Er war Olympiasieger und ranghoher Offizier. Doch eines fehlte Skispringer Hans-Georg Aschenbach: Freiheit. 1988 hielt er es in der grauen Enge der DDR nicht mehr aus und floh in den Westen. Jetzt enthüllt der KURIER, wie die Stasi ihren Vorzeigesportler zurückholen wollte. Notfalls mit einer Entführung.
Ein warmer Augusttag im Sommer 1988. Aschenbach war als Mannschaftsarzt im Schwarzwald bei einem Mattenspringen. „Das Objekt, in dem wir wohnten, wurde von westlichen Stasi-Mitarbeitern bewacht“, erinnert er sich jetzt bei einer Konferenz zur SED-Herrschaft. Dem gebürtigen Thüringer gelang es, seine Schatten abzuschütteln. „Ich setzte mich in das Auto eines wartenden Freundes, und wir rasten davon.“ Die Aufpasser hatten keine Chance, rannten vergeblich hinterher. Fortan waren sie auf Aschenbachs Spur. Deckname: „Versager“.
Nach der Ankunft im Westen musste er wie jeder DDR-Flüchtling ins Notaufnahmelager. „Gießen war eine einzige Katastrophe“, erinnert er sich voller Schrecken. „Sehr spartanische Unterkünfte, die Betten kannte ich von der NVA, sehr wenig Essen, morgens nur ein Brötchen, mittags eine Suppe.“
Zu der Enttäuschung über den vermeintlich „Goldenen Westen“ kam die Angst vor der Stasi. Zu Recht, wie er bei einem Anruf bei seiner Familie in Suhl feststellte. „Plötzlich schaltete sich jemand ein und fing an, auf mich einzureden.“ Er solle sofort zurückkommen. „Es sei besser für mich, meine Frau und die zwei minderjährigen Kinder.“
Dass die Kontaktaufnahme gefährlich – besonders für die Zurückgebliebenen – sei, erklärten ihm zwei Tage später die Herren vom Bundesnachrichtendienst. Bis dahin hatte Aschenbach an der neuen Freiheit keinen Gefallen gefunden. „Ich hatte mich fast schon entschieden wieder zurückzukehren.“ Nun aber gab es zwei Mann ständigen Begleitschutz vom BND und Unterstützung beim Ankommen in der neuen Heimat.
Doch: „Die ganze Zeit war die Stasi ganz eng an mir dran“, beschreibt der 61-Jährige in seiner Biografie „Euer Held. Euer Verräter: Mein Leben für den Leistungssport“ (Mitteldeutscher Verlag, 191 Seiten, 19,95 Euro). Ob im Sport-Internat, natürlich bei Auslandsaufenthalten, später bei der Arbeit als Arzt, alles detailliert beobachtet von Spitzeln auf 2000 Seiten. Die längst nicht alles sind, was in den Akten der Staatssicherheit über Aschenbach zu finden ist. „Ich habe mir nur das Wichtigste rausgeben lassen“, sagt der Olympiasieger (1976) und viermalige Weltmeister.
In Freiburg im Breisgau fing er neu an als Arzt in einer Klinik, praktiziert dort heute in eigener Praxis. Als einer der ersten klagte er das DDR-Doping-System an. „Ich habe selbst gedopt auf Druck der SED-Sport-Funktionäre. Hätte ich die Sexualhormone nicht genommen, wäre es mit der Sport-Karriere aus gewesen.“ Viel mehr Leistung hat es ihm nicht gebracht, dafür sehr viel mehr Potenz, erinnert er sich. Trotzdem: „Als ich als Arzt andere dopen sollte, wollte ich nicht, es wurde aus meinen Flucht-Überlegungen endgültig ein fester Vorsatz.“
Auch ins beschauliche Schwarzwald-Städtchen folgten ihm die West-Mitarbeiter der Stasi. „Ich hatte ständig Angst. Heute weiß ich, dass ich damit recht hatte.“ Sie fotografierten für ihren 15-seitigen Beobachtungsbericht sein Wohnhaus, skizzierten säuberlich die Wohngegend bis hin zur Garage. Dem DDR-Staat verpflichtete Kollegen aus der West-Klinik berichteten genauso wie früher Kollegen im Osten.
Während in der alten Heimat der Haftbefehl gegen Aschenbach wegen „Fahnenflucht im schweren Fall“ ausgestellt wurde. Seine Frau verlor in Suhl ihren leitenden Posten, die Familie wurde sozial isoliert, eine massive „Verräter“-Kampagne in der Presse begonnen. Jutta Braun vom Zentrum Deutsche Sportgeschichte untersuchte die Flucht von 15 Leistungssportlern aus der DDR: „Jede Flucht eines prominenten Sportlers war ein politischer Skandal, den man versuchte zu vertuschen. Gelang dies nicht, wurden die Geflohenen diffamiert.“
Nach Aschenbachs Flucht wurde sogar sein Schwiegervater geschickt, um Aschenbach zur Umkehr zu überreden. „Ich hörte von mehreren Stellen, dass er sich nach mir erkundigte, mich aber nicht fand.“ Höhepunkt der Stasi-Versuche, des Entflohenen habhaft zu werden: ein Treffen mit einem alten Freund aus Ost-Zeiten im Herbst 1988. „Er rief mich an, wir verabredeten uns in einer Raststätte an der Autobahn.“ Dort angekommen wurde Aschenbach immer misstrauischer. „Ich trank das Wasser nicht, das auf dem Tisch stand, brach das Gespräch sehr bald ab.“
Wie sich jetzt bei der Studie seiner Akte herausstellte, zu Recht. Ein Anschlag oder eine Entführung in die DDR war geplant. „Der ich gerade noch entkommen konnte“.
AZ