von augenzeuge » 2. Mai 2021, 11:00
Fortsetzung
Für das Maß an Einsamkeit und Verzweiflung, das ich durchlitt, gibt es keine Worte. Es war der Versuch, mich durch Isolation zu brechen. Selbsttod war keine Option. Weil es nicht möglich war, an die Heizungsrohre heranzukommen oder sich mit dem Plastikgeschirr die Pulsadern zu öffnen. Besonders nachts war der Gedanke stark, dieses Leben zu beenden. Es war eine furchtbare Zeit, unterbrochen nur von Besuchen meiner Mutter, einmal im Monat. Über die Haftbedingungen durfte ich ebenso wenig sprechen wie über den Fluchtversuch. Es blieben kurze, traurige Begegnungen.
Ich wurde in eine 2-Mann- Zelle verlegt, fand mich in der Haft nun besser zurecht; mein Trotz kehrte zurück. Einmal fragte mich mein Vernehmer scheinbar fürsorglich, was ich denn nach Verbüßung meiner Strafe zu tun gedenke, um ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu werden.
„Ich würde mich gerne zum Dienst in der Nationalen Volksarmee melden“, antwortete ich.
Er stutzte. „Was!? Wie meinen Sie?“
„Na ja, zu den Grenztruppen, mit der Waffe in der Hand.“
Er geriet außer sich, brüllte böse. Wieder Einzelhaft. Aber das war es mir wert.
Der Prozess fand in Lichtenberg statt, eine nicht öffentliche Sitzung in Anwesenheit eines Lehrgangs von Stasi-Offizieren. In ihrem Plädoyer redete sich die Staatsanwältin, eine Frau mit der Physiognomie einer Krähe, in Rage. Hysterisch schrie sie, dass wir nicht nur alle Chancen des sozialistischen Systems ignoriert hätten. Wir hatten Unschuldige, sie meinte die Grenzsoldaten, in Gefahr gebracht. Wir hatten, jawohl!, den Weltfrieden gefährdet. Mein Verteidiger schwieg lang und faselte zum Ende etwas von Milde wegen meines jungen Alters. Thomas, den das Gericht als Rädelsführer ausgemacht hatte, wurde zu vier Jahren verurteilt. Ich bekam drei. Bodo, der arme Kerl, wurde wegen „Mitwisserschaft“ zu zwei Jahren verurteilt. Sie wollten ein Exempel statuieren.
Bei einem der Besuche meiner Mutter erfuhr ich, dass mein jüngerer Bruder ebenfalls einen Fluchtversuch unternommen hatte, an der Grenze von Bulgarien zu Jugoslawien. Dirk saß seine Strafe im Jugendgefängnis Halle ab; für meine Mutter muss es eine furchtbare Zeit gewesen sein. Ich durfte Bücher aus der Anstaltsbibliothek entleihen, eines pro Woche. Ich entschied mich für die russischen Klassiker, Tolstoi, Dostojewski, monumentale Werke von knapp 900 Seiten, die mir die Tage verkürzten. Die Monate vergingen. Meine Zellennachbarn wechselten. Oft taten sie mir leid, beispielsweise der Direktor eines volkseigenen Betriebs, den man bei einem Fluchtversuch aufgegriffen hatte. Er hatte Familie und schluchzte viel. Ich hoffte darauf, von der BRD freigekauft zu werden, wie so viele andere. Doch nichts geschah. Wie ich später erfuhr, nahm die Stasi meinem Eishockey-Freund Thomas die Republikflucht besonders übel, weil man keinen gut ausgebildeten Sportler in den Westen ziehen lassen wollte. Als Partner dieses Fluchtversuchs durfte ich auch gleich bleiben, das war die Logik.
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Wovor ich mich fürchtete, war die Verlegung in ein Gefängnis mit richtigen „Krimis“, wie wir die Kriminellen nannten. Brandenburg etwa: Mithäftlinge erzählten Geschichten von Vergewaltigungen und von „Frischlingen“, die schon nach dem ersten Gang über den Flur fürs „Aufbocken“ verkauft wurden. Ich mochte mir nicht ausmalen, was mich erwartete.
Doch ich wurde nach Cottbus gebracht, das für politische Gefangene einen recht guten Ruf hatte. Das Gebäude war um die Jahrhundertwende aus rotem Backstein gemauert worden, im Hof gab es eine Rattenplage. Ich kam in eine Großzelle mit 17 Männern. Als Neuling und Jüngstem wies man mir einen Schlafplatz in der obersten Lage des dreistöckigen Bettes zu; was das bedeutete, wurde mir am ersten Abend klar. Der Qualm unzähliger Zigaretten hing unter der Decke, dazu der Geruch von Schweiß und Fäkalien. In der Mitte des Raums befanden sich die Toiletten, aus jedem Winkel der Zelle einsehbar.
Allen Insassen waren die Haare kurz geschnitten worden, wir trugen Häftlingsanzüge mit gelben Streifen, mit einer Kappe, die wie ein Schiffchen aussah. Zehn Stunden am Tag mussten wir zwangsweise arbeiten. Ich stanzte und schliff Metallgehäuse für die Kameras von Pentacon. Regelmäßig bekam ich Ärger, weil ich mein vorgegebenes Plansoll nicht erfüllt hatte. Das Essen verdiente nur einen Begriff: miserabel. Dreimal in der Woche gab es etwas, das an eine Suppe erinnerte; nur an Weihnachten bekamen wir ein halbes Hähnchen. In meiner Zelle saßen politische Gefangene: Ingenieure, Lehrer, gebildete Leute. Von Solidarität möchte ich nicht sprechen, aber man lernte, sich miteinander in der Enge, der Hitze und dem Gestank zu arrangieren. Einige ließen sich in ihrem Leid gehen. Es kam zu mehreren Suizidversuchen. Obwohl ich der Jüngste war, wurde ich einer der Insassen mit der längsten Haftzeit. Einer nach dem anderen wurde von der BRD freigekauft. Ich musste bleiben.
Gewalt ging von den Wärtern aus, Willkür, Niederträchtigkeit. „Roter Terror“ nannten wir den Wärter Hubert Schulze, einen großen, kantigen Typen mit dem Kopf eines Pferdes. Saß eine Kappe schief, stand ein Knopf offen oder war die Zahnbürste nicht richtig aufgestellt, schlug er mit dem Gummiknüppel zu. Ins Gesicht. Auf den Mund. Nach der Maueröffnung erfuhr ich, dass er Gefangene grundlos für Stunden mit erhobenen Händen an die Gitter fesselte, ihnen in den Unterleib trat oder Insassen in Eiswasser sitzen ließ. Der „Rote Terror“ war ein Sadist.
Ich saß meine komplette Strafe ab, bis zum letzten Tag. Als ich freikam, zog ich wieder bei meinen Eltern in Ostberlin ein. Doch ich wollte in diesem System nicht leben, lehnte jeden Versuch der „Wiedereingliederung“ ab und weigerte mich, der mir zugewiesenen Arbeit am Fließband in einem volkseigenen Betrieb nachzukommen. „Ich rede nur noch mit der Stasi“, schnauzte ich Beamte an, wenn sie mich sprechen wollten. Die Aussicht auf ein Gefängnis machte mir keine Angst mehr.
Bekannte erzählten mir von den Kaufmanns in Berlin-Pankow, einer christlichen Familie, die einen Fotoladen betrieb und junge Menschen, die bei der Staatsmacht angeeckt waren, bei sich aufnahm. Ich durfte dort in der Dunkelkammer arbeiten. Dass die Stasi das Haus der Kaufmanns überwachte, war jedem klar. In der Szene am Prenzlauer Berg tat sich vieles zu dieser Zeit. Ich besuchte Konzerte, Lesungen, traf auf Gleichgesinnte; meine Lockenfrisur kam in Kombination mit meiner sperrigen Geschichte bei den Frauen gut an. Die Kaufmanns wurden zu einer Art Ersatzfamilie.
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„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
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