Endstation Freiheit
Lokführer Harry Deterling wohnt mit seiner Frau Ingrid und den Kindern Manfred, Hans-Joachim, Dirk und Ronald in Oranienburg bei Berlin. Im Jahr 1961 erhält er ein monatliches Einkommen von 481 Mark. Damit lässt es sich in der DDR einigermaßen leben. Die Frau ist zu Hause und kümmert sich um die Kinder.
Am 13. August 1961 hören sie in den Nachrichten vom Mauerbau. Schon am Abend desselben Tages sagt er seiner Frau: »Ich will nicht eingesperrt sein. Und unsere Kinder sollen sich frei entwickeln können. Lass uns fliehen.«
Wie aber kann er mit Frau und vier Kindern im Alter zwischen einem und sieben Jahren in den Westen fliehen? Er sieht für sich und seine Familie zunächst keine Möglichkeit, die Sperranlagen zu überwinden.
Wenige Tage später sollen alle Arbeiter und Angestellten im Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf per Unterschrift ihre »Zustimmung zu den Maßnahmen des 13. August« erklären. Von den rund 1000 Mitarbeitern unterschreiben die meisten. Lokführer Deterling ist fassungslos, wie seine Kollegen den Buckel krümmen und auch noch beurkunden, dass sie es begrüßen, nun hinter Stacheldraht leben zu müssen.
Nur knapp 200 Mitarbeiter weigern sich, darunter auch Deterling. Im Oktober 1961 unterwerfen sich dann die wenigen noch standhaften Kollegen. Harry Deterling ist der Letzte, der nicht unterschreibt.
Der Lokführer wird zum Parteisekretär zitiert. Dieser verlangt die sofortige Unterschrift und droht mit Konsequenzen. Doch Deterling bleibt standhaft:
»Ich habe einen Bruder in Düsseldorf. Wenn du mir garantierst, dass ich ihn einmal im Jahr besuchen darf, dann unterschreibe ich.« Deterling verlässt das Büro im aufrechten Gang.
Zur selben Zeit wird sein Heizer Hartmut Lichy bedrängt, sich für den Dienst an der Waffe bei der Kasernierten Volkspolizei (KVP) zu verpflichten. Er bittet seinen Chef um Rat. Deterling sagt: »In der Verfassung steht, dass niemand zum Dienst an der Waffe gezwungen werden darf.«
Beim nächsten Musterungsgespräch zitiert der Heizer seinen Lokführer. Der KVP-Offizier will wissen:
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Mein Lokführer, der weiß alles.«
Anfang November 1961 erscheinen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes im Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf:
»Herr Deterling, wie kommen Sie dazu, den Heizer Lichy von der Pflicht zur Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik abzuhalten?«
Lokführer Deterling erinnert daran, dass er als Schulkind den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges erleben musste. Er unterstreicht seine pazifistische Haltung. Die Stasi-Männer verabschieden sich von ihm mit den Worten:
»Sie hören von uns.«
Mitte November muss sich Harry Deterling beim Parteisekretär seines Betriebes melden. Der sagt:
»Harry, ich muss dir leider mitteilen, dass du ab Januar 1962 nicht mehr auf der Lok fahren darfst. Auch musst du unseren Betrieb verlassen, leider. Zwecks Umerziehung wirst du zum Ziegelwerk Zehdenick versetzt. Dein Verdienst beträgt dann eine Mark pro Tag.«
»Und wie soll ich damit eine Familie mit vier Kindern satt machen?« fragt Deterling fassungslos.
»Das«, so der Parteisekretär, »hättest du dir früher überlegen müssen.«
Für Lokführer Deterling ist das Maß voll bis zum Überlaufen. Er muss, will er nicht die letzte Chance verpassen, schnellstmöglich handeln. Am 28. November fährt er gemäß Dienstplan mit seiner Dampflok im S-Bahn-Ersatzverkehr von Oranienburg nach Potsdam und zurück.
Am 13. August wurden die ehemals durch Westberlin führenden S-Bahn-Strecken gekappt. Fahrgäste, die nun zum Beispiel von Berlin-Mitte nach Potsdam wollen, müssen im weiten Bogen um die Westsektoren herumgefahren werden. Dort haben die Gleise aber keine Stromschienen. Darum werden im S-Bahn-Ersatzverkehr normale Personenzüge mit vorgespannten Dampfloks eingesetzt.
An jenem 28. November hat Lokfüher Deterling auf der Rückreise gegen 17 Uhr in Nauen einen Aufenthalt von 20 Minuten. Dort wird die S-Bahn-Strecke vom Interzonenzug Hamburg–Berlin gekreuzt. Während des Aufenthaltes erfährt Deterling von der Zugführerin einer anderen S-Bahn:
»Demnächst machen sie auch noch die Strecke Hamburg–Berlin zu.«
»Aber der Interzonenverkehr muss doch weiterrollen?«
»Ich meine ja nur die Strecke von Nauen über Falkensee und den Grenzbahnhof Albrechtshof nach Spandau.«
»Und wo soll der Hamburger dann entlangfahren?«
»Der ganze Interzonenverkehr Hamburg–Berlin soll künftig über den Bahnkorridor Griebnitzsee/Wannsee bei Potsdam rollen.«
Lokführer Deterling wird hellhörig und geht ins Stellwerk.
»Stimmt es, dass die Strecke von Nauen über Falkensee und Albrechtshof nach Spandau gekappt werden soll?« fragt er einen Eisenbahner.
»Die Grenze is anjeblich nich dicht jenuch. Da jibt det keene Gleissperren. Für vier Interzonenzüge am Tag lohnt sich dat wohl nich, den Scheiß einzubaun. Am 10. Dezember is Sense. Dann reißen se de Schienen raus.«
Deterling will schon gehen, da sagt der Mann im Stellwerk leise:
»Wenn ick Lokführer wäre, wüsste ick, was ick mache …«
Wieder auf der Lok, sagt Harry Deterling zu seinem Heizer Hartmut Lichy:
»Ich haue ab. Mit Familie. Mit dem Zug. Zur Endstation Freiheit.«
»Wenn du deine vier Gören mitnimmst, dann ist dat wohl sicher. Ick komm’ mit.«
Am Abend feiert Familie Deterling den siebten Geburtstag des Sohnes Manfred. Anwesend sind Harrys Mutter sowie die Schwester, der Bruder und die Schwägerin seiner Frau. Zu fortgeschrittener Stunde wird heftig politisiert. Die Anwesenden lassen ihrer Wut über den Mauerbau freien Lauf.
Plötzlich offenbart Harry: »Wir hauen ab.« Richtig glauben will es ihm aber zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
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