Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Interessierter » 18. Juli 2018, 10:05

Mit 24 Jahren beschließt Mario Wächtler, die DDR zu verlassen. Im September 1989 setzt er alles auf eine Karte. Er schleicht bei Boltenhagen ins Meer und schwimmt Richtung Westen nach Schleswig-Holstein. Er ist der letzte DDR-Flüchtling, der über die Ostsee entkommt.

Anfang September, die ganze DDR starrt nach Süden, die einen voller Angst, die anderen hoffnungsfroh. Die Botschaften sind voll in Prag und Warschau, in hellen Scharen strömt das Volk in Ungarn über die längst halboffiziell offene Grenze nach Österreich. Wie lange noch? Furcht, dass bald alles dicht ist. Niemand weiß etwas, viele ahnen, bangen, überlegen in diesen letzten Sommertagen des Jahres 1989.

Was tun? Mario Wächtler hat seine Entscheidung getroffen. Er ist auf dem Weg nach Norden an diesem ersten Samstag im September. Am Steuer des Trabant sitzt sein Bruder, auf der Rückbank dessen Freundin. Die drei sind dabei, eine Straftat zu begehen, zumindest soweit es die DDR-Behörden betrifft: Mario Wächtler, 24 Jahre alt, ausgebildeter Kfz-Mechaniker und als solcher ein Gutverdiener in der DDR-Mangelwirtschaft, ist unterwegs, um Schluss zu machen mit dem Leben in der Arbeiter- und Bauernrepublik, das er als langweilig, gleichförmig und vorausbestimmt empfindet.

„Ich musste einfach was verändern“, sagt er heute, „es gab ja keine Perspektive, keine Zukunft.“ Mario Wächtler ist ausgebildeter Rettungsschwimmer, er glaubt, dass er es schaffen kann, von Boltenhagen im Westen der DDR-Ostseeküste bis hinüber nach Grömitz zu schwimmen.

Mario Wächtler: Erster Fluchtversuch mit 15 Jahren

Mit 15 Jahren hat er schon einmal versucht, einfach mit dem Zug Richtung Westen. Natürlich wird er erwischt, er sitzt eine Nacht in Gotha im Gefängnis, kommt dann für eine Woche in ein Kinderheim. Es folgt eine Anklage wegen versuchter Republikflucht, aber die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.

Glück gehabt, aber diese Art von Glück löscht die Sehnsucht nicht aus, die Wächtler in die Freiheit zieht. Immer wenn er im Sommer auf dem Campingplatz in Rerik ist, sitzt er abends stundenlang ganz oben auf der Steilküste und schaut den Schiffen aus Travemünde nach, die nach Malmö und Helsinki fahren. Orte, die er erst in vierzig Jahren wird sehen dürfen, wenn es nach den DDR-Behörden geht.

Mario Wächtler spürt seine Zeit davonlaufen. „War es das jetzt“, fragt er sich dann. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem er es nicht mehr aushält. „Du wirst immer älter“, kritisiert sich Wächtler im Stillen selbst, „es wird immer schwerer, also mach es jetzt.“

In der Talsperre Pöl im Vogtland trainiert er Langstreckenschwimmen. Während der Sommerferien erkundet er mögliche Startstellen für seinen Marathon in die Freiheit. Die Wohlenberger Wiek, eine Bucht etwas südlich und östlich von Boltenhagen, scheint ihm geeignet. Zwar ist der Weg von hier bis drüben weiter, doch der Strand liegt im Dunkeln, die Scheinwerfer der Grenzsicherungseinheiten reichen nicht bis hierher, so dass er ungestört wird starten können.

Bild
Mario Wächtler Jahre nach seiner Flucht mit seinem Retter, Kapitän Gerhard Haucke von der Ostsee-Fähre „Peter Pan“
Foto: Andreas Stedtler


Mehr erfährt man hier:
https://www.mz-web.de/mitteldeutschland ... ete-600334
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon zonenhasser » 18. Juli 2018, 17:32

Interessierter hat geschrieben:Anfang September... in hellen Scharen strömt das Volk in Ungarn über die längst halboffiziell offene Grenze nach Österreich.

Wie kann man da sein Leben aufs Spiel setzen?
Die “Rote Fahne” schrieb noch “wir werden siegen”, da hatte ich mein Geld schon in der Schweiz.
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Werner Thal » 23. Januar 2020, 11:24

Letzter Ostseeflüchtling Mario Wächtler

Der Freischwimmer

19 Stunden lang kämpfte er sich durch das kalte Meer: Mario Wächter war der letzte DDR-Bürger, der über
die Ostsee floh. Am 2. September 1989 kraulte er los - und entrann den Grenzern nur um Haaresbreite.

https://www.spiegel.de/geschichte/ddr-l ... 84180.html

W. T.
Wer einen Rechtschreibfehler findet, darf ihn behalten.
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon HPA » 23. Januar 2020, 11:39

Mit dieser Schwimmleistung hat er nicht gleich in Eckernförde angeheuert? [wink]
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Volker Zottmann » 23. Januar 2020, 13:15

Interessierter hat geschrieben: Immer wenn er im Sommer auf dem Campingplatz in Rerik ist, sitzt er abends stundenlang ganz oben auf der Steilküste und schaut den Schiffen aus Travemünde nach, die nach Malmö und Helsinki fahren. Orte, die er erst in vierzig Jahren wird sehen dürfen, wenn es nach den DDR-Behörden geht.



Oh, wie ich das dem Mario Wächtler nachfühlen kann....
Genau dort oben stand ich auf dem damals noch kleinen Zeltplatz 1959 und sah auch stets die Fähren fahren und vor allem meinen Vater sehnsuchtsvoll hinterherschauend. Die paar Kilometer vor unserer Nase konnte man also links geschaut in den Westen gelangen und nach rechts gesehen ins Baltikum. Theoretisch!

Kurz vor dem Zusammenbruch war ich wieder dort. Nun schon die Fehmarnsundbrücke vor Augen, aber sonst gleiches Trauerspiel.

Zwei mal zog es mich samt Enkelinnen bisher wieder nach Rerik. Immer auf diesen, heute grandiosen Platz, mit mietbaren Mobilhomes und Ferienzimmern. Es macht heute noch mehr Spaß auf dieser Steilküste zu stehen, weil ich nun inzwischen alle schräg gegenüberliegenden holsteinischen Orte auch bereisen konnte.
Grömitz, Kellenhusen, Dahme.... auch das ist unsere Heimat.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Sperrbrecher » 23. Januar 2020, 13:44

Volker Zottmann hat geschrieben:Oh, wie ich das dem Mario Wächtler nachfühlen kann....
Genau dort oben stand ich auf dem damals noch kleinen Zeltplatz 1959 und sah auch stets die Fähren fahren und vor allem meinen Vater sehnsuchtsvoll hinterherschauend. Die paar Kilometer vor unserer Nase konnte man also links geschaut in den Westen gelangen und nach rechts gesehen ins Baltikum. Theoretisch!

Zu dieser Zeit 1959 wäre das doch weitgehend gefahrlos über Berlin möglich gewesen.
In der DDR wussten 90% der Bevölkerung, dass sie verarscht werden.
In der Bundesrepublik haben es 90% der Wähler immer noch nicht gemerkt.
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon augenzeuge » 23. Januar 2020, 14:02

Das haben damals viele gesagt:

Bis zur Rente passiert bei denen jetzt nichts mehr.' Ruckzuck rennen die Jahre weg, bis man tot ist. So war das in der DDR.


Irre. Sie kämpften um jeden Bürger, als ob er ihr Eigentum wäre: [angst]
"Ein wahnsinniges Wettrennen begann: Grenzschützer gegen Fähre"


AZ
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„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Volker Zottmann » 23. Januar 2020, 17:33

Sperrbrecher hat geschrieben:Zu dieser Zeit 1959 wäre das doch weitgehend gefahrlos über Berlin möglich gewesen.

Hast Du vollkommen recht.
Als Kind hat man das ja auch nicht überblickt. Und uns ging es doch im Vergleich gut, hatten ein halbes Auto und dazu Ferien an der Ostsee.
Wenn, dann hätte mein Vater handeln müssen. Gab aber Gründe, weshalb das nie geschah.
1960 waren wir wenige km weiter östlich in Kühlungsborn.
Dort verabschiedete sich eine geschiedene Kollegin meines Vaters, samt ihrer 2 Kinder, nach gemeinsamen Urlaub gen Westberlin. Sie lebten dann in Essen.
Damals haben mein Quedlinburger Umfeld Viele verlassen.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Sperrbrecher » 23. Januar 2020, 22:17

Volker Zottmann hat geschrieben:
Uns ging es doch im Vergleich gut, hatten ein halbes Auto und dazu Ferien an der Ostsee.
Wenn, dann hätte mein Vater handeln müssen. Gab aber Gründe, weshalb das nie geschah.
1960 waren wir wenige km weiter östlich in Kühlungsborn.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es mir in der DDR wirtschaftlich schlecht gegangen wäre. Denn ich verfügte über ein überdurchschnittliches Einkommen, besaß auch entsprechende Kontakte, die bekanntlich unerlässlich waren, um in den Besitz bestimmter Artikel und Waren zu kommen. Mein Vater und ein Bruder lebten im Westen, sodass auch dadurch eine Unterstützung in vielerlei Hinsicht gegeben war.

Trotzdem, der Mensch lebt nicht vom Brot allein..., es gab eben zu viele Dinge, die in der DDR auch mit Geld und guten Worten nicht zu bekommen waren. Jedenfalls habe ich meine
Flucht in den Westen 1969 nicht eine Minute bereut. Es gibt eben bestimmte Sachen, die
man auch mit keinem Geld der Welt kaufen kann.
In der DDR wussten 90% der Bevölkerung, dass sie verarscht werden.
In der Bundesrepublik haben es 90% der Wähler immer noch nicht gemerkt.
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Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Volker Zottmann » 24. Januar 2020, 11:21

Ja Sperrbrecher, was wäre wenn?
Als ich noch ledig war, also direkt vor und nach der Armeezeit, wäre zum Abhauen der beste Zeitpunkt gewesen. Als mein canadischer Cousin (eigentlich auch Quedlinburger, dort geboren) 1972 als erste Vorhut erstmals die DDR bereiste, haben wir beiden diesbezüglich "gesponnen". Er war damals 28 Jahre alt und unterwürfig den Uniformierten gegenüber, ganz aners als wir. Hätte er mich im Auto mitgenommen, wäre er garantiert durch sein Verhalten aufgeflogen.

Die Harzer Grenze haben in der Zeit 5 mir bekannte Quedlinburger unbeschadet überwunden. Sogar eine Gehbehinderte schaffte es. Wie weiß ich nicht.
Mir selbst war das Risiko dort zu sterben viel zu hoch. Dazu kam meine Rücksichtnahme, den Eltern gegenüber. Ich hätte das damals nicht fertig gebracht.

Der nächste Punkt in Rückschau ist, dass es so, wie das Leben lief, doch letztlich recht gut war. Ich hätte ja anders meine Frau nie kennengelernt. Heute unvorstellbar. Da möchte ich keinen Tag der gemeinsamen 47 Jahre missen.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Wie Mario Wächtler über die Ostsee in die Freiheit flüchtete

Beitragvon Sperrbrecher » 24. Januar 2020, 14:56

Volker Zottmann hat geschrieben:Ja Sperrbrecher, was wäre wenn?
Als ich noch ledig war, also direkt vor und nach der Armeezeit, wäre zum Abhauen der beste Zeitpunkt gewesen.

Deshalb bin ich in der DDR ledig geblieben.
Obwohl ich nach Alteneinsicht 1990 erfahren musste, dass ich in der DDR verheiratet war.
Somit lernte ich erst danach meine "Ehefrau" kennen, die allerdings auch noch mit einem
anderen Mann lange Jahre verheiratet war und mit ihm bereits erwachsene Kinder hatte.
Wir hatten uns vorher noch nie gesehen und uns köstlich über die Aktenführung der Stasi
amüsiert.

Mit dem Mauerbau 1961 reifte in mir der Entschluss die DDR zu verlassen. Ich recherchierte und plante, korrigierte und verwarf die verschiedensten Varianten einer Flucht aus dem
Arbeiter- und Bauernparadies, bis ich dann im Sommer 1969 glaubte, eine sichere und erfolgversprechende Möglichkeit gefunden zu haben. Der Erfolg gab mir recht und so gelang mein Vorhaben weitgehend reibungslos.
In der DDR wussten 90% der Bevölkerung, dass sie verarscht werden.
In der Bundesrepublik haben es 90% der Wähler immer noch nicht gemerkt.
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