Henri Weise - In der Spree ertrunken

Henri Weise - In der Spree ertrunken

Beitragvon Interessierter » 2. Februar 2019, 11:51

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Henri Weise; Aufnahmedatum unbekannt (Foto: BStU, Ast. Gera, AOPK 1131/77, Bl. 3)

Erst der herbeigeholten Feuerwehr gelingt es, den Leichnam zu bergen, der zur Obduktion in das Gerichtsmedizinische Institut der Ost-Berliner Charité gebracht wird. [47] Die Leiche ist stark verwest und nur noch mit Stoffresten bekleidet, so dass angenommen wird, dass sie schon seit ca. zwei Monaten im Wasser gelegen hat. Für den Obduzenten ist die Todesursache nicht mehr feststellbar. Er findet jedoch keine Hinweise auf Gewalteinwirkungen. Die Identifizierung der Leiche erfolgt schließlich anhand einer früheren Verletzung am Unterkiefer und des Zahnstatus. [48] Bei dem Toten handelt es sich um Henri Weise.

Henri Weise, am 13. Juli 1954 in Pößneck geboren, wächst als ältester von drei Söhnen bei seinen Eltern, einem Kraftfahrer und einer Verkäuferin, im thüringischen Ranis auf. Offensichtlich verläuft Henri Weises Leben zumindest bis zur Beendigung seiner Berufsausbildung unauffällig und angepasst. In einem Lebenslauf, den er für eine Bewerbung geschrieben hat, hebt er hervor, dass ihm in der Raniser Oberschule die Funktionen des Brigadeleiters, des stellvertretenden Gruppenvorsitzenden und des Verantwortlichen für Sport und Kultur anvertraut wurden. [49] Henri Weise ist Mitglied der FDJ. [50] Als er im September 1971 eine Werkzeugmacherlehre im VEB Carl Zeiss Jena beginnt, wird er Mitglied im FDGB und in der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft". In der „Gesellschaft für Sport und Technik" wird er als politisch nicht organisiertes Mitglied geführt. [51] Im Februar 1974 beendet er die Ausbildung. Ein Jahr zuvor lassen sich seine Eltern scheiden. Der Vater zieht nach Berlin. Henri Weise wohnt bei der Mutter in Ranis. Beschäftigt ist er zunächst als Glas- und Gebäudereiniger, dann als Gesteinsbohrer und Heizungsmonteur. Henri Weises Mutter beschreibt ihren Sohn bei einer späteren Vernehmung durch die Volkspolizei als Einzelgänger, der keine Freunde und keine Freundin hatte. [52]

Im Mai 1976 stellt Henri Weise einen ersten Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Er gibt an, dass er kein Interesse hat, für die DDR zu arbeiten, da die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht beseitigt worden" sei. [53]

Wenige Monate später unternimmt Henri Weise eine Reise nach Wittenberge. Da er sich dort am grenznahen Elbdeich aufhält, wird er am Abend des 15. August 1976 wegen „Verdacht des versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts" festgenommen. [54] Noch während der Haftzeit schreibt er an den DDR-Staatsrat, verlangt die Aberkennung seiner DDR-Staatsbürgerschaft und legt gegen seine Inhaftierung Beschwerde ein.

Gleichzeitig informiert er die Ständige Vertretung über seine Haft und seine Ausreiseabsichten und bittet zudem um politisches Asyl in der Bundesrepublik. [55] Bei der Vernehmung in der Untersuchungshaftanstalt Perleberg bestreitet Henri Weise jegliche Fluchtabsichten, so dass er tatsächlich am 19. Oktober 1976 aus der Untersuchungshaftanstalt Rudolstadt, in die er mittlerweile verlegt wurde, entlassen wird. [56] Gleichzeitig wird ihm die Ablehnung seines Ausreiseantrages übermittelt. Henri Weise stellt nochmals einen Ausreiseantrag, der im November 1976 endgültig abgelehnt wird. [57]

Der 22-Jährige sucht nun auch nach anderen Möglichkeiten die DDR zu verlassen. Ende Oktober 1976 fragt er bei einer Tanzveranstaltung in seinem Heimatort einen polnischen Staatsbürger, ob dieser ihm in Polen einen Pass besorgen könne. Statt eines Passes erhält Henri Weise eine Anzeige wegen des „Verdachts der Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt" [58], da der polnische Staatsbürger sogleich der Raniser Volkspolizei von dem Vorfall berichtet. Bei der darauffolgenden Vernehmung findet die Volkspolizei bei Henri Weise einen abgelaufenen und auf einen anderen Namen ausgestellten Passierschein zum vorübergehenden Aufenthalt im Grenzgebiet, den er von einer zufälligen Bekanntschaft, einem Kraftfahrer, erhalten hatte. [59] Auch diesmal bestreitet er erfolgreich, Fluchtabsichten zu haben. Es wird kein Haftbefehl gegen ihn beantragt. [60]

Mitte Januar 1977 wird Henri Weise erneut in der Abteilung Inneres des Kreises Pößneck vorstellig. Er beschwert sich, dass er aufgrund einer Anweisung des Rates des Kreises seine bisherige Arbeit als Heizungsmonteur nicht mehr verrichten dürfe und stattdessen Hilfsarbeiten ausführen müsse. Die Repressalien, denen er ausgesetzt sei, würden im Widerspruch zur UN-Charta der Menschenrechte und zur Verfassung der DDR stehen. Er droht, sein Anliegen und die Art und Weise, wie er durch den Staat behandelt wird, in der westdeutschen Presse veröffentlichen zu lassen, wenn sein Antrag auf Ausreise nicht genehmigt würde.

[61] Bei einer anschließenden Befragung durch die Kriminalpolizei in Pößneck betont er seine Absicht, am folgenden Tag nach Berlin zu reisen, um dort bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik eine Kopie der Beschwerde zu seinem abgelehnten Ausreiseantrag abzugeben. In diesem Zusammenhang erwähnt er, bereits Ende 1976 dort gewesen zu sein und ein mehrstündiges Gespräch geführt zu haben. [62]

Spätestens seit Januar 1977 steht Henri Weise im Rahmen einer „Operativen Personenkontrolle" unter verschärfter Beobachtung des MfS. Die auf ihn angesetzten Stasi-Spitzel finden schnell heraus, dass er fortwährend gegen die Politik und die Regierung der DDR Stellung bezieht. Aufgrund seines Auftretens und seiner Aktivitäten steht er nach Ansicht des MfS unter Verdacht, die DDR „ungesetzlich" verlassen zu wollen. Ziel der operativen Beobachtung ist es, ihm eine Verletzung des § 213 StGB („ungesetzlicher Grenzübertritt") nachzuweisen. [63] Auch sein Besuch in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin am 21. Januar 1977 wird registriert und ausgewertet. [64] Einem Arbeitskollegen, der zugleich als Stasi-IM tätig ist, erzählt Henri Weise, dass er dort nicht vorgelassen wurde und unverrichteter Dinge wieder gehen musste. [65]

Im März 1977 spricht Henri Weise ein letztes Mal bei der Abteilung Inneres in Pößneck vor. Er wird darauf hingewiesen, dass sein Antrag endgültig abgelehnt worden sei. Henri Weise besteht auf einer schriftlichen Ablehnung. Er macht deutlich, dass dieses Vorgehen vor der Belgrader KSZE-Folgekonferenz im Oktober 1977 verantwortet werden müsse. [66] Doch auch diesmal bleibt sein Besuch beim Rat des Kreises erfolglos.

Am 17. Mai 1977 fährt Henri Weise nach Berlin, um seinen Vater zu besuchen. Nach einigen Stunden verlässt er die Wohnung mit dem Hinweis, dass er in einer halben Stunde zurück sei. Wohin er dann geht und was er tut, liegt im Dunkeln. Vermutlich versucht Henri Weise durch die Spree nach West-Berlin zu gelangen und kommt dabei um. [67]

Sein Verschwinden bleibt nicht unbemerkt. Noch vor dem grausigen Fund in der Wassersperre des Grenzübergangs wird Henri Weises Mutter Anfang Juni von der Volkspolizei in Pößneck nach seinem Verbleib befragt. Sie gibt an, dass sie sich große Sorgen mache, es aber keine Hinweise gäbe, die einen Fluchtverdacht begründeten. Ihre Befürchtungen werden zur Gewissheit, als ihr der Totenschein ihres Sohnes zugeschickt wird. Ihr Wunsch, den toten Sohn noch einmal sehen zu dürfen, wird nicht erfüllt.

Am 1. September 1977 wird der Leichnam von Henri Weise in Berlin eingeäschert. Die Urne wird wenig später nach Ranis überführt, wo seitdem ein Urnengrab für ihn existiert.

http://www.chronik-der-mauer.de/todesop ... e&i=176519
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Re: Henri Weise - In der Spree ertrunken

Beitragvon Interessierter » 2. Februar 2019, 11:59

Schreiben von Henri Weise an den Staatsrat der DDR
(Abschrift), 22. September 1976
Betrifft: Aberkennung der Staatsbürgerrechte der DDR

Hiermit möchte ich meine Gedanken und Meinung zur Aberkennung der Staatsbürgerechte der DDR realisieren. Im Mai 1976 stellte ich beim Rat des Kreises Pößneck Abt. Inneres einen Antrag auf Ausreise in die BRD. Ich habe lange Zeit und unter objektiven Gesichtspunkten geprüft, bevor ich mich zu diesem Antrag entschloß. Ich war mir darüber völlig im klaren, daß ich auf Widerstand innerhalb der Familie und Gesellschaft stoßen werde. Weil mir ein langer, sicherlich auch bürokratischer Bearbeitungsweg bevorstand, wollte ich mich in für mich unbelastender Umgebung darauf vorbereiten.

Ich fuhr deshalb am 15. 08. 76 nach Wittenberge, um mich in fremder Umgebung nach Arbeit zu erkundigen. Nach einer Ausweiskontrolle und der Frage, ob ich einen Antrag auf Ausreise gestellt habe, die ich wahrheitsgemäß beantwortete, nahm man mich fest. Bei der Kriminalpolizei belastete man mich mit frei erfundenen Tatsachen. Daraufhin legte ich sofort gegen meine Inhaftierung Haftbeschwerde ein. Diese wurde vom Bezirksgericht Schwerin wiederum mit frei erfundenen Tatsachen abgelehnt. Ich habe mich am 5. 9. 76 entschlossen, sie in Kenntnis zu setzen. Dieser Eingabe aber versperrte man mit primitivsten Mitteln den Weg.

Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich mit dem heutigen Tag keinen Wert mehr darauf lege, die Staatsbürgerechte eines Staates zu genießen, der meine persönliche Entwicklung frei nach eigenem Ermessen mit politischen Repräsalien beeinflußt.

gez. Henri Weise
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Re: Henri Weise - In der Spree ertrunken

Beitragvon augenzeuge » 2. Februar 2019, 14:17

Dem hat man auch sehr übel mitgespielt. [angst] Bis er nicht mehr wusste, was er tun sollte....schade, er hat einiges falsch gemacht. Aber wer wusste damals schon, was zum Erfolg führt?

AZ
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Re: Henri Weise - In der Spree ertrunken

Beitragvon Dr. 213 » 2. Februar 2019, 14:47

Ist doch unglaublich, wie viele Mitarbeiter der Organe sich mit diesem Mann beschäftigt haben.
Statt einer ehrlichen Arbeit nachzugehen wohlgemerkt, denn das Aushecken vom Gemeinheiten
gegenüber Andersdenkenden unter dem Oberbegriff Zersetztung kann ich nicht als wertvolle Arbeit gelten lassen.

Nutzbringend war sie für das SED- System schon gleich garnicht, nicht mal zur Abschreckung geeignet.
Wenn so Jemand in den Bau kommt, dann erfährt er möglicherweise dort erst richtig von den Möglichkeiten wie
man am besten abhauen kann oder wie man Kontakt zu RA Vogel bekommt.

Das die Leiche schnell unter Ausschluss der Angehörigen beseitigt wurde, ohne ist dann nur noch eine bekannte Episode.

Herzlichst
Dr. 213
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Re: Henri Weise - In der Spree ertrunken

Beitragvon Volker Zottmann » 2. Februar 2019, 17:36

Seinem Ausreisewunsch einfach nachzugeben, kam nicht in Frage.
Mit welchem Recht haben irgendwelche Vasallen schon auf Kreisebene ablehnend Einfluss genommen?
Mit abschlägigen Bescheiden war es aber in der DDR nie getan. Nun mussten Repressionen greifen, bis der "Delinquent" einknickt....

Hätte man ihn ziehen lassen, dafür aber alle Spitzel und Denunzianten mit sinnvoller Arbeit beschäftigt, wäre das Ergebnis besser und der Akte von Helsinki entsprechend ausgefallen.
Der Teil der Staatssicherheit, welcher der Überwachung der eigenen Bevölkerung diente, bestand offenbar nur aus skrupellosen Menschen.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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