Spiegelartikel von 1970: Reisefreiheit im Ostblock

Spiegelartikel von 1970: Reisefreiheit im Ostblock

Beitragvon augenzeuge » 4. Januar 2022, 15:50

In keiner Verfassung eines sozialistischen Staates steht das Recht auf Freizügigkeit in ein anderes Land; die DDR-Verfassung von 1968 verminderte die Rechte ihrer Bürger gegenüber der Verfassung von 1949, indem sie das Ausreiserecht strich und nur noch Reisefreiheit innerhalb der DDR garantierte -- immerhin noch eine Errungenschaft gegenüber der Sowjet-Union, deren Kolchosbauern eine Genehmigung brauchen, um nur ihren Landkreis zu verlassen.

Die geschlossenen Staaten des Ostblocks bremsen die Reiselust ihrer Bürger aus Sorge um deren Rückkehr, die fraglich wird, sobald die Hinausgelassenen sich von der Diskrepanz überzeugt haben, die zwischen dem offiziellen Propagandabild und den Realitäten im Ausland klafft. Denn noch immer werden Sowjetbürger In dem Glauben erzogen, das Proletariat des Westens ersuche in Arbeitslosigkeit und Elend und könne sich weit weniger von seinem Hungerlohe kaufen als das Sowjetproletariat.

Der sowjetische Rundfunk belustigte sich über ein »Märchen« der -- trotz Störsendern in Rußland gehörten -- »Deutschen Welle«, wonach Arbeiter des Ruhrgebiets sich eine Urlaubsreise nach Mallorca leisten können. Parteiideologe Suslow, Mitglied des Politbüros, versicherte Im Juni, der US-Arbeiter müsse von seinem Lohn ein Drittel für die Miete und 40 Prozent an Steuern ausgeben, zum Leben bleibe ihm also »sehr, sehr wenig«; die Preise für medizinische Versorgung seien derart hoch, daß viele Amerikaner auf sie verzichten müßten und den Tod vorzögen.

Womöglich glauben Sowjetfunktionäre selbst an dieses West-Bild -- keines der Mitglieder des höchsten sowjetischen Machtorgans, des Politbüros, ist jemals länger als ein paar Tage im Westen gewesen.

»Warum können finnische Bürger sonntags Leningrad überfluten, die Leningrader aber nicht ihren Feiertag in Helsinki verbringen?« fragt denn auch ein im sowjetischen Untergrund verbreitetes Pamphlet, das angeblich von einem Lehrer Sonin und dem Ingenieur Alexejew verfaßt wurde. Antwort der Autoren: »Weil freie Kontakte mit dem Ausland die Zeitungspropaganda Lügen strafen würden, die von der Bettelarmut der Bevölkerung im Westen schreibt; weil es schwerer sein würde, im Inland den niedrigen Lebensstandard beizubehalten.«


Auszug:
Das blonde Mädchen erhielt nach dem Tod den Rotbanner-Orden für militärische Verdienste. Nadeschda Kurtschenko, 19, Stewardeß und Komsomolzin, hatte »Überfall!« gerufen. Dann erschoß sie der litauische Sowjetbürger Pranas Korejwo, 46. Mit seinem Sohn Algedas, 18, stürzte er in die Kanzel der Aeroflot-Linienmaschine vom Typ Antonow AN-24 mit der Flugnummer 234, schoß die Piloten an und zwang sie zur Landung im türkischen Trapezunt,

Die Wahl der Freiheit zum Preis eines Menschenlebens war die erste geglückte Luft-Flucht aus der UdSSR; bis dahin waren nur gescheiterte Versuche bekanntgeworden.


https://www.spiegel.de/politik/sehr-seh ... 0044303102

AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84824
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Zurück zu Andere Grenzen

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast