Mit 24 Jahren beschließt Mario Wächtler, die DDR zu verlassen. Im September 1989 setzt er alles auf eine Karte. Er schleicht bei Boltenhagen ins Meer und schwimmt Richtung Westen nach Schleswig-Holstein. Er ist der letzte DDR-Flüchtling, der über die Ostsee entkommt.
Anfang September, die ganze DDR starrt nach Süden, die einen voller Angst, die anderen hoffnungsfroh. Die Botschaften sind voll in Prag und Warschau, in hellen Scharen strömt das Volk in Ungarn über die längst halboffiziell offene Grenze nach Österreich. Wie lange noch? Furcht, dass bald alles dicht ist. Niemand weiß etwas, viele ahnen, bangen, überlegen in diesen letzten Sommertagen des Jahres 1989.
Was tun? Mario Wächtler hat seine Entscheidung getroffen. Er ist auf dem Weg nach Norden an diesem ersten Samstag im September. Am Steuer des Trabant sitzt sein Bruder, auf der Rückbank dessen Freundin. Die drei sind dabei, eine Straftat zu begehen, zumindest soweit es die DDR-Behörden betrifft: Mario Wächtler, 24 Jahre alt, ausgebildeter Kfz-Mechaniker und als solcher ein Gutverdiener in der DDR-Mangelwirtschaft, ist unterwegs, um Schluss zu machen mit dem Leben in der Arbeiter- und Bauernrepublik, das er als langweilig, gleichförmig und vorausbestimmt empfindet.
„Ich musste einfach was verändern“, sagt er heute, „es gab ja keine Perspektive, keine Zukunft.“ Mario Wächtler ist ausgebildeter Rettungsschwimmer, er glaubt, dass er es schaffen kann, von Boltenhagen im Westen der DDR-Ostseeküste bis hinüber nach Grömitz zu schwimmen.
Mario Wächtler: Erster Fluchtversuch mit 15 Jahren
Mit 15 Jahren hat er schon einmal versucht, einfach mit dem Zug Richtung Westen. Natürlich wird er erwischt, er sitzt eine Nacht in Gotha im Gefängnis, kommt dann für eine Woche in ein Kinderheim. Es folgt eine Anklage wegen versuchter Republikflucht, aber die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Glück gehabt, aber diese Art von Glück löscht die Sehnsucht nicht aus, die Wächtler in die Freiheit zieht. Immer wenn er im Sommer auf dem Campingplatz in Rerik ist, sitzt er abends stundenlang ganz oben auf der Steilküste und schaut den Schiffen aus Travemünde nach, die nach Malmö und Helsinki fahren. Orte, die er erst in vierzig Jahren wird sehen dürfen, wenn es nach den DDR-Behörden geht.
Mario Wächtler spürt seine Zeit davonlaufen. „War es das jetzt“, fragt er sich dann. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem er es nicht mehr aushält. „Du wirst immer älter“, kritisiert sich Wächtler im Stillen selbst, „es wird immer schwerer, also mach es jetzt.“
In der Talsperre Pöl im Vogtland trainiert er Langstreckenschwimmen. Während der Sommerferien erkundet er mögliche Startstellen für seinen Marathon in die Freiheit. Die Wohlenberger Wiek, eine Bucht etwas südlich und östlich von Boltenhagen, scheint ihm geeignet. Zwar ist der Weg von hier bis drüben weiter, doch der Strand liegt im Dunkeln, die Scheinwerfer der Grenzsicherungseinheiten reichen nicht bis hierher, so dass er ungestört wird starten können.
Mario Wächtler Jahre nach seiner Flucht mit seinem Retter, Kapitän Gerhard Haucke von der Ostsee-Fähre „Peter Pan“
Foto: Andreas Stedtler
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