1950 wurde Ekkehard Miersch in die DDR verschleppt. Seine Frau Else schaffte es, ihn aus dem Gefängnis und zurück nach West-Berlin zu holen. Auf Morgenpost Online erinnert sie sich an die waghalsige Aktion.Foto privat
In der Nacht zum 9. August hatte ich schrecklich geträumt und bin dreimal zur Telefonzelle gerannt, aus Angst, es sei etwas Schlimmes passiert. Ekkehard beruhigte mich und versicherte mir, am Abend wieder zu Hause zu sein. Also deckte ich den Tisch und wartete auf ihn. Plötzlich hielt ein großer Mercedes vor der Tür. Die Sekretärin der Gutsverwaltung und der Administrator stiegen aus. Ich hatte an diesem Tag noch kein Radio gehört, und so traf mich die Nachricht wie ein Schlag: Ekkehard war in den russischen Sektor verschleppt worden. Die beiden wiederholten andauernd: „Morgen ist er wieder draußen.“An diesem Satz klammerte ich mich fest. Ich musste Ruhe bewahren. Denn seit acht Monaten war ich schwanger. Was war passiert? Ein Trupp Volkspolizisten stürmte über die Grenze des britischen Sektors und besetzte den Gutshof. Die etwa 50 Vopos schritten auf die verblüfften Landarbeiter zu und fragten, wer die Räumung leitet. Ekkehard stellte sich vor, trat bis einen Schritt an die Grenze des sowjetischen Sektors und erklärte, dass er vom Magistrat den Auftrag habe, das Eigentum der britischen Militärverwaltung zu sichern. Daraufhin drückten ihm zwei Offiziere Pistolen in den Rücken. Einer brüllte: „Mitkommen!“ Der andere zerrte ihn am Ärmel und stieß ihn vor sich her. Mit erhobenen Händen wurde Ekkehard hinter die Sektorengrenze getrieben, in ein Auto gesteckt und davongefahren. Die Westberliner Polizisten konnten nichts ausrichten. Aufgebracht warfen die Erntearbeiter mit Steinen nach den Vopos. Die drohten mit ihren Waffen, traten aber nach einer Weile den Rückzug an.
Bürgermeister Friedensburg, der Stellvertreter von Ernst Reuter, bat sofort den britischen General Taylor um Hilfe, denn der hatte zu dieser Zeit den Vorsitz der alliierten Kommandantur. Der Magistrat und die Westalliierten versuchten, Ekkehard mit Geld freizukaufen. Vergeblich.
Die kommenden Tage und Wochen waren eine schreckliche Qual. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Hochschwanger und völlig aufgelöst rannte ich den Behörden die Türen ein. Ich hatte entsetzliche Angst, dass man Ekkehard misshandelte. Vier Wochen nach der Verschleppung setzen die Wehen ein. Im Krankenhaus Berlin-Hermsdorf brachte ich unser Baby zur Welt. Dort erhielt ich ein Carepaket mit Babyausstattung aus Amerika und so viele Blumen, dass ich sie weiterverschenken musste, weil das Zimmer schon wie ein Blumenladen aussah. Viele Berliner schickten Sträuße, um ihr Mitgefühl auszudrücken.
Durch meine Schwester Grete, die im Osten wohnte, erfuhr ich endlich, dass Ekkehard lebte und etwa 40 Kilometer von Berlin entfernt, in Fehrbellin, gefangen gehalten wurde. Mir fiel ein Stein vom Herzen, wenigstens war er noch nicht in ein sowjetisches Arbeitslager abtransportiert worden. In den vielen überfüllten Gefängnissen und Behelfsgefängnissen der DDR gab es keine Wäsche für die Gefangenen. Die Gefängnisverwaltungen informierten deshalb Verwandte der Sträflinge, damit sie ihnen das Nötigste brachten. Dadurch erfuhr Grete Ekkehards Aufenthaltsort. Seine Wäsche sah aus wie ein Bündel Putzlumpen.
Günter Schimanski, der junge Leiter des Behelfsgefängnisses Fehrbellin, sprach meine Schwester an, und machte seltsame Andeutungen. Er ließ durchblicken, dass er sich eventuell in den Westen absetzen wolle. Ein paar Tage später rief er bei mir an. Er sagte, dass er es uns auch ohne Sprecherlaubnis ermöglichen könne, kurz miteinander zu reden. Ich soll zu dem Gasthof kommen, wo er mit meinem Mann täglich das Essen für die Gefangenen abholt.Es war ein sonniger Oktobertag. Der Sonntag, an dem die ersten Wahlen zur DDR-Volkskammer stattfanden. Der kleine Gasthof lag nur 100 Meter vom Gefängnis entfernt. Ich sah Ekkehard schon von weitem kommen, hinter ihm Schimanski mit dem Gewehr auf seinen Rücken gerichtet, wie es Vorschrift war. Schimanski erlaubte uns unter Aufsicht drei Minuten zusammen zu sprechen. Hastig berichtete ich, wie sich unser kleiner Sohn entwickelte. Doch was Ekkehard mir zu sagen hatte, bestätigte meine schlimmen Befürchtungen. Auch unter den Häftlingen hatte sich herumgesprochen, dass er am kommenden Dienstag in einen Gefangenentransport Richtung Sowjetunion gesteckt werden sollte.
Beim Rausgehen flüsterte mir Ekkehard zu: „Ich versuche abzuhauen.“ Ich flehte: „Tu es bitte nicht, die schießen dich tot.“ Eine Viertelstunde später kam Schimanski zurück, und wir unterhielten uns ein wenig. Ich überlegte mir jedes Wort dreimal, stets in der Angst, es handele sich um eine Falle. Schimanski fragte fortwährend, wie es im Westen sei. Dann schickte er mich fort, und wir fuhren wieder nach Wansdorf.
Von Fehrbellin bis nach Wansdorf waren es damals zirka zwei Stunden Fahrt. Kaum trat ich in Gretes Wohnung, klingelte das Telefon. Schimanski war dran. „Kommen Sie noch einmal“, forderte er mich auf, „und zwar sofort!“ Wir fuhren also wieder nach Fehrbellin. Schimanski redete jetzt ganz offen und schlug vor, noch am selben Abend gemeinsam zu fliehen. Ich hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken: heute oder nie.
Kaum waren wir zum zweiten Mal an diesem Tag nach Wansdorf zurückgekehrt, wurde es auch schon Abend. Der gute Herr Hirle zögerte keinen Moment und setzte sich wieder ans Steuer seines Opel P4. Ich drückte mein Baby noch einmal. Sonderbarerweise gab mir ausgerechnet mein kleines hilfloses Kind den Mut für diese Aktion. Ich dachte immer: „Ich habe ein Baby, mir kann nichts passieren.“ Grete und ihr Mann Erich sollten sich während der Befreiungsaktion um unseren kleinen Sohn gekümmert, und ihn mit Milchfläschchen füttern. Wenn die Sache vorüber war, sollten sie ihn in den Westen bringen.
Schimanskis Plan klang ganz einfach. Er wollte Ekkehard zur Latrine führen. Von dort aus konnte er über die Mauer klettern und im angrenzenden Park verschwinden. Hirle und ich sollten mit dem Auto im Park warten. Dann war es so weit. Ich erkannte Ekkehard schon am Geräusch seiner Schritte, als er in der Dunkelheit auf uns zukam. Er erschrak, als er sah, dass ich es war, die ihn abholte. In dieser Nacht fürchtete ich mich vor nichts: Ich wollte meinen Mann zurück. Gretes Mann hatte uns einen zivilen Anzug und Mäntel mitgegeben, denn der Volkspolizist musste ja seine Uniform loswerden. Er zog sich um, doch seine Pistole behielt er bei sich. „Keine Angst, ich bringe niemanden um. Aber wenn uns jemand aufhält, schieße ich in die Beine“, sagte er.Die Autofahrt bis zur S-Bahn-Station Hennigsdorf dauerte eineinhalb Stunden. Herr Hirle, unser Fahrer, kehrte um und fuhr nach Wansdorf zurück, wo er eine Autowerkstatt besaß. Er erzählte nicht einmal seiner Frau von seiner mutigen Tat. Die Vopo und der Staatssicherheitsdienst haben niemals herausbekommen, dass er es war, der Ekkehard und Schimanski bei der Flucht geholfen hat. Auch meiner Schwester und ihrem Mann kamen sie nie auf die Schliche.
Ekkehard und Schimanski versteckten sich im Gebüsch. Ich ging zum Bahnsteig, um nachzuschauen, ob Ausweiskontrollen gemacht wurden. Da sah ich die S-Bahn vor meiner Nase abfahren. Noch 20 Minuten bis zur nächsten. Mit einem Schlag war mir bewusst, welches Wagnis wir eingegangen waren. Und was uns bevorstünde, wenn wir hier erwischt würden. Doch dann bemerkte ich, dass die Grenzpolizisten an diesem Abend gar keine Ausweise kontrollierten. Offenbar feierten auch sie den Wahltag.
Schnurstracks ging ich an den Schalter, kaufte drei Fahrkarten, und rannte die Treppen wieder runter zu den Männern. Angespannt warteten wir, bis sich der Bahnsteig füllte. Ich zählte jede Sekunde. Ekkehard und Schimanski mischten sich in eine größere Menschengruppe. Ich legte die Karten am Kontrollhäuschen vor. Dann stiegen wir in den ersten Waggon. Am Bahnsteig patrouillierten zwei Volkspolizisten mit umgehängten Karabinern. Ich lächelte sie an. Dann endlich gingen die Türen zu. Die nächste Station, Heiligensee, lag bereits im Westen.
Nach dem Aussteigen rief Ekkehard die Polizei an.
Schimanski überreichte den Polizisten seine Pistole, und wir fuhren ins Revier. Ich bekam ein leeres Büro zugewiesen, wo ich endlich den Kleinen stillen durfte. Schimanski wurde bis zum anderen Morgen festgehalten und von deutschen und französischen Sicherheitsleuten verhört. Ekkehard blieb die ganze Nacht bei ihm und kam erst am Morgen zu mir. Endlich waren wir wieder vereint, und der stolze Vater konnte sein Baby zum ersten Mal auf den Arm nehmen.
https://www.morgenpost.de/berlin/articl ... reite.html