Die Flucht der Familie Leutke

Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Interessierter » 18. September 2018, 09:13

„Oh ja, Mama, Lastauto fahren“, begeisterte sich der zweijährige Junge. Er kauerte mit seinen Eltern im Dickicht. Ihre schwarzgemalten Gesichter verschmolzen mit der dunklen Nacht. Die nächsten Stunden würden über die Zukunft von Martin Leutke und seinen Eltern entscheiden – die Flucht aus der ihnen unerträglich gewordenen DDR stand bevor.

Generationenübergreifende Schikanen

Auf dem Weg zum Kommunismus propagierte die DDR-Staatsführung ein atheistisches Weltbild. Kirchen galten als Zentren des Widerstandes. Martins Großvater stellte als Pfarrer aus Sicht der DDR-Führung einen ideologischen Gegner dar. Stasi-Mitarbeiter protokollierten akribisch den Wortlaut seiner Predigten. Schikane auch bei Martins Vater, dem Pfarrerssohn, ihm blieb das Abitur verwehrt. So absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger und legte seine Reifeprüfung auf der Abendschule ab. Das anschließende Studium durfte er erst nach enormen Verzögerungen antreten.

Mit Martins Geburt im Jahr 1974 bekamen die Eltern ihre Arbeitsstellen und eine Plattenbauwohnung in Schwedt an der Oder zugewiesen. Schlimmer noch als die Wohnung im grauen Einheitsbau waren die Giftschwaden, die von der dort ansässigen PCK-Raffinerie, dem wichtigsten Kraftstofflieferanten der DDR, über die Lande zogen. Das wenige Wochen alte Baby reagierte mit nicht in den Griff zu bekommenden Krankheiten. Neben all der Bevormundung war das Leben nun auch gesundheitlich nicht mehr erträglich.

Konspirative Begegnungen

Die Mutter hatte einen Cousin in Bonn, er stellte den Kontakt zu einer Fluchthilfeorganisation her. Alles lief über eine Kette von Mittelsmännern, Namen wurden nie ausgetauscht. Auf beiden Seiten war man extrem vorsichtig. Das DDR-Regime arbeitete konzentriert an der Infiltration und Zerschlagung derartiger Organisationen und bei Verhören war die Stasi nicht zimperlich. In den folgenden eineinhalb Jahren baute man während konspirativer Treffen gegenseitiges Vertrauen auf. „Wie in einem schlechten Film gab es Erkennungszeichen – mal eine gelbe Krawatte, mal eine unter den Arm geklemmte Zeitung“, weiß Leutke aus Erzählungen seiner Eltern.

Am 22. August 1976 schließlich überbrachte eine Mittelsfrau im Ostberliner Café „Unter den Linden“ die Nachricht, die Familie solle sich in der übernächsten Nacht an einem bestimmten Kilometerstein im Unterholz an der von der Stasi überwachten Transitstrecke Nürnberg-Berlin verstecken. Zwischen Mitternacht und ein Uhr käme ein Lieferwagen. Nach einem vereinbarten Erkennungsdialog wäre allen Anweisungen unbedingt Folge zu leisten. „Die kurze Vorlaufzeit überraschte meine Eltern“, erzählt Leutke, „aber sie waren vorbereitet und hatten zu diesem Zeitpunkt längst über Monate hinweg alle persönliche Gegenstände aus ihrer Schwedter Wohnung entfernt.“ Während vieler Besuche bei Angehörigen und Freunden versteckten sie unbemerkt Fotos, Briefe, handschriftliche Notizen und Urkunden in deren Kellerräumen. Nach der Flucht würde die Stasi ihre Wohnung durchsuchen und alles beschlagnahmen. Weder verbliebene Kleidungsstücke noch andere Gegenstände sollten Hinweise auf einen Westkontakt geben.

Durch die Nacht in die Zukunft

In stockdunkler Nacht setzte der Vater Frau und Kind im Unterholz ab, versteckte den Wagen in sicherem Abstand auf einem Waldweg. Dann stolperte er durch die Finsternis, hatte Schwierigkeiten, seine Familie zu finden. Erst nach Mitternacht entdeckte er sie. Kurz vor ein Uhr stoppte ein Lieferwagen auf dem Seitenstreifen. Männer stiegen aus, ein schneller Wortwechsel und dann saß die Familie im komplett mit Styropor ausgekleideten Laderaum. Die Isolierung sollte die Wärmesensoren an der Grenzstation überlisten. Ladeflächen wurden im Transitverkehr verplombt. Waren sie bei Ausreise intakt, konnten Transportfahrzeuge ohne weitere Kontrolle in den Westen passieren. Unbekannt ist bis heute, ob es einen zweiten Türmechanismus gab. Martins anfängliche Begeisterung über das „Lastauto“ wich einem unsicheren Schluchzen, „Hause fahrn“, flüsterte er.

Als der Wagen nach einiger Zeit anhielt, vernahmen die Eltern die Stimmen der Grenzer. Sie gingen um den Wagen, rüttelten an den Türen. Schon ein leises Wimmern hätte sie verraten. Martin aber war glücklicherweise bereits eingeschlafen. Der Wagen rollte wieder an – sie passierten nach West-Berlin. Die Flucht barg ein enormes Risiko. Wäre sie nicht geglückt, hätte die Stasi Leutkes Eltern inhaftiert. Um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden, hatte das Paar etwaige Aussagen festgelegt und ein mögliches Verhör immer wieder durchgespielt. Martin wäre zu seinen Großeltern oder in ein Pflegeheim gekommen, eine Zwangsadoption wäre aber auch möglich gewesen. „Das System war meinen Eltern unerträglich, insbesondere die permanente Gängelung durch den Staat, was Beruf, Freiheit, Erziehung oder Information anging“, sagt Leutke. „Sie waren wahnsinnig mutig und couragiert, aber nicht naiv. Ihre Vorbereitung war bis ins letzte Detail hochprofessionell. Letztlich haben sie mir ein Leben ermöglicht, das ich sonst so nicht gehabt hätte. Sie haben die beste Entscheidung ihres Lebens getroffen.“

https://sensor-magazin.de/go-west-25-jahre-mauerfall/
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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Grenzwolf62 » 18. September 2018, 09:40

Ich wohnte in einem Dorf an einer Transitautobahn, da hättest du jeden Abend im Wald sitzen können ohne dir das Gesicht schwarz anzumalen.
Mit so einem schwarzen Gesicht wärst du eventuell maximal dem Förster aufgefallen, ohne nicht.
Ich glaube je länger die DDR verstorben ist, um so mehr werden gruselige Räuberpistolen für die Wessis und jungen Leuten, die beide die tatsächliche DDR nicht kennen können, erzählt.
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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon augenzeuge » 18. September 2018, 09:59

Grenzwolf, ich verstehe nicht, was du auszusetzen hast. Die Geschichte ist absolut real. So liefen in den 70er Jahren viele Fluchten.
AZ
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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Grenzwolf62 » 18. September 2018, 10:02

augenzeuge hat geschrieben:Grenzwolf, ich verstehe nicht, was du auszusetzen hast. Die Geschichte ist absolut real. So liefen in den 70er Jahren viele Fluchten.
AZ


Theoretisch ja.
Aber ein wenig Pepp, wie mit den schwarzen Gesichtern, muss schon rein.
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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Nostalgiker » 18. September 2018, 11:17

Die zweite Geschichte ist noch einen Zacken schärfer ......

Ja, ja in der Provinz mußten die Schüler alle Schüler das FDJ-Hemd tragen! Und überhaupt, wie gelang der bekennenden Christin und Widerständlerin überhaupt einen der raren EOS Plätze zu ergattern?

Maßlose Übertreibung muß wahrscheinlich sein damit sich die heutigen Jugendlichen so richtig vor dem Terror Land DDR fürchten.
Sie sollen sich nicht vor dem Land fürchten sondern vor Linken Ideen einer gerechten Welt, der Umverteilung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Befreiung aus dem Würgegriff internationaler Konzerne ......
Es könnte schrecklich werden ......., so wie in der DDR oder sogar noch schlimmer!
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Grenzwolf62 » 18. September 2018, 11:24

Hätte man mich mit meiner kleinen Familie in so eine fürchterliche Plattenwohnung zwangseingewießen, ich wäre vor Freude glatt in die Partei eingetreten.
Aber so, Freitags ran an die Zinkwanne und nicht verzagen.
[wink]
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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Nostalgiker » 18. September 2018, 12:17

Das ist jetzt echt Schade das es nicht passierte; also das mit "Zwangseinweisung" und dem spontanen Eintritt in die SED.
Dann gäbe es bestimmt einige lustige Schnurren mehr aus der Kategorie; Ich und meine SED Mitgliedsschaft ......
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Volker Zottmann » 18. September 2018, 12:52

Grenzwolf62 hat geschrieben:Hätte man mich mit meiner kleinen Familie in so eine fürchterliche Plattenwohnung zwangseingewießen, ich wäre vor Freude glatt in die Partei eingetreten.
Aber so, Freitags ran an die Zinkwanne und nicht verzagen.
[wink]

Quedlinburger aus total marodem, vergammelndem Fachwerk, waren auch glücklich, wenn sie endlich eine Neubau- oder Plattenwohnung erhielten. Das ist unbestreitbar.
Anerkennen muss man aber auch, dass trotz der Toilette und des (erstmaligen) Komforts nicht jeder darin gerne wohnen wollte. Meine Eltern wohnen seit 1974 in der Platte und sind glücklich. Mich hingegen würden keine 10 Pferde in diese Wohnungen bekommen. Individualität ist manchem einfach soviel wert, andere Aussagen zu treffen.
Und dass es in Schwedt fast so gestunken hat wie in Bitterfeld, ist kaum bestreitbar.
Somit sind also auch die Aussagen der Flüchtlinge nicht von der Hand zu weisen.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Nostalgiker » 18. September 2018, 13:10

Du kennst Schwedt aus eigenem Erleben Volker Zottmann?
Hast gar längere Zeit dort verweilt?

Ja wer mit dem Wind fliegt ist auch auf anderen Gebieten eine Koryphäe ........
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

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Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Volker Zottmann » 18. September 2018, 13:19

Nostalgiker hat geschrieben:Du kennst Schwedt aus eigenem Erleben Volker Zottmann?
Hast gar längere Zeit dort verweilt?

Ja wer mit dem Wind fliegt ist auch auf anderen Gebieten eine Koryphäe ........


Brauchte ich bis heute noch nicht hin, doch ist eine Schulfreundin mit ihren Eltern dorthin gezogen. Haben Ende der 60er im Papierwerk gearbeitet. Sie hat öfter berichtet, wie gut die Luft ist...
Mit Wind flog ich noch nie, immer nur mit einer rennomierten Airline!
Und zu Mundarten fällt mir auch was ein:
In manchen Gegenden spricht man gesittet vom Anus. Bei uns im Harz war es immer das Arschloch. Hoffentlich verstehst Du mich!

Volker
Volker Zottmann
 

Re: Die Flucht der Familie Leutke

Beitragvon Interessierter » 18. September 2018, 15:27

Das Thema ist aber die Flucht der Familie Leutke. Es wäre sehr freundlich, zum Thema zurückzufinden.
Interessierter
 


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