Zeitzeugenbericht: Beherzter Sprung über die Hecke in den Westen

Zeitzeugenbericht: Beherzter Sprung über die Hecke in den Westen

Beitragvon Interessierter » 28. April 2019, 11:11

Die spannende Geschichte seiner Flucht aus der DDR erzählte der heute in Schweden lebende Peter Klotz in Lollar vor CBES-Schülern.

LOLLAR - Warum ist gerade in den neuen Bundesländern die Skepsis gegenüber Flüchtlingen so groß? Unter der Schirmherrschaft von Mehmet Krasnici und Maria Seiler, die die Klassen 10 Gymnasial und 12 Leistungsstufe an der Clemens-Brentano-Europa-Schule (CBES) betreuen, wollte man im Unterricht der Frage nachgehen. Kurzfristig konnte ein Zeitzeuge, der in Schweden lebt, für das Projekt gewonnen werden: Peter Klotz, geboren 1941 in Potsdam, ist der Großvater von Tom Drozella, eines CBES-Schülers. Mit 20 Jahren ist Klotz geflohen. Wie ihm 1961, kurz nach dem Bau der Mauer, die Flucht in den Westen gelang, schilderte er den Schülerinnen und Schülern in einem spannenden Vortrag.

Im Krieg geboren, die Nachkriegszeit erlebt - so begann seine Geschichte. Es war nicht so wie heute, dass man in den Laden geht und alles kaufen kann, machte er den Jugendlichen klar. Einmal habe er eine Kartoffel gefunden, die er dann mit nach Hause nahm und seiner Mutter zeigte. Die erlaubte ihm, diese ganz alleine zu essen. Ansonsten wurden immer nur Kartoffelschalen von den Russen geholt, die man dann kochte und damit ein Essen bereitete.
Peter Klotz lebte in Potsdam bei Berlin. 1953 war der Aufstand gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen in der DDR. Am 17. Juni kam sein Vater nicht pünktlich von der Arbeit. Seine Mutter hatte schon Angst, dass er verhaftet worden sei. Sehr spät war er dann doch wieder da, aber die Angst blieb ein ständiger Begleiter.
"Ganz normal"

Klotz machte 1956 eine Lehre als Installateur und hatte so einen Sonderstatus in der Firma, der ihm erlaubte, auch in die Westsektoren des geteilten Berlins zu fahren. Eine Tatsache, die der DDR ein Dorn im Auge war. Im Rahmen des damals gültigen Vier-Mächte-Abkommens konnte man sich im Sperrbezirk in Grenznähe frei bewegen und sogar noch in den Westen zur Arbeit fahren. An der Grenze wurde man "ganz normal" kontrolliert. Als Provokation - wenn auch noch nicht verboten - galt es jedoch, wenn man am Abend nach Hause fuhr und eine Westzeitung in der Hand hatte. 1960 arbeitete Peter Klotz bei einer Berliner Firma, die eine Zweigstelle in Potsdam hatte. Auch hier konnte er sich frei bewegen.

Die Sektorengrenze lief zu damaliger Zeit schon durch manches Wohnhaus. Da war der Wasseranschluss im Osten und der Rest des Hauses im Westen, oder umgekehrt. Es existierte in diesem Bereich sogar noch eine deutsch-russische Freundschaft. Dadurch lernte er eine junge Frau kennen. Wenn sie Spazieren gingen und kontrolliert wurden - was oft vorkam - sprach immer nur er, damit niemand merkte, dass seine Begleiterin Russin war, denn das sollte nicht sein. Der damals 19-Jährige überredete seine Freundin Lena, ihn in den Westen zu begleiten. Sie stiegen in die S-Bahn, fuhren bis zu einem Punkt wo der Zug kontrolliert wurde, stiegen aus und wenn die Kontrolle durch war, hinten wieder ein.

Der Westen schockierte die junge Russin. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Beleuchtete Schaufenster, überall hell und so viele Lichter - das kannte sie nicht. Bei ihr war alles dunkel und grau. Auch die Rückfahrt der beiden verlief reibungslos. Bis zu seiner Flucht hatte Peter Klotz zu Lena Kontakt.

Das war das normale Leben. 1961 standen in der DDR Wahlen an. Es gab sogar zwei Parteien, die aber beide am gleichen Strang zogen. Eines Tages, als Peter Klotz wieder auf dem Weg in den Westen war, wurden ihm bei einer Kontrolle alle Ausweispapiere abgenommen. Ab jetzt konnte man nicht mehr in den Westen. Da kam Klotz zum ersten Mal der Fluchtgedanke. Im Grenzgebiet wurde er während der Arbeit einmal festgenommen, weil etwas durchgesickert war und bei ihm Fluchtgefahr bestand.

Ausweis abgenommen.

Er musste sich ausziehen, seine privaten Sachen wurden kontrolliert und er wurde geschätzte vier Stunden in einer Zelle festgehalten. Da er Westgeld und Adressen von Verwandten bei sich hatte, war er verdächtig, wurde aber wieder freigelassen. Er fühlte sich in seiner täglichen Arbeit, die er ja für den sozialistischen Staat leistete, behindert. Als er die Geschichte am nächsten Tag seinen Kollegen erzählte, waren alle erbost - machen konnten sie jedoch nichts.

Abermals wurde der junge Mann, der bereits nicht mehr im Besitz seiner Papiere war, festgenommen. Frech forderte er seinen Ausweis zurück, ohne den er nicht zur Wahl gehen würde. Damit hatte er hatte Erfolg.
13. August 1961: Die Mauer wurde errichtet. Als er tags darauf zu einem Haus an der Grenze fuhr, das er schon oft beruflich besucht hatte, wurde er gestoppt. Die Bewohner waren in der Nacht alle in den Westen gegangen. Alles war mit Stacheldraht abgezäunt.

Ein Betreten dieses Bereiches war nicht mehr möglich. Klotz stand hinter dem Stacheldraht im Osten, als ein ehemaliger Schulkamerad kam, der inzwischen bei der Volkspolizei (Vopo) war. Dieser sprach nicht mehr mit ihm und tat so, als kenne er ihn nicht.
Ein weiteres Mal wurde Klotz verhaftet und in einem Mannschaftswagen zur Staatssicherheitszentrale nach Potsdam gebracht. Als "Grenzverletzer" wurde er verhört, festgehalten und erst spätabends wieder frei gelassen. Für seine Firma war das nicht mehr hinnehmbar. Man beschwerte sich, blieb aber ohne Gehör.

Es wurde ein Sperrgebiet eingerichtet, für dessen Betreten eine Genehmigung nötig war. Der Gedanke an Flucht wuchs, Pläne wurden geschmiedet.
In Potsdam verkehrte der Kohlenzug. Dieser wurde nie gestoppt und fuhr ohne Halt in den Westen. Den wollte Klotz nehmen: Aufspringen und weg. Bescheid wussten seine Mutter, seine Schwester, deren Freundin und Helmut, ein Kollege von Peter Klotz, der mit ihm gemeinsam fliehen wollte. Kurz vor der Flucht kam die Information, dass der Kohlenzug jetzt ebenfalls kontrolliert würde und man bereits Flüchtlinge erwischt hatte. Also musste man sich wieder etwas Neues einfallen lassen.

Die einzige Fluchtmöglichkeit boten eine Straße und ein Bahnübergang im Osten, die wie ein Korridor mit niedrigem Stacheldraht in den Westen ragten. Von seinem Arbeitgeber hatte Klotz noch einen Reparaturschein, der ihm erlaubte, ein Haus aufzusuchen, das direkt an dieser Straße mit Bahndamm lag. Gut bewacht von Volkspolizisten, die aufpassten, dass niemand verschwand.
Bekleidet mit einem "Blaumann" fuhren die beiden Fluchtwilligen ins Grenzgebiet. Im Vorgarten des Hauses gab es einen Schacht, an dem man angeblich etwas reparierte. Als die Volkspolizisten weitergingen und bis zu dem Punkt, wo sie wieder umdrehten, hatte man eine Minute. Eine Minute, um eine Entscheidung zu treffen.

Über die Hecke

Zuerst sprang Helmut in die Hecke und versteckte sich. Peter Klotz sprach weiter so, als wäre sein Kollege in dem Schacht. Beim nächsten Mal war Klotz an der Reihe. Mit allem Mut sprang auch er in die Hecke, die auf der anderen Seite die Freiheit bedeutete. Beide waren im Westen und niemand bemerkte etwas.
Sie erreichten ein Haus, in dem eine Frau zufällig bereits auf Handwerker wartete. Sie bat die beiden Männer mit den Worten "Kommt rein" ins Haus. Das Duo im Blaumann erklärte ihr, dass es geflüchtet sei. Die Frau telefonierte mit den Amerikanern und schon bald kam ein Trupp vorbei, der Peter Klotz und seinen Kameraden Helmut in Empfang nahm.


Die Gefahr war jedoch noch nicht vorbei: Der einzige Weg aus diesem Gebiet heraus zu kommen, war mittels eines Hubschraubers. Dieser konnte nur auf einem bestimmten Platz landen. Man musste zurück über den Bahndamm, durch den Osten. Volkspolizisten entdeckten die Beiden, hitzige Wortgefechte folgten.

Bahndamm besetzt.


Die Amerikaner besetzten kurzfristig den Bahndamm. Abgeschirmt von amerikanischen Soldaten, die den Russen Auge in Auge gegenüberstanden, wurde die inzwischen auf sieben Flüchtlinge angewachsene Gruppe hinter deren Rücken in den Westen und damit in die Freiheit zu lassen.
Das ganze Dorf Steinstücken hatte dazu eine Menschenkette gebildet und so die Flüchtlinge geschützt.


https://www.giessener-anzeiger.de/lokal ... n_18256239
Interessierter
 

Re: Zeitzeugenbericht: Beherzter Sprung über die Hecke in den Westen

Beitragvon augenzeuge » 28. April 2019, 11:29

Sie stiegen in die S-Bahn, fuhren bis zu einem Punkt wo der Zug kontrolliert wurde, stiegen aus und wenn die Kontrolle durch war, hinten wieder ein.

Sehr schön. [grins]

Steinstücken war damals nicht ungefährlich. Schon 1951 hatte Vopos der DDR das Dorf kurzzeitig besetzt. Der Zugang für die etwa 200 Einwohner war nur über einen von der DDR kontrollierten, gut einen Kilometer langen Verbindungsweg möglich. Nach dem Mauerbau 1961 brach der Kampf um die Vorherrschaft in Steinstücken erneut aus...die Clay für sich entschied.

Nach dem Mauerbau 1961 brach der Kampf um die Vorherrschaft in Steinstücken erneut aus: Sofort nach seiner Ankunft in Westberlin kündigte der amerikanische Sonderbeauftragte Clay vor US-Offizieren in der Berliner Garnison an, mit dem Auto über die Zonengrenze in die 1.200 Meter entfernte West-Berliner Exklave Steinstücken fahren. Laut "Spiegel" erklärt Clay: "Ich will mal sehen, ob die Vopos wagen, mich aufzuhalten."

Das Vorhaben sprach sich herum – 500 begeisterte Westberliner bereiteten Clay in Zehlendorf einen Jubelempfang, der ihm zwar schmeichelte, aber seine Absicht zunichte machte, ohne Aufsehen die DDR-Grenzposten zur Freigabe des Weges nach Steinstücken zu zwingen. Am nächsten Tag stieg Clay auf den Hubschrauber um – und demonstrierte mit seiner Landung in Steinstücken Stärke und Macht. Drei US-Soldaten wurden in Steinstücken stationiert. Täglich stellten Hubschrauber die Verbindung her – besonders brisant: Mit ihnen wurden auch Flüchtlinge ausgeflogen, die sich nach Steinstücken retten konnten – sieben waren es am 27. September 1961.

In Washington wurde die Britische Botschaft vorstellig. Ob es klug sei, "wegen einer derart geringfügigen Angelegenheit einen Zwischenfall zu riskieren". Doch der General antwortete: "Es kommt darauf an, gerade in solch kleinen Dingen das Ansehen der Alliierten in Berlin wiederherzustellen." (Der Spiegel 36/1966)


1972 regelte eine Vereinbarung über den Gebietsaustausch das Problem der Exklaven. Ein 2,4 Hektar großes Areal zwischen Steinstücken und Kohlhasenbrück fiel an Westberlin. Seit dem 30. August 1972 hatte Steinstücken eine direkte, durch nunmehr zu Westberlin gehörendes Gebiet verlaufende Straßenverbindung in die Stadt und war mithin keine Exklave mehr.
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Re: Zeitzeugenbericht: Beherzter Sprung über die Hecke in den Westen

Beitragvon Dr. 213 » 28. April 2019, 12:58

Die Sicherung von diesem "Entenschnabel" war bestimmt vom Aufwand gesehen um einiges teurer
als die ohnenhin schon kostspielige Grenzsicherung an einem normalen Gdenzabschnitt.
Und wenn dann dort auch noch Fluchten geglückt sind, war der ganze Aufwand sowieso umsonst.

Herzlichst
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