DDR-Fluchthelfer "Unternehmen Reisebüro"

DDR-Fluchthelfer "Unternehmen Reisebüro"

Beitragvon Interessierter » 9. Dezember 2017, 11:42

Über einige Fluchten, die dieses " Unternehmen " unter Girrmann, Thieme und Co. planten und durchführten wurde hier im Forum schon berichtet. Nachstehend noch ein Bericht des Schriftstellers Uwe Johnson mit 13 interessanten Bildern.

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Elisabeth Schmidt gelingt es Anfang Februar 1962, ein halbes Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, der DDR zu entfliehen. Noch ist die Grenze zwischen Ost und West nicht vollständig abgeriegelt, noch gibt es vereinzelt Schlupflöcher.

Mit einem Schweizer Pass, in den ihr Porträtfoto eingenietet worden ist, besteigt die junge Frau in Ost-Berlin den Nordland-Express, Stunden später trifft sie unbehelligt in Kopenhagen ein - alles ausgeklügelt und vorbereitet von einer Fluchthelfergruppe.


Elisabeth Schmidt war die Freundin des Schriftstellers Uwe Johnson. Noch im selben Monat, am 28. Februar 1962, heirateten die beiden in Frankfurt am Main, den Fluchthelfern sei Dank.

Johnson hatte schon 1959, kurz vor seinem 25. Geburtstag, die DDR verlassen und im Westen seinen Debütroman "Mutmaßungen über Jakob" publiziert. Nach dem Mauerbau begann er, Material für ein Buch zu sammeln, das den Titel "Geschichte der Städte Berlins seit dem August 1961" tragen sollte.

Das Werk erschien nie, die Interviews, die der Autor für sein Projekt mit Fluchthelfern führte, galten lange als verschollen. Nun sind sie erstmals in einem Buch dokumentiert, das in diesen Tagen erscheint: die spannende Vergegenwärtigung einer im öffentlichen Bewusstsein in Vergessenheit geratenen Heldentat.

Es waren vor allem Studenten aus West-Berlin, die schon im August 1961 mit ihren spektakulären Tunnelbauten und waghalsigen Fluchthilfen damit begonnen hatten, dem Bau der Berliner Mauer etwas entgegenzusetzen: privat, improvisiert und auf eigene Verantwortung. Niemand kannte ihre Namen. Es war zunächst nur eine kleine Gruppe, die sich flapsig "Unternehmen Reisebüro" nannte.

Im Westen begegnete man dem zweiten deutschen Staat fast einhellig mit Verachtung, noch gab es keine Verklärung einer sozialistischen Alternative. Am 14. August 1961, einen Tag nach der Errichtung einer Grenzanlage mitten durch Berlin, provisorisch durch Stacheldrahtrollen gesichert, sprach der Schriftsteller Günter Grass in einem Brief an seine in der DDR lebende Kollegin Anna Seghers unverblümt von der "Gewalttätigkeit einer Diktatur".

Die Stasi, die der Handvoll Idealisten schneller auf der Spur war, als die jungen Leute ahnten, sprach von der "Girrmann-Bande". Obgleich Detlef Girrmann stets bestritten hat, Kopf des Unternehmens gewesen zu sein, bürgerte es sich nach und nach ein, die Fluchthelfer der ersten Stunde in Anlehnung an die DDR-Propaganda als Girrmann-Gruppe zu bezeichnen.

Am letzten Tag des Jahres 1963 stellte Uwe Johnson daheim in seiner Dachgeschosswohnung in Berlin-Friedenau ein Tonbandgerät der Marke Uher auf den Tisch und bat den damals 35 Jahre alten Girrmann, ihm die Geschichte der Gruppe von Anfang an zu erzählen. Das Gespräch dauerte mehrere Stunden. Am Tag danach, am 1. Januar 1964, befragte der Schriftsteller ebenso intensiv einen Mitstreiter Girrmanns, den gleichaltrigen Dieter Thieme.

Noch am selben Tag schickte Johnson per Eilboten einen Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld und erinnerte ihn an den Plan eines Buchs, über das die beiden offenbar zuvor schon gesprochen hatten und das "weder eine Erzählung noch eine Novelle" werden sollte.

Der Verleger blieb skeptisch. "An Geduld, Fleiß, Bemühen fehlte es weder bei den handelnden Personen noch bei ihrem Autor", berichtete Johnson 1979 in einer Poetikvorlesung. Doch habe es in den Gesprächen mit Girrmann, Thieme und anderen, die Johnson noch interviewte, zu große Lücken gegeben: "Die Rekonstruktion stand auf unsicheren Beinen." Er habe die Tonbänder wieder gelöscht.

Doch da irrte Johnson. Was ihm offenbar nicht mehr gegenwärtig war: Im Sommer 1964 hatte er Girrmann das ihn betreffende Tonband überlassen, auf der Rückseite des Tonträgers befand sich das Gespräch mit Thieme. Die beiden waren damals als Fluchthelfer schon nicht mehr aktiv. Die Bänder mit den Interviews anderer von Johnson Befragter sind wohl tatsächlich gelöscht worden.

Erst 2001, fast vier Jahrzehnte nach den Aufnahmen und ein Dutzend Jahre nach dem Mauerfall, wurde das von Girrmann fast schon vergessene Band wiederentdeckt, als der ehemalige Fluchthelfer für eine Produktion von SPIEGEL-TV nach Dokumenten der sogenannten Girrmann-Gruppe gefragt wurde. Das alte Band wurde auf Tonkassetten überspielt.

Burkhart Veigel, der selbst als Fluchthelfer tätig war und das jetzt publizierte Buch herausgegeben hat, ließ die Kassetten transkribieren - die Tonqualität der überspielten Bänder war mäßig, vieles kaum oder nur schwer zu verstehen. Zwar ging Veigel zusammen mit Girrmann das Protokoll noch einmal Wort für Wort durch, doch es blieben Lücken und Unsicherheiten.

Anfang 2008 wurde das Originalband digitalisiert und auf CD gebrannt. So konnten noch manche Hörfehler korrigiert werden: Diese Transkription wird im Buch nun abgedruckt, akribisch mit allen Einwürfen, Nachfragen und unvollständigen Sätzen - und diese Fassung liegt auch den Hörproben zugrunde, die der Suhrkamp-Verlag demnächst auf seiner Homepage anbieten will.

Da ist nun der eifrige Interviewer Johnson zu hören, wie er immer wieder nachhakt, es noch genauer wissen will. Tatsächlich ist die Darstellung Girrmanns oft umständlich und unklar, was Einzelheiten der Fluchtwege und ausgespähten Lücken in der Grenzkontrolle angeht. Oft erinnert er sich auch nicht mehr genau an die Abläufe, was ein wenig überrascht, da der Beginn der Gruppenaktivitäten am Tag des Interviews, Silvester 1963, nicht einmal zweieinhalb Jahre zurückliegt - im Gespräch mit Thieme am nächsten Tag erfährt Johnson dann manches genauer.

Aus den anschaulichen Schilderungen wird deutlich, wie alles begann: Im August 1961 arbeiteten Girrmann und Thieme beim Studentenwerk der Freien Universität (FU) und waren auch für jene in West-Berlin immatrikulierten Studenten zuständig, die im Ostteil der Stadt lebten.

Denen war plötzlich die Möglichkeit genommen, ihr Studium an der FU fortzusetzen. Das betraf mehrere hundert Personen, auf die sich die Fluchthelfer zunächst konzentrierten.

Später erweiterte die Helfertruppe den Kreis derer, denen sie in den Westen halfen. Johnson erfährt, wie die Grenzkontrolleure der DDR mit immer neuen Tricks überlistet wurden - und ihrerseits mit der Verfeinerung ihrer Überprüfungsmethoden darauf reagierten.

Girrmann und Thieme zählten zu den Pionieren, andere Fluchthelfer kamen hinzu, auch neue Gruppierungen. Beide kamen ursprünglich aus der DDR, Thieme hatte dort aus politischen Gründen zwei Jahre im Zuchthaus gesessen. Girrmann war einst Mitglied der SED gewesen, allerdings schon 1948 ausgetreten - was, wie man ihm bedeutete, in den Statuten eigentlich nicht vorgesehen war. Da er gleichzeitig Kontakte zum Ostbüro der SPD unterhielt und Sanktionen fürchtete, übersiedelte er 1950 nach West-Berlin.

Die Wachsamkeit der Stasi unterschätzten er und andere dennoch. Der Ost-Geheimdienst wusste über die Planungen und Projekte der Gruppe bald schon bestens Bescheid. Sie hatte Spitzel eingeschleust.

http://www.spiegel.de/einestages/ddr-fl ... 46533.html
Interessierter
 

Re: DDR-Fluchthelfer "Unternehmen Reisebüro"

Beitragvon augenzeuge » 9. Dezember 2017, 12:53

"Denen irgendwie helfen - so ging's los."

Dieter Thieme (Geb. 1929)

Für die Staatsoberen der DDR war der Fall klar: Die „Girrmannbande“, auch genannt „Unternehmen Reisebüro“, war eine Menschenhändlerorganisation, die aus Profitgier in den Jahren nach dem Mauerbau hunderte DDR-Bürger in den Westen schleuste.

Wahr ist: Dieter Thieme, Detlev Girrmann und Bodo Köhler gelang es bis 1964 mit zahlreichen Freunden und Helfern die Grenzkontrolleure der DDR durch immer neue Tricks zu narren – was anfangs nicht schwer war, denn die Kontrollen waren noch so unbedarft wie die Motive der Fluchthelfer.

Die Mitglieder der Gruppe waren fast alle Studenten, die ihren Kommilitonen, die im Osten wohnten, die Fortsetzung ihres Studiums an der Freien Universität ermöglichen wollten. „Denen irgendwie helfen – so ging’s los.“ Aber sehr schnell erweiterte sich der Kreis derer, die Hilfe suchten.

Für Uwe Johnson, der damals schon im Westen weilte und der seine spätere Frau zu sich holen wollte, war die „Girrmann- Gruppe“ Helfer in der Not und zugleich ein faszinierendes literarisches Sujet.

Er führte zwei ausführliche Interviews mit Detlev Girrmann und Dieter Thieme, die lange als verschollen galten, inzwischen aber als Buch zugänglich sind.

Immer wieder umkreist Johnson in den Gesprächen die Frage, warum die beiden ihre Freiheit, ihr Leben und ihr berufliches Fortkommen aufs Spiel setzten, um anderen Menschen zu helfen, ungeachtet der Frage, ob diese Menschen es wert waren – „als sei Beistand für Einzelne das Mindeste, wo nicht allen geholfen wird“.

Aber derlei abgehobenes Ethos war nur selten Gegenstand der Gespräche in der Gruppe. Sicher, wenn ein Mann bat, seine Freundin herüberzubringen, seine Ehefrau aber intervenierte, dann wurde der moralische Aspekt kurz erörtert – und die Flucht dennoch organisiert.

Im Fall Dieter Thiemes scheint die Antwort ohnehin einfach. Er, der in behüteten Verhältnissen in Magdeburg aufgewachsen war, hatte den Krieg erlebt, die Gefangenschaft, und ertrug den Gedanken nicht, erneut in einer Diktatur leben zu müssen.

Er wollte Jura studieren, wurde aber nicht zum Studium zugelassen; er wollte politisch wirken, bekam aber schnell die Grenzen sozialistischen Mitwirkens aufgezeigt. Als er dann Flugblätter verteilte und Zeitschriften aus dem Westen einschmuggelte, kam er mit vierzehn Gleichgesinnten vor Gericht.

Er leugnete, markierte den Dummen und kam „glimpflich“ davon: drei Jahre Haft, anfangs Einzelhaft. Ein kleines Schachdeckchen, aus Stofffäden angefertigt, die er aus Handtüchern gezogen und mit einer gestohlenen Nadel verwoben hatte, hielt ihn damals am Leben. Er hat es zeitlebens aufbewahrt.

Nach zwei Jahren wurde er vorzeitig entlassen und ging nach West-Berlin. Er nahm sein Jurastudium auf und arbeitete nebenher im Studentenwerk, wo auch Detlev Girrmann untergekommen war.

Als die Teilung der Stadt drohte, war ihm klar: Ein Land wird dann zum Knast, wenn es seine Bürger nicht gehen lässt, obwohl sie gehen wollen. Die Pflicht zu handeln ergab sich wie von selbst. Trotz der Angst. „Es wäre ja ein Leichtes gewesen, uns umzubringen …“

Dank erhielt er dafür wenig, bedrückender war, dass die Frage „Kann ich helfen?“ so selten kam. Und dass der Verdacht aufkeimte, die Geflohenen hätten durch allzu große Redseligkeit die weitere Arbeit der Helfer sabotiert, denn die Misserfolge häuften sich.

Aber die Verräter waren in den eigenen Reihen, wie sich nach der Wende herausstellen sollte, zwei Spitzel, die IM „Hardy“ und „Franz Fischer“ hatten Freunde und Fluchtwege verraten, der eine für Geld, der andere für das silberne Lorbeerblatt der NVA.

Als die Möglichkeiten der Gruppe sich dadurch zunehmend erschöpften, „die Pässe liefen nicht mehr, die Autotouren wurden zu heikel, die Tunnel waren verraten“, gab Dieter Thieme auf. Er beendete sein Studium, wurde Senatsrat, führte ein ruhiges Leben, reiste gern. Er hat nie ein Aufheben um seine Zeit als Fluchthelfer gemacht.

Bleibt die Frage: Woher rührte damals sein Mut? Die Antwort ist einfach, aber sie klingt ein wenig antiquiert: Er besaß ein Gefühl für Anstand.

*) Tagesspiegel
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