Fluchtversuch mit Moskau-Paris-Express

Fluchtversuch mit Moskau-Paris-Express

Beitragvon zonenhasser » 12. November 2018, 12:00

Ich habe über diesen spektakulären Fluchtversuch hier nichts gefunden und wurde im "Donaukurier" vom 08.11.2018 daran erinnert.

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Der frühere Stasi-Häftling Karl-Heinz Richter unternahm mit seinen zahlreichen Zuhörern eine spannende Zeitreise von den Anfängen der DDR bis in die Gegenwart. Die Initiative dazu ging von Gemeinderätin Birgid Neumayr aus, die Richter ins Manchinger Bürgerhaus holte. Kennengelernt hatten sie sich zu Beginn dieses Jahres, als einige Gemeinderäte an einer Führung durch das frühere Stasi-Gefängnis und jetzige Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen teilnahmen, wo Richter Führungen anbietet.

"In Berlin bin ich ein bekannter Pöbler", bekannte der Autor, Publizist und Referent für politische Bildung, eingangs seines sehr bewegenden und tiefgründigen Vortrags. Aber in Bayern halte er sich zurück. Doch angesichts der politischen Lage und der jüngsten Wahlergebnisse fühle sich seine 94-jährige Mutter an das Ende der Weimarer Republik erinnert. "Es heißt nicht umsonst: Wehret den Anfängen", warnte der nach eigenem Bekunden "leidenschaftliche Europäer und Demokrat".

Der Sohn von überzeugten Kommunisten hat früh erfahren, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. Die Probleme begannen, als er nicht der FDJ beitrat, der einzigen Jugendorganisation der DDR. Seine kritische Haltung gegenüber dem Regime nahm immer mehr zu, und ohne Abitur oder irgendeine Perspektive stand spätestens nach dem Tod von Peter Fechter Richters Entschluss fest: "Hier will ich nicht mehr leben. " Der 18-jährige Fechter war nach dem Bau der Mauer bei einem Fluchtversuch verblutet, nachdem er, von mehreren Kugeln der DDR-Grenzer getroffen, eine Stunde lang schreiend im Todesstreifen gelegen hatte.

Ein erster Fluchtversuch über einen Friedhof an der Berliner Mauer misslang. Doch dann entdeckte Richter eine Möglichkeit, aus einer Dachluke auf den fahrenden Nachtexpress Moskau-Paris zu springen und so aus der DDR zu entkommen. 17 Freunden verhalf er zur Flucht in den Westen - nur sein eigener Versuch im Jahr 1964 scheiterte, weil er verraten worden war. Dabei brach er sich nach einem Sprung von einer hohen Mauer etliche Knochen - aber behandelt wurde er anfangs nicht. "Die wollten ein Exempel an mir statuieren", hat Richter durch das Studium seiner Stasi-Akten erfahren - immerhin 3500 Seiten. Später kam er dann doch in ein Krankenhaus, wo er in 18 Monaten 15 mal operiert wurde. Dort habe er etliche "mutige Menschen" kennengelernt und einigen von denen später zur Flucht verholfen.

Denn Richter konnte 1975 mit seiner Familie aus der DDR ausreisen, nachdem er ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen hatte. In West-Berlin war er als Fluchthelfer tätig, später lebte die Familie Jahre im Ausland, wo ihn die Stasi mehrmals vergeblich entführen wollte.

Die Rückkehr nach Berlin sollte der Familie jedoch kein Glück bringen. Seine Frau, von der Staatssicherheit ebenfalls heftig misshandelt, ist seit Jahren psychisch schwer erkrankt, seine Tochter hat sich von ihm gelöst. "Das ist auch der Grund, warum ich diese Vorträge halte", sagt Richter, der sich auch für Flüchtlinge einsetzt. Doch der 72-Jährige mit seiner unglaublichen Biografie ist auch in Sorge um die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland. "Passt bloß auf unseren Laden auf", rief er den Zuhörern und speziell den Gemeinderäten aller Fraktionen zu, die neben Bürgermeister Herbert Nerb gekommen waren. Doch seien nicht nur die Parteien in der Verantwortung, auch die Zivilgesellschaft sei gefordert, Courage zu zeigen. "Lasst es nicht so weit kommen, dass die Demokratie versagt! "

Bernhard Pehl


Siehe auch Zeitzeugen bei Stiftung HSH





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Re: Fluchtversuch mit Moskau-Paris-Express

Beitragvon augenzeuge » 13. November 2018, 19:53

Der Sohn von überzeugten Kommunisten hat früh erfahren, was es heißt, in einer Diktatur zu leben.


Also wenn die Eltern ihm nicht die Vorzüge vermitteln konnten, wer dann?
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Re: Fluchtversuch mit Moskau-Paris-Express

Beitragvon Volker Zottmann » 13. November 2018, 21:37

Mir ist er sympathisch,
vielleicht weil er sich sehr früh angewöhnt hat selbst zu denken.
Mein Schwager ist 1953 mit 17 Jahren in den Westen, heißt ebenso Karl-Heinz Richter. Und sein Vater war auch Kommunist, einst Bürgermeister in Köthen.
Er war es allerdings auch, der Vater, der seiner Tochter und mir abriet, noch in die SED einzutreten. Er war bereits Invalidenrentner und hatte sehr genau analysiert, dass diese SED niemals mehr seine heren Ziele und auch nicht die seiner Mitstreiter verfolgte.
Er erkannte bereits 1974, dass wir genötigt werden. Ich hätte auf ihn hören sollen.... Ich weiß nun aber auch nicht, wie unser Leben dann ohne die erstrebten Planstellen verlaufen wäre. Wäre ich je Selbständiger in der DDR geworden? Vielleicht war meine Entscheidung damals doch die momentan richtige?!

Gruß Volker

PS: Es waren nur mal so meine Gedanken außerhalb des Threads.
Bitte antwortet nicht, die Abfälligkeiten von zweien kann man schon öfter diesbezüglich lesen. [mundzu]
Volker Zottmann
 

Re: Fluchtversuch mit Moskau-Paris-Express

Beitragvon zonenhasser » 14. November 2018, 10:41

augenzeuge hat geschrieben:
Der Sohn von überzeugten Kommunisten hat früh erfahren, was es heißt, in einer Diktatur zu leben.

Also wenn die Eltern ihm nicht die Vorzüge vermitteln konnten, wer dann?
Gerade überzeugte Kommunisten hatten oft einen Tunnelblick: Wir müssen jetzt da durch - doch am Ende wird das Paradies stehen.
Die “Rote Fahne” schrieb noch “wir werden siegen”, da hatte ich mein Geld schon in der Schweiz.
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