Republikflucht mit der S-Bahn endete vor dem Prellbock

Republikflucht mit der S-Bahn endete vor dem Prellbock

Beitragvon Interessierter » 10. September 2017, 10:40

Ein Mann kaperte 1983 einen Zug und wollte mit ihm in den Westen fahren - er kam aber nur bis zum Bahnhof Friedrichstraße

Wie einfach doch alles zu sein scheint, wenn man über den Dingen steht. Vor allem, wenn man ein Gewehr dabei hat. In 207 Meter Höhe sitzt Wolfgang K. im "Tele-Café" des Berliner Fernsehturms. Aufmerksam betrachtet der Mann, wie sich unter ihm die Gleise der Stadtbahn von Ost nach West schlängeln. Da! Eine S-Bahn rollt aus dem Bahnhof Alexanderplatz. Kurz darauf verschwindet sie in der Halle des S-Bahnhofs Marx-Engels-Platz, der heute Hackescher Markt heißt. Fast unmerklich dreht sich die Kuppel des Turmes. Der 24-Jährige und sein Gewehr drehen sich mit.

Doch Wolfgang K. , der aus Stollberg in Sachsen stammt und nun in der DDR-Hauptstadt als Beifahrer Müllwagen begleitet, verliert die S-Bahn nicht aus den Augen.Jetzt rollt sie schon über die Spree, verschwindet zwischen dem Bode- und dem Pergamonmuseum, um in die kleinere der beiden Hallen des Bahnhofs Friedrichstraße einzufahren. Dahinter erstreckt sich ein West-Berlin-Panorama. K. kann alles genau betrachten: Das Reichstagsgebäude. Den Tiergarten. Das Europa-Center mit dem Mercedes-Stern, der sich ebenfalls gemächlich dreht. Und die S-Bahn auf dem Stadtbahn-Viadukt, die gerade den Grenzstreifen überquert. Schon wird sie langsamer, um im Lehrter Stadtbahnhof zu halten. Im Bezirk Tiergarten. Im Westen von Berlin.So müsste es gehen!

Jetzt ist sich K. ganz sicher, wie sein lang gehegter Wunsch, die DDR zu verlassen, Wirklichkeit werden kann. Die Tasche nimmt er mit. Darin befindet sich sein Luftdruckgewehr, ein Meisterschaftsmodell Kaliber 4,5 Millimeter, mit Zielvorrichtung ("Diopter"). Und rund 400 Diabolos. Munition, die K. in der "Suhler Jagdhütte" in der Nähe des Alexanderplatzes gekauft hat. Die Geschichte einer S-Bahn-Entführung beginnt. Eine Geschichte, wie es sie vorher und danach nicht wieder gegeben hat. Es ist der 27. Mai 1983.

Ob Simone A. etwas geahnt hat? Wohl kaum. An diesem Tag ist für die 21-jährige Triebfahrzeugführerin alles wie immer. Routine eben. Diese Tour hat in Mahlsdorf begonnen. Nun rollt die S-Bahn auch schon am Alexanderplatz ein. Der Mann mit der Tasche, der vorn einsteigt, fällt der Lichtenbergerin im Führerstand nicht auf. Warum sollte er? Es ist ungefähr 18. 15 Uhr.Die Stadtbahn. Vier Gleise, die sich auf 731 meist gemauerten Viaduktbögen durch Berlin winden. Vom jetzigen Ostbahnhof über Alexanderplatz, Friedrichstraße und Zoologischer Garten bis Charlottenburg. Rund 11,3 Kilometer lang. 1882 eröffnet, 1928 für die S-Bahn elektrifiziert. Nach dem Mauerbau 1961 ist sie eine der wenigen Verbindungen zwischen den Stadthälften.Doch durchgehend wird die Strecke fast nur noch von Fernzügen des Transitverkehrs befahren. Die S-Bahn wurde zertrennt und so umgebaut, dass im Bahnhof Friedrichstraße zwei separate Sackbahnhöfe entstanden. Am Bahnsteig B beginnen und enden die Züge aus dem Westen, am Bahnsteig C die aus dem Osten Berlins. Vor der Brücke über der Luisenstraße, noch in der DDR, endet das S-Bahn-Gleis aus Richtung Alexanderplatz an einem Prellbock.

Das weiß K. nicht.Die S-Bahn aus Mahlsdorf hat den Bahnhof Marx-Engels-Platz erreicht. K. wechselt in das Dienstabteil, nur noch durch eine Tür von Simone A. getrennt. "Als die Triebwagenführerin bei Einfahrt des Zuges auf dem Bahnhof Friedrichstraße den Bremsvorgang einleitete, gelang es ihm, in den Führerstand einzudringen", wird die DDR-Staatssicherheit in ihrer "Operativen Information 502/83" berichten. Wolfgang K. "bedrohte sie mit der Waffe, forderte die Einstellung des Bremsvorganges und die Weiterfahrt nach Westberlin". Die Zeit: 18. 24 Uhr."Die Aufsicht wunderte sich, warum der Zug so schnell am Bahnsteig C einfuhr", erinnert sich Michael Wesseli, der damals bei der S-Bahn arbeitete. Simone A. hebt die Hände - als Zeichen für die Kollegen, dass etwas nicht stimmt. Da rollt der Zug auch schon am Signal, das Halt zeigt, vorbei.

Zweieinhalb Wagen sind im "Grenzstreckenabschnitt", als die Zwangsbremsung wirkt. Hektisch dreht der Entführer an Schaltern, um den Zug wieder in Bewegung zu setzen. Ohne Erfolg. Dann öffnet er das linke Seitenfenster und zielt auf zwei Grenzsoldaten. Es ist ungefähr 18. 30 Uhr, als der Diensthabende der Grenztruppen die Passkontrolleinheit (PKE) über den Vorfall informiert. Vier Spezialisten für Terrorabwehr schwärmen aus. Eine waghalsige Befreiungsaktion beginnt. Eine Sichtblende sorgt dafür, dass Reisende davon nichts mitbekommen.

Drei PKE-Spezialisten gehen über die Wagendächer nach vorn. Auf dem Dach liegend, sieht Leutnant Siegfried K. den Mann im Führerstand. Als dieser die Waffe auf ihn richtet, zerschlägt der Offizier mit seiner Pistole die Frontscheibe und schießt. Das Trio springt aufs Gleis. Als der Entführer wieder auf ihn zielt, schießt Siegfried K. erneut. Ein Projektil dringt in die Decke des Führerstandes, das andere in einen Fensterrahmen. Der zweite und dritte Schuss lenken den Entführer ab, so dass Hauptmann Uwe Z. sowie Leutnant Stephan B. ihn festnehmen können. Ungefähr 150 Meter vor dem Prellbock ist K. s Fluchtversuch zu Ende.

http://www.berliner-zeitung.de/ein-mann ... k-15707980

Einen Überblick über einige aktenkundige Vorfälle, die sich seit 1961 auf den Schienenstrecken zwischen Ost- und West-Berlin ereigneten, findet man ebenfalls auf dieser Webseite.
Interessierter
 

Re: Republikflucht mit der S-Bahn endete vor dem Prellbock

Beitragvon augenzeuge » 27. September 2017, 21:38

Was nach dem Haftbefehl mit dem Entführer geschah, geht aus den vorliegenden Stasi-Akten nicht hervor. Simone A. , der ein Charité-Arzt später mehrere Glassplitter aus dem Gesicht entfernte, wurde dagegen wenige Wochen später ausgezeichnet, erzählt Wesseli. Damit sei der Ehrentitel "Verdienter Eisenbahner der DDR" in jenem Jahr nicht wie sonst 30-, sondern 31-mal verliehen worden. Womöglich war die Auszeichnung als "Schweigeprämie" gedacht. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/15707980 ©2017


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