von pentium » 27. September 2017, 15:43
Details zum Film :
Letzte Ausfahrt West-Berlin
138 Schüsse auf die "Friedrich Wolf"
Film von Inga Wolfram und Helge Trimpert
(Erstsendung 9.8.2006)
Berlin im Sommer 1962: Seit fast einem Jahr steht die Mauer. Sie trennt Familien, Freunde und Liebende. Es ist die ohnmächtige Demonstration einer Staatsmacht, die ihre Legitimation nicht auf dem freien Willen ihrer Bürger gründet, sondern auf Stacheldraht und Todesstreifen. Einzelne nehmen das nicht hin und wagen, was tödlich enden kann: die Flucht in die Freiheit. Einen der spektakulärsten Fluchtversuche machen am Morgen des 8. Juni 1962 13 junge Ostberliner. Sie entführen den Ausflugsdampfer "Friedrich Wolf", das größte Fahrgastschiff der Ostberliner "Weißen Flotte". In nur 15 Minuten und unter Dauerfeuer der Ostberliner Grenzposten, gelingt ihnen der Grenzdurchbruch über die Spree in den Westteil Berlins. Der Stasi-Untersuchungsbericht über den "staatsfeindlichen Grenzdurchbruch am 8. Juni 1962" zählt 135 abgegebene Schüsse - es wurde niemand verletzt.
Der Film rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse an Bord der "Friedrich Wolf" in nachgestellten Spielszenen und stellt die Flüchtlinge und ihr späteres Leben vor: Jörg Lindner, ehemals Schiffskoch auf der "Friedrich Wolf", lebt heute in Schweden und lehrt Geschichte an der Universität von Umeå. Peter Warszewski, am 8. Juni 1962 Steuermann auf der "Friedrich Wolf", arbeitet heute als Bauunternehmer in Spanien. Peter Currle, der Zweiten Steuermann, lebt in Frankreich.
Die "Berliner Zeitung" schrieb über den Film und die Ereignisse:
09.08.06 Berliner Zeitung S. 26
Rainer Braun
Im Kugelhagel nach Kreuzberg. ARD-Dokumentation über eine spektakuläre Flucht von Ost nach West
Was die Stasi nüchtern als "staatsfeindlicher Grenzdurchbruch am 8. Juni 1962" protokollierte, beherrschte am Tag darauf jenseits der Mauer die Schlagzeilen. "Tollkühnes Husarenstück", "Baby überlebte im Kugelhagel" titelten die Zeitungen im Westen. Die spektakuläre Aktion selbst trug schließlich alle Züge einer Geschichte, die sich so wohl nur in der geteilten Stadt abspielen konnte.
Morgens um 5 Uhr 5 legte die "MS Friedrich Wolf", das Flaggschiff der "Weißen Flotte", in Treptow ab und nahm Kurs auf den Osthafen. Eine Viertelstunde später legte der Dampfer jenseits der Oberbaumbrücke im Kugelhagel der DDR-Grenzsoldaten in Kreuzberg an. Wohl behalten, unverletzt und überglücklich gingen die 13 Flüchtlinge von Bord. Es sollte die einzige Flucht dieser Art vom Osten in den Westen Berlins bleiben.
Aus dem Baby, das bei der Vorbereitung zur Flucht glücklicherweise keinen Mucks von sich gab, ist ein versierter Journalist beim WDR geworden. Staunend sieht Uwe-Jens Lindner heute auf das, was vor 44 Jahren sein Leben veränderte. Mit 10 Jahren hat er seine eigene Geschichte erstmals beim Blättern in alten Zeitungen gelesen. Verstanden hat er die Zusammenhänge damals kaum. Vor einem Jahr hat Lindner diesen bewegten Abschnitt seiner Biografie eher beiläufig in der Kantine des Senders Heribert Schwan erzählt. Der WDR-Redakteur und Spezialist für historische Stoffe, war von der authentischen Story so angetan, dass er ihre Verfilmung beschloss.
Das Ergebnis kann heute leider erst zu vorgerückter Stunde besichtigt werden. "Letzte Ausfahrt Westberlin - 138 Schüsse auf die ,Friedrich Wolf'" hat Inga Wolfram ihre Dokumentation überschrieben, die minutiös die Ereignisse des 7. und 8. Juni 1962 rekonstruiert. Sie hat mit Peter Currle, Peter Warszewski oder dem damaligen Schiffskoch Jörg Lindner durchweg aussagekräftige Zeitzeugen vor der Kamera, die sich an ihre abenteuerliche Flucht und deren Motive erinnern. "Wir sind uns wie Helden vorgekommen", berichtet Uwe-Jens Lindners Vater Jörg, der heute Geschichte in Schweden lehrt, vom jugendlichem Leichtsinn der damals 20-Jährigen.
Bis heute macht ihm "der Vertrauensbruch" gegenüber seinem damaligen Kapitän zu schaffen. Der hatte ihm in der Nacht zuvor nichtsahnend nach fröhlichem Trinkgelage die Schlüsselgewalt übertragen. Ein erhöhter Alkoholpegel des Kapitäns spielte wiederum eine entscheidende Rolle in den Planungen der Fluchtwilligen, die das Schiff unbedingt kapern wollten.
Gerade diese eher leisen Zwischentöne der Beteiligten zählen zu den Stärken dieser filmischen Zeitreise, die freilich bewusst auf dramatische Effekte im Stile eines Krimis setzt. Erst kurzfristig werden die Verschwörer erfahren, dass ausgerechnet am Tage der geplanten Flucht zwei neue Kollegen aus Magdeburg mit an Bord sein werden. Die Frage, ob das ein Zufall ist oder die Stasi von ihren Plänen Wind bekommen hat, sorgt für zusätzliche Anspannung und Unruhe unter den Beteiligten.
So bewegend die Geschichte und ihre Protagonisten auch im Abstand von über vier Jahrzehnten noch sind, hinterlässt die Dokumentation am Bildschirm einen eher gemischten Eindruck. Das liegt hier weniger an den Recherchen zum Geschehen und den Zeitzeugen selbst, die beredt Auskunft geben. Trendgemäß hat Inga Wolfram ihre Erinnerungsarbeit mit aufwändigen Spielszenen angereichert, die der Fantasie der Zuschauer auf die Sprünge helfen sollen. Das beschert ein Wiedersehen mit dem Schauspieler Horst Krause, der mit sichtlichem Vergnügen hier den Part des jovialen Kapitäns Scholz übernahm.
Eindeutig zu kurz kommen dabei leider die näheren Lebenszusammenhänge der jungen Wilden und die politischen Umstände knapp ein Jahr nach dem Mauerbau. So werden die politischen und ideologischen Scharmützel auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nur sehr verhalten konturiert. Diese Defizite können auch Wolframs bemüht-poetischen Texte und bedeutungsvollen Schwenks auf Eisschollen nicht ersetzen. Entstanden ist unterm Strich ein dokumentarisches Dramolett, das einige Wünsche offen lässt. Schade ist das schon deshalb, weil der Stoff und seine Protagonisten mehr hergegeben hätten.
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