussten 90% der Bevölkerung, dass sie verarscht werden.
In der Bundesrepublik haben es 90% der Wähler immer noch nicht gemerkt.
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